Hauptkommissarin Nicole Schauer sah sich im Büro ihres neuen Chefs um. Es sah aus wie jedes andere, freudlos, graue Möbel. Doch immerhin standen hier ein paar Pflanzen, die ganz gepflegt aussahen. Sie wollte dem stiernackigen Typen ihr gegenüber einfach mal zutrauen, dass er es selbst war, der sich um das Grünzeug kümmerte.
Karsten Simon, seines Zeichens Erster Hauptkommissar der Dresdner Kripo, war ein bulliger, kahlköpfiger Mann mit leicht gequältem Gesichtsausdruck. Ob er wirklich litt oder sich damit nur Arbeit vom Hals hielt, musste sie noch herausfinden. Schauer hoffte, sie würde sowieso nicht lang hierbleiben. Das Ganze hier war nämlich ein einziges großes Missverständnis.
Ein bisschen peinlich war die Situation schon, sich so gegenüberzusitzen, nichts gesagt zu haben, außer einigen ersten Begrüßungsfloskeln. Lange saßen sie noch nicht hier. Die Uhr auf Simons Schreibtisch zeigte vier Minuten nach neun. Pünktlich um neun war sie wie bestellt erschienen. Sie war gespannt, wie lange sie noch warten sollte. Das einzige Geräusch im Moment war der Novemberregen, der gegen die Fensterscheiben prasselte. Endlich regte sich Simon. Er griff zum Telefon, wählte eine Durchwahl, ließ es klingeln, gab nach wenigen Sekunden auf.
«Nun, Felix kommt wohl nicht», sagte er.
Schauer hob die Augenbrauen. Ihr neuer Kollege, Felix Bruch, hatte beschlossen, einfach nicht zum Termin zu erscheinen, ging offenbar auch nicht ans Telefon, und sein Chef nahm das so hin? Felix, der vom Glück Begünstigte. Super Zustände, dachte sie sich. Nicole übrigens kam von Nike, wusste sie, seit sie zehn oder elf war, altgriechisch für Sieg. Super Witz.
«Ich möchte Sie jedenfalls noch einmal im Namen aller willkommen heißen. Vielleicht gelingt es Ihnen mit Ihren Erfahrungen, ein wenig frischen Wind in unser Team zu bringen.»
Ganz bestimmt nicht, höchstens ein paar Wochen. Schauer nickte freundlich und lächelte. «Darf ich mal fragen, weshalb Hauptkommissar Bruch nicht erscheint?» Sie hatte sich angewöhnt, Dinge gleich anzusprechen, ehe sie sich zu Problemen entwickelten.
Simon lächelte unglücklich. «Felix ist ein wenig … eigen.»
«Eigen? Wenn Sie ihn bestellt haben, sollte er doch zum Termin erscheinen.»
Simon wiegte den Kopf. «Ich habe ihn ja nicht wirklich bestellt, es war eher eine Bitte.» Er seufzte. «Sie müssen wissen, er hatte es in letzter Zeit nicht leicht. Vor Kurzem erst hat er bei einem Unfall seinen langjährigen Kollegen und Freund verloren.» Simon deutete auf eine Pinnwand, an der ein schwarz gerahmtes Foto hing. Hübscher Kerl, der Tote, grinste, als wäre er high.
Eine Bitte, dachte sich Schauer. Toll, ganz, ganz toll. Sie presste einen Moment lang den Kiefer zusammen. Konnte sich Simon nicht durchsetzen, dass er seine Untergebenen nur bitten konnte, in sein Büro kommen, oder hatte Bruch einen solchen Sonderstatus, dass er sich das erlauben konnte?
«Michael Bartko hat den Wagen selbst gefahren. Felix war Beifahrer. Er wurde aus dem Wagen geschleudert. Bartko hatte keine …» Simon schloss den Mund. Es ging ihm nahe, sah Schauer und wollte es dabei belassen. Aber eines fragte sie sich dann doch.
«Und Hauptkommissar Bruch ist jetzt bereits wieder dienstfähig?»
«Natürlich», sagte Simon etwas ungehalten. «Sonst wäre er ja nicht hier.»
«Er ist ja aber gar nicht hier!»
«Ich meine, im Gebäude. Im Dienst», beeilte sich Simon zu konkretisieren und sprach dann schnell weiter. «Jedenfalls hätte ich Sie gern einmal herumgeführt, um Ihnen alle vorzustellen, und ich hätte Ihnen auch gern ein wenig Zeit gelassen, sich einzugewöhnen, doch die Umstände zwingen mich, das vorerst zu verschieben.» Simon beugte sich vor und schob ihr eine Aktenmappe entgegen. Schauer nahm sie, sah vorerst nicht hinein. «Ein Kind ist verschwunden. Ein Mädchen. Es gilt größte Eile. Was Sie wissen müssen, steht alles hier drin.»
Ihr war, als wollte er noch etwas sagen. Seltsam, dieser Simon, dachte sie. Ein Bär von einem Mann, sah aus wie einer, dem man nachts im Dunklen nicht begegnen mochte, und mit seinen circa fünfzig sollte ihm doch keiner mehr etwas vormachen können. Trotzdem druckste er hier herum.
«Das ist doch aber hier die Mordkommission, wieso betreuen wir den Fall?»
«Aus Kapazitätsgründen.»
«Ah.» Schauer hob das Kinn, damit war ja alles geklärt.
Simon sah das auch so. «Sie werden sehen, Bruch hat so seine Art. Aber er ist ein guter Kerl. Ein guter Ermittler. Hat es nicht leicht. Hatte es noch nie.» Er schien ergriffen.
Ich auch nicht, dachte Schauer und setzte sich gerade hin. Und was sollte das heißen, seine Art ?
Schauer erhob sich. Sie wollte das hier beenden, ehe Simon noch in Tränen der Rührung ausbrach. «Dann will ich mal!», sagte sie.
Simon sprang auf, reichte ihr die Hand über den Tisch. «Auf gute Zusammenarbeit, die anderen Kollegen werden Sie im Laufe der Woche noch kennenlernen. Ihr Büro finden Sie den Gang hinunter, ganz am Ende.»
Als sie Simons Büro verließ, wusste sie nicht, was sie von alledem halten sollte. Menschen neigen ja dazu, entweder zu unter- oder zu übertreiben. Wenn Simon sich schon gezwungen sah, sie auf die Verhaltensweisen ihres neuen Kollegen hinzuweisen, was mochte das dann bedeuten? Sie hatte bestimmt keine Lust, Kindermädchen für irgendeinen unzuverlässigen Typen zu spielen. Das konnten die sich abschminken. Sie würde sich nichts gefallen lassen. Das hatte sie sich fest vorgenommen. So viel war in letzter Zeit schiefgelaufen, dass sie sich weigerte, auch nur eine zusätzliche schlechte Nachricht zu akzeptieren.
Ihre Tasche geschultert, die Akte in der Rechten, lief sie den Gang hinab, passierte eine Reihe geschlossener Bürotüren. Nur eine auf dem halben Weg stand offen, die Küche. Ein Mann kam in diesem Moment heraus, balancierte eine volle Tasse auf einem Unterteller. Er war gerade so groß wie sie, eins siebzig, Bauchansatz, kurze Haare, mochte etwa um die fünfzig Jahre alt sein. Er hatte O-Beine wie einer, der seit frühester Jugend Fußball spielte. War das Bruch?
«Morschn», sagte er zuerst nur, blieb dann aber doch stehen, als er das neue Gesicht wahrnahm.
«Sie sind wohl die neue Kollegin?», fragte er freundlich. «Buchholz, Ralf», stellte er sich vor.
«Nicole Schauer, ja, ich bin die Neue.»
«Und Sie arbeiten jetzt mit …» Er sprach es gar nicht aus, deutete nur auf die entsprechende Tür.
Sie nickte.
«Na, dann viel Glück. Wir sehen uns.» Buchholz hob die Augenbrauen und ging zurück in sein Büro.
Ganz toll, dachte Schauer, wirklich ganz toll.