Die gesamte Berliner Presse stapelte sich auf seinem Schreibtisch. Er studierte die Zeitungen aufmerksam, las alle Berichte über den Mord an dem Heiler Sartorius. Sie ahnten nichts. Ein Raubmord wurde ausgeschlossen, da nichts aus der Wohnung entwendet worden war.
Als er die Artikel las, ging eine Veränderung in ihm vor. Er kam sich plötzlich ungeheuer mächtig, beinahe allmächtig vor. Er hatte die Tat nicht einmal geplant, sie war einfach geschehen. Und niemand würde ahnen, wie leicht es gewesen war, so leicht, dass es seiner beinahe nicht würdig war.
Er ging ins Schlafzimmer, öffnete den schön geschnitzten Kleiderschrank, zog eine Wäscheschublade auf und betrachtete fast liebevoll die Handschuhe. Samt, Kalbsleder, Satin, Glattleder, in allen Farben, mit Lochmuster, gestrickt mit Lederbesatz für den Winter, sportlich mit geknöpftem Riegel über dem Handrücken zum Autofahren. Bedachtsam wählte er ein Paar aus, das er noch nie getragen hatte, strich sanft darüber und legte es wieder in die Schublade zurück.
Leo saß zu Hause an seinem Sekretär, den Kopf in die Hände gestützt. Bislang führten alle Spuren ins Nichts. Die Personen, die Sartorius an seinem Todestag behandelt hatte, besaßen alle ein sicheres Alibi.
Das Gespräch mit Elisa Reichwein hatte ihm neue Einblicke in die Berliner Kunstwelt, aber kaum kriminalistische Erkenntnisse beschert.
Er war neugierig auf den Besuch in der Galerie gewesen, weil er sich selbst für Kunst interessierte und die Galerie Reichwein vor allem die Avantgarde vertrat.
Die Besitzerin öffnete ihm persönlich die Tür, eingehüllt in ein fließendes Kleid mit geometrischen Mustern, das an die Bilder erinnerte, die an den Wänden ihrer Galerie hingen, und führte ihn in einen riesigen Raum mit hohen Fenstern, der ganz in Blassgelb gehalten war, um alles Augenmerk auf die Bilder zu lenken. Sie streckte ihm die Hand entgegen, als erwarte sie einen Handkuss, doch Leo ließ sich nicht auf solche Gesten ein.
Elisa Reichwein schien nichts von Bubiköpfen zu halten, sondern trug ihr schwarzes Haar, das wie Lack glänzte, streng nach hinten gekämmt und im Nacken zu einer festen Rolle gesteckt, was ihr ein leicht japanisches Aussehen verlieh. Dazu passten auch die porzellanweiße Haut, die sorgfältig gepudert war, und der karminrote Lippenstift. Nicht mein Typ, dachte Leo, aber unbestreitbar apart.
»Möchten Sie mir gleich Fragen stellen oder erst einen Blick auf die Bilder werfen?«, fragte sie mit wohlklingender Altstimme und deutete mit der türkischen Zigarette, die sie sich soeben angezündet hatte, auf die Bilder an den hellgelben Wänden.
»Die Bilder«, sagte Leo und schaute sich um. Die aktuelle Ausstellung zeigte ausgewählte dadaistische Werke der letzten sieben Jahre. Bilder von Marcel Janco, Max Oppenheimer und Francis Picabia, Stickereien von Sophie Täuber-Arp, eigenartig geformte Objekte von Hans Arp und Marcel Duchamp. So verschieden sie waren, spiegelten sie doch alle die ungeheuren Umwälzungen wider, die Europa im letzten Jahrzehnt erlebt hatte. Altes wurde gnadenlos umgestürzt, Traditionen zerbrachen.
»Das ist leider nur ein kleiner Ausschnitt«, sagte Elisa Reichwein. »Max Ernst konnte ich beispielsweise gar nicht bekommen.«
Leo war vor ein Bild von George Grosz getreten, auf dem eine rasende Menge um einen Sarg tobte, umgeben von Hochhäusern, im Vordergrund ein Café, aus dem rote Flammen loderten. Ein Tanz, kurz vor dem Untergang. Oder schon danach.
»Gefällt es Ihnen?«
»Gefallen ist nicht das richtige Wort. Ich finde es . . . beunruhigend. Man muss einfach hinschauen.«
Sie nickte. »Grosz hat es gegen Ende des Krieges gemalt. Als hätte er vorausgesehen, welches Chaos auf den Straßen losbrechen würde.«
Leo konnte sich nur mit Mühe von den Bildern losreißen. »Frau Reichwein, ich möchte Ihnen, wie gesagt, einige Fragen über Gabriel Sartorius stellen.«
Mit einer Handbewegung bot sie ihm einen Platz in einem schlichten hölzernen Sessel mit weißem Sitzkissen an. Sie selbst blieb an einem der hohen Fenster stehen und schnippte die Zigarettenasche in einen kleinen Aschenbecher aus Onyx.
»Woher kannten Sie Herrn Sartorius?«
»Ich habe ihn auf einer Vernissage kennen gelernt. Wir kamen ins Gespräch, er erzählte von seiner Arbeit. Als ich mich wenig später nicht wohl fühlte, habe ich mich an ihn erinnert und von ihm behandeln lassen.«
»Wann waren Sie das letzte Mal bei ihm?«
Sie überlegte. »Das ist schon länger her, etwa drei Monate.«
»Warum sind Sie nicht mehr hingegangen?«
»Weil er meine Probleme erfolgreich behandelt hat.«
»Mit Kokain?« Manchmal zog er den schnellen Angriff vor.
Kurz flackerte Überraschung in ihren Augen auf, dann antwortete sie gelassen: »Ja, das auch. Ich fühlte mich damals ausgelaugt und müde, nichts wollte mir gelingen. Er probierte dies und jenes, alles fauler Zauber, wenn Sie mich fragen. Dann empfahl er mir, es mit Kokain zu versuchen.«
»Bekamen Sie es von ihm persönlich?«
»Ja, er hatte gelegentlich etwas in seiner Praxis.«
»Ihre Freundin, Frau Cramer, sagte mir, Sie hätten ihr Herrn Sartorius empfohlen, als sie unter Migräne litt. Warum haben Sie das getan, wenn Sie seine Methoden für faulen Zauber hielten?«
Elisa Reichwein lächelte. »Nun ja, Ellen ist eine gute Freundin, aber ich will nicht verhehlen, dass wir beide wenig gemeinsam haben. Sie ist sehr konventionell und ein wenig leichtgläubig. Und ich dachte mir, dass ihre Migräne vielleicht . . . wie soll ich sagen, emotionaler Natur sein könnte. Ein wenig Hokuspokus, ein interessanter Mann wie Gabriel, vielleicht würde das schon reichen, um sie von ihrem langweiligen Ehemann abzulenken.«
Leo dachte an den Blick, mit dem Ellen Cramer ihren Mann an der Haustür erwartet hatte. Sollte etwa mehr zwischen ihr und dem Heiler gewesen sein?
»War sie seine Geliebte?«
Elisa Reichweins Lachen hallte tief und voll durch den hohen Raum. »Oh nein, das würde nicht zu ihr passen. Sie hätte es mir sicher erzählt. Er hat sie mit seiner Edelsteintherapie behandelt, das war alles, Herr Kommissar.«
»Gut. Wie Sie bereits wissen, wurde Herr Sartorius vorgestern in seiner Wohnung erschlagen aufgefunden.«
Sie nickte.
»Wir vermuten, dass er seinen Mörder, oder seine Mörderin«, fügte er herausfordernd hinzu, »gekannt hat. Die Tür war nicht aufgebrochen, er hat den Besucher selbst eingelassen. Dürfte ich Sie fragen, wo Sie vorgestern zwischen fünf und sechs Uhr gewesen sind?«
Sie zog überrascht die Augenbrauen hoch, bewahrte aber ihre gelassene Art. »Da brauche ich nicht lange zu überlegen. Ich war hier in der Galerie, mein Mitarbeiter Herr Melotti kann das bestätigen.«
»Es ist eine Routinefrage. Natürlich überprüfen wir alle Patienten, soweit sie uns bekannt sind. Können Sie sich vorstellen, welches Motiv hinter diesem Mord stehen könnte? Hatte Herr Sartorius Feinde oder Konkurrenten? Gab es enttäuschte Patienten, die sich womöglich an ihm rächen wollten? Er scheint in illustren Kreisen verkehrt zu haben.«
»Da haben Sie Recht. Er lebte von den Reichen und hat sich gerne unter sie gemischt. Kein Fest war ihm zu bunt, keine Party zu schrill. Seine religiöse Ausstrahlung war nur Fassade, er war einfach gern mit solchen Leuten zusammen und hat gut an ihnen verdient.«
»Und dennoch haben Sie Ihre, wie Sie sagen, gutgläubige Freundin zu ihm geschickt?«, hakte Leo noch einmal skeptisch nach.
Elisa Reichwein lachte. »Ich pflege großzügige moralische Maßstäbe, Herr Kommissar. Er war ja kein Verbrecher und hat, soweit ich weiß, niemandem geschadet. Das hat Ellen Ihnen gewiss bestätigt.«
Er merkte, dass er bei ihr nicht weiterkam. Auch war kein Motiv für einen Mord zu erkennen, doch die Begegnung mit der Galeristin hatte immerhin dazu beigetragen, einige Lücken im Bild des Ermordeten zu füllen. Leo stand auf und warf noch einen Blick auf George Grosz’ Totentanz. »Schade, dass Polizisten so wenig verdienen«, sagte er und meinte es ehrlich.
»Tja, da kann ich Ihnen leider auch nicht helfen«, bemerkte die Galeristin lächelnd.
Im Gehen drehte er sich noch einmal um. »Wussten Sie, dass Gabriel Sartorius die Korrespondenz mit seinen Patienten aufbewahrt hat?«
Wieder daneben. Sie war nicht aus der Ruhe zu bringen. »Ich habe nichts zu verbergen, Herr Kommissar. Natürlich weiß ich nicht, was andere ihm geschrieben haben . . .«
»Falls Ihnen etwas einfällt, das uns helfen könnte, rufen Sie mich bitte im Präsidium an.« Er legte seine Karte auf ein Tischchen neben der Tür und verabschiedete sich.
Leo goss sich ein Glas Bier ein und überlegte. Der Bericht des Leichendoktors überraschte ihn lediglich in einem Punkt. Der Schlag war nur die indirekte Todesursache gewesen. Dem Opfer war die Zunge in den Hals gerutscht, was im Verlauf der tiefen Bewusstlosigkeit, die auf den Schlag folgte, zum Tod durch Ersticken geführt hatte. Vermutlich hatte der Täter schräg rechts hinter Sartorius gestanden und das Überraschungsmoment ausgenutzt. Theoretisch kam auch eine Frau als Täterin in Frage, die jedoch über ungewöhnliche Kraft verfügen musste. Der Angriff war mit der rechten Hand geführt worden. Nichts, was einen Rückschluss auf den Täter zuließ oder den Kreis auch nur eingeschränkt hätte. Nichts außer der Tatsache, dass der Täter vermutlich Handschuhe getragen hatte.
Die Zeitungen hatten sich sofort auf den Mord gestürzt und sensationelle Geschichten über Sartorius’ Heilerfolge gebracht. Eine Filmschauspielerin hatte sich, ohne dass ihr Name überhaupt mit ihm in Verbindung gebracht wurde, von dem Heiler distanziert. Vielleicht hatte er ihr ebenfalls Rauschgift besorgt. Interessant. Wenn nun doch ein Patient durch diese Methoden zu Schaden gekommen war?
Leo stand auf und ging in die Küche, wo Ilse mit ihrem Handarbeitskorb saß und Kinderstrümpfe stopfte. Bei ihrem Anblick zog sich etwas in seiner Brust zusammen. So ähnlich hatte Dorothea früher im Wohnzimmer gesessen, den Korb neben sich auf dem Sofa, den Stopfpilz im Strumpf, nur war ihr Gesicht sanfter und fröhlicher gewesen.
»Ich muss noch mal weg, Ilse. Es kann spät werden.«
Sie schaute kaum hoch. »Sei leise, wenn du wiederkommst.«
»Es ist dienstlich«, sagte er und ärgerte sich sofort, weil es wie eine Rechtfertigung klang.
Sie nickte wortlos.
Er zog Hut und Mantel über, telefonierte kurz mit Walther und verließ die Wohnung.
Lokal konnte man es kaum nennen. Ein Keller, zu dem einige Stufen hinunterführten, so dunkel, dass er vom Gehweg aus kaum zu erkennen war. Das winzige Fenster war mit einem Tuch verhängt. Kein Laut drang auf die Straße. Es war ja auch kein Tanzlokal. Niemand, der hierher kam, wollte Musik und Unterhaltung.
Träge Blicke wandten sich den beiden Polizisten zu, als sie den dämmrigen Raum betraten. Eine flackernde Gaslampe enthüllte schemenhafte Gestalten, die am Boden lagen, auf Bänken kauerten oder gekrümmt in der Ecke hockten.
Leo und Walther sahen sich an. Zum Glück war für diesen Abend keine Razzia geplant, das hatten sie vorher überprüft. Leo trat zu dem Mann, der hinter einer behelfsmäßigen Theke stand und beim Anblick der »Geheimen«, wie die Kripoleute in diesen Kreisen hießen, rasch etwas hinter dem Tresen verschwinden ließ. Doch obwohl dieser Mann unzählige Kunden mit seinem Gift versorgte, war Leo heute nicht an Kokain und Morphium interessiert. Er beugte sich zu dem Wirt hinüber und sagte leise: »Paule, für deinen Stoff sind die Kollegen zuständig. Ich will nur ein paar Antworten.«
Der Wirt schaute ihn zweifelnd an. »Na, ick weeß nich . . .«
»Deine Gäste bekommen sowieso nichts mit«, meinte Leo mit einem Blick in die Runde. Keine der apathischen Gestalten, kaum mehr als dunkle Flecken in dem verräucherten Raum, schien sich für die Kriminalbeamten zu interessieren.
»Es geht um Gabriel Sartorius«, warf Walther ein. »Den dürftest du doch kennen.«
Paule zog die Schultern hoch. »Die meisten Jäste kenn ick nich mit Namen. Die zahlen und kriejen wat se wollen, det is allet.«
»Ach, komm schon. Du liest doch Zeitung, auch wenn’s nur Käseblätter sind«, meinte Leo strenger. »Der ermordete Wunderheiler. Wurde vor drei Tagen in seiner Wohnung erschlagen. Wir wissen, dass er hier verkehrte. Ist im letzten Jahr sogar mal von den Kollegen befragt worden.« Er sah Walther an. »Ich glaube, wir sollten die Jungs noch mal herschicken, was?«
»So ’n jroßer Kerl mit langen Haaren?«, fragte Paule plötzlich beflissen. »Der war öfter mal hier.«
»Hat er größere Mengen gekauft oder nur für den Eigenbedarf?«
»Hm, jekooft hat er nich ville, mal zehn Gramm, mal wat mehr. Hat nich jroß jehandelt, würd ick sagen.«
»Meinst du, er hat es selbst genommen?«, nahm Walther den Faden auf. Ihm wurde es zu stickig im Keller, er sehnte sich nach der frischen Abendluft. Außerdem hasste er den Geruch. Er erinnerte ihn an Dinge, die er lieber vergessen wollte.
»Na ja, so richtich viel hat er nich jenommen. Kann schon sein, dat er anderen ooch wat jejeben hat.«
»Wem denn?«, bohrte Leo weiter und zog ungeduldig die Augenbrauen hoch.
»Tja, da war mal so ’ne Kleene, nettet Ding, richtich duftes Mädel, juter Stall, det konnt man sehen . . . die sind mal zusammen hier jewesen. Später kam se dann alleene, immer öfter. Hat jekokst wie ’ne Alte. Die Nasenlöcher waren schon janz kaputt . . . Seit ’n paar Monaten isse nich mehr aufjetaucht. Moment.« Er kam hinter dem Tresen hervor und verschwand in einem Hinterzimmer. Kurz darauf kam er zurück. »Ick hab den Fritz jefragt, der hat ihr immer wat jejeben. Verena Moltke hieß die Kleene. Den Rest müssen Se aber selber rausfinden, Herr Kommissar.«
Als sie zur Tür gingen, stand ein junger Mann auf und taumelte gegen Walther, der ihn angewidert von sich stieß. Leo sah einen Augenblick lang das Gesicht, hager, bleich, mit rot geränderten Nasenlöchern und trüben Augen. »Haben Sie vielleicht ein bisschen Geld für mich?«, fragte er mit einer Stimme, die überraschend gebildet klang. Leo schüttelte den Kopf und folgte seinem Kollegen die Treppe hinauf auf die Straße.
Walther lehnte an einem Laternenpfahl und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Immer noch?«, fragte Leo.
»Geht nie ganz weg.«
Im Krieg hatte Robert Walther eine schwere Bauchverletzung erlitten und war mit Morphium behandelt worden. Nach seiner Genesung hatte er monatelang gegen die Sucht nach dem Rauschmittel angekämpft, bevor er wieder den Dienst aufnehmen konnte. Leo wusste, dass er die Arbeit in diesem Milieu als persönliche Prüfung betrachtete, und nahm ihn grundsätzlich mit, wenn er mit Rauschgiftsüchtigen zu tun hatte. Das mochte unorthodox sein, war aber der Grundstein ihrer Freundschaft, und Walther wäre für Leo durchs Feuer gegangen.
»Manchmal muss ich denken, was aus mir geworden wäre . . .«, sagte Walther kopfschüttelnd.
Leo sah auf die Uhr. Halb elf. »Noch ’ne Molle vor dem Schlafengehen?«, fragte er seinen Kollegen. Walther nickte.
Sie fuhren zu einer Kneipe in der Friedrichstadt, nicht weit vom Präsidium. Es waren nur noch wenige Gäste da, und der Wirt räumte schon die Gläser weg, grinste aber, als er die beiden Kriminalbeamten hereinkommen sah. »Späte Kundschaft, was? Zwei Weiße, die Herren?«
Sie nickten und setzten sich in eine Nische.
»Was hältst du von dem Tipp?«, fragte Leo.
»Klang ganz plausibel. Wenn Sartorius dieses Mädchen nun zum Rauschgift verführt und dann im Stich gelassen hat . . . Womöglich gibt es einen Vater, Bruder oder Verlobten, der davon wusste und Sartorius dafür verantwortlich gemacht hat.«
»Stahnke und Berns sollen den Namen morgen überprüfen.« Er verstummte, als der Wirt die Getränke brachte. »Na, wie läuft das Geschäft?«, fragte Leo.
»Die Leute haben kein Geld mehr in der Tasche. Sogar die Polizei kommt erst kurz vor der Sperrstunde«, knurrte der Wirt gereizt.
Als er gegangen war, sah Walther Leo prüfend an. »Ist ja schön, dass wir noch einen trinken, aber mir kommt es vor, als würdest du in letzter Zeit nicht gern nach Hause gehen.«
»Stimmt. Wenn die Kinder nicht wären . . .« Leo fuhr sich mit der Hand durchs Haar und nahm einen tiefen Schluck aus seinem Glas. »Mit Ilse ist es nicht einfach. Sie hat das Gefühl, bei uns ihr Leben zu verschwenden.«
»Das klingt aber hart.«
»Ist auch hart. Für sie, meine ich. Anstatt eine eigene Familie zu gründen, kümmert sie sich ständig um meine Kinder. Sie lernt niemanden kennen, kommt selten unter Leute, weil ich abends oft dienstlich unterwegs bin.«
»Rede doch mit dem Chef. Der kann dich für den Tagdienst einteilen.«
Unwillig schlug Leo mit der Hand auf den Tisch. »Du weißt genau, dass das nicht geht. Ich kann als Kommissar schlecht die Ermittlungen unterbrechen und meinen Leuten sagen, morgen früh um acht bin ich wieder da.«
Walther kannte Leos inneren Zwiespalt. Der Mann war hin- und hergerissen zwischen seinen Kindern und einer Arbeit, die ungewöhnlichen Einsatz und Dienststunden weit über das übliche Maß forderte. Er selbst war zum Glück unverheiratet. Andererseits kannte er auch Leos Leidenschaft für seinen Beruf, selbst wenn er manchmal nicht ganz verstand, woher sie rührte. Er hatte ihn dabei beobachtet, wie er andächtig Bilder betrachtete oder sich in ein Buch vertiefte, und gedacht, was einen Menschen wie Leo, der schöne Dinge liebte, wohl zu dieser oft so hässlichen Tätigkeit hinzog.
»Vielleicht lernst du ja mal wieder jemanden kennen«, sagte Robert vorsichtig.
»Wie denn?«, fragte Leo skeptisch. »Abends hat unsereins meist keine Zeit, auszugehen. Und wenn, ist es dienstlich. So wie im Kokskeller.« Er grinste schief.
»Ach, komm. Du warst bei Frau Cramer –«
»Nicht mein Typ und verheiratet«, warf Leo ein.
»– und bei Frau Reichwein –«
»Reizvoll, aber wohl kaum an einem Witwer mit zwei Kindern interessiert.«
»Tja. Dann musst du eben deinen Beruf zur Braut nehmen wie Gennat.« Kriminaloberkommissar Ernst Gennat war für seinen Argwohn gegenüber dem weiblichen Geschlecht bekannt, den er durch seine leidenschaftliche Liebe zum Beruf und den Konsum ungeheurer Kuchenmengen kompensierte.
»Ich weiß nicht . . .« Leo schaute auf die Tischplatte, als könnte er dort eine Antwort finden. »Schön wäre es schon.« Dann trank er sein Glas aus und stellte es geräuschvoll auf den Tisch, womit er den Abend beendete.
»Gehen wir, Robert.«
Er lag noch nicht lange im Bett, als jemand heftig gegen die Wohnungstür hämmerte. Verschlafen torkelte er durch den Flur und öffnete das Fensterchen in der Tür.
Draußen stand eine Nachbarin, die er vom Sehen kannte, an der Hand die kleine Inge Matussek mit tränenverschmiertem Gesicht. »Entschuldigen Sie die Störung, Herr Kommissar, aber ich glaube, der Matussek hat seine Frau umgebracht.«