Felix Bruch saß in seinem Büro und starrte auf den dunklen Bildschirm seines Computers. Er hatte kein Licht eingeschaltet, und die Lamellen vor dem Fenster waren vom Abend des gestrigen Tages noch geschlossen. Es konnte noch nicht lang sein, dass er in der Dunkelheit saß, ins Leere starrte, während es draußen in Strömen goss. Das Telefon begann zu vibrieren. Er ignorierte es. Nach kurzer Zeit gab der Anrufer auf.
Er dachte an nichts. Buchstäblich nichts. Unmöglich, nur einen Gedanken festzuhalten, ihn weiter zu denken. Jemand hatte ihn angesprochen, vorhin auf dem Gang. Und dann hatte er hier im Büro ein Telefonat geführt. Weshalb, daran konnte er sich gerade nicht erinnern. Versuchte es auch gar nicht, denn vielleicht war es das, was diese graue Leere in ihm ausgelöst hatte. Das oder der Regen.
Es regnete inzwischen seit drei oder vier Tagen. Die Wolkendecke war in der ganzen Zeit nicht einmal aufgerissen, kein einziger Sonnenstrahl drang hindurch. Als hätte jemand die Stadt mit einem dunklen Tuch abgedeckt, wie man einen Vogelkäfig am Abend zudeckte. Längst waren die Rasenflächen übersättigt, die Pfützen auf den Straßen riesig. Fuhr draußen vor dem Präsidium ein Auto vorbei, hörte es sich an, als zerrisse jemand genüsslich eine Zeitung. Das tat ihm nicht gut, wusste Bruch.
Schritte näherten sich, verzögerten. Er sah auf, schob sich in seinem Stuhl zurecht. Beinahe verwundert nahm er die Pistole in seiner Hand wahr. Er konnte sich nicht erinnern, aus welchem Grund er sie aus dem Holster genommen hatte. Als es klopfte, wusste er nicht sogleich, wohin mit ihr. Zu träge für hektische Bewegungen, legte sie einfach auf den Tisch.
Schon öffnete sich die Tür, einen Spalt erst nur, dann ganz, ein schmaler Streifen Licht fiel vom Gang in den Raum.
«Das ist aber düster hier», sagte die Frau. Schmal sah sie aus, ihre Haare waren ganz kurz.
«Der Lichtschalter ist neben der Tür», antwortete Bruch. Jetzt fiel ihm wieder ein, dass er heute eine neue Kollegin bekommen sollte. In Simons Büro hätten sie bekannt gemacht werden sollen.
Die Frau langte nach dem Schalter. Als sämtliche Deckenbeleuchtung anging, verengte Bruch die Augen zu Schlitzen.
«Was machen Sie denn hier im Dunkeln?», fragte sie.
Ihr Haar war schwarz gefärbt. Das stand ihr nicht. Bruch antwortete nicht. Nicht weil er nicht wollte, er wusste keine Antwort auf ihre Frage. Beziehungsweise keine, die sie etwas anging.
«Wir hatten um neun einen Termin bei Karsten Simon!», sagte die Frau, dabei sah sie sich um, suchte wohl eine Ablage für die Mappe in ihrer Hand.
Ihr Haar war noch nass, ebenso die Schultern ihrer Jacke. Kam nicht von hier. Ihre Art zu sprechen verriet sie als eine aus dem Norden.
«Na, wie dem auch sei», sagte sie nun. «Schauer. Hauptkommissarin. Nicole. Neue Kollegin. Aus Hamburg ursprünglich. Wir sind jetzt ein Team.» Sie sprach es aus, als wäre es ein Witz.
Bruch sah sie nur an. Er wollte ihr gern erklären, dass er ihr in diesem Moment kaum folgen konnte, es war, als wäre er im Nebel. Als liefe er durch Zeitlupenmorast. Er musste erst einmal ankommen in dieser neuen Situation.
Wieder wartete sie auf seine Erwiderung. «Ist das dort mein Platz?», fragte sie, ehe Bruch auf den Gedanken kam, seinen Namen zu nennen, und deutete auf den Schreibtisch quer vor dem Fenster.
Bruch nickte. Ja, jetzt war es ihr Platz.
Sie nickte demonstrativ, setzte sich in Bewegung und warf ihm im Vorbeigehen die Aktenmappe auf den Tisch. «Ehe wir uns noch verplaudern, wir haben schon einen Auftrag!» Mit einer fast zornigen Bewegung ließ sie dann ihre Tasche auf den Schreibtisch fallen. Sie setzte sich gar nicht erst. Lehnte sich mit dem Gesäß an ihren Tisch, verschränkte die Arme vor der Brust, deutete mit dem Kinn auf die Mappe.
«Wollen Sie nicht mal reinschauen?»
Bruch schüttelte den Kopf. Er wusste schon Bescheid. «Ein Kind wird vermisst. Celina Kühn, zwölf Jahre alt. Sie suchen es seit gestern Abend.»
«Sie wissen also Bescheid, dann können Sie mich ja unterwegs aufklären!», sagte Schauer und stieß sich vom Schreibtisch ab.
Fragend sah sie ihn jetzt an. «Und wie sieht es aus, wollen wir los?»
Bruch hob die Hand.
Diese fast bittende Geste brachte Schauer ein wenig zur Räson. Mochte sein, sie hatte den Mann überfordert. Gut möglich, dass der geschlafen hatte, bevor sie ins Büro gekommen war. Mochte sein, dass er deshalb den Termin verpasst hatte. Seine ganze Erscheinung sprach für diese Theorie. Die Haare ein kleines bisschen zu lang, ziemlich ungekämmt. Rasieren hätte er sich auch können. Zudem hatte er noch tiefe Augenringe. Aber die hatte sie auch. Kam davon, wenn man nachts erst ewig nicht einpennen konnte und sich dann im Schlaf ständig herumwarf, um dann am Morgen noch vor dem Weckradio zu erwachen. Von seiner Gestalt her hätte Bruch Marathonläufer sein können, oder Bergsteiger, oder er hatte sehr abgenommen, er sah aus, als wären ihm die Klamotten eine Nummer zu weit.
«Seit gestern suchen sie die Gegend ab. Hundestaffeln. Drohnen. Hubschrauber. Insgesamt mehrere Hundert Leute», sagte er.
Es schien ihm schwerzufallen, in Sätzen zu sprechen. Ohne die Vorwarnungen der anderen wäre ihr das vielleicht alles gar nicht so komisch vorgekommen, aber nun fragte sie sich nur noch mehr, ob Bruch überhaupt dienstfähig war. Nach dem tödlichen Unfall eines Kollegen hatte er bestimmt einige Gespräche mit Psychologen hinter sich, denen konnte nicht entgangen sein, dass er nicht einmal in der Lage war, ein normales Gespräch zu führen. Entweder herrschte hier wirklich großer Personalmangel, oder der Typ hatte es wirklich drauf, sodass man nicht auf ihn verzichten konnte. Irgendwie wollte sie Letzteres aber nicht glauben.
«Es sind somit genügend Leute vor Ort.»
Was er wohl damit sagen wollte, war, dass sie keinen Grund zur Eile hatten.
«Wie ist denn dann dein Plan?», fragte sie ihn.
Er sah sie fragend an, doch sie hatte keine Lust, den Satz noch mal zu wiederholen. Zu spät fiel ihr auf, dass sie ins Du gewechselt war. Schien ihn aber nicht zu stören, oder er hatte das überhaupt nicht registriert.
Jetzt regte er sich. «Wir müssen uns über die Vorgehensweise einig werden. Es gibt einen Umstand, den wir in Betracht ziehen müssen.»
«Der da wäre?»
«Vor zwei Jahren ist schon einmal ein Kind dort weggekommen. Aus derselben Siedlung. Ebenfalls ein Mädchen, damals zehn, jetzt zwölf Jahre alt, wie das verschwundene Kind. Nach knapp zwei Wochen tauchte es wieder auf.»
«Einfach so?»
Bruch nickte. «Dehydriert, leicht unterernährt.»
«Und?»
Jetzt sah er sie wieder fragend an. War er ein Autist oder so? Schauer sah sich gezwungen auszusprechen, was man gern unausgesprochen ließ. «Zeigte sie Anzeichen eines sexuellen Missbrauchs?»
«Keine äußerlichen.»
Schauer sah ihren neuen Kollegen an, wartete, ob er seiner Antwort noch eine Ergänzung hinzufügte. «Herrgott, was heißt das, keine äußerlichen? Innerliche vielleicht?» Bleib ruhig, mahnte sie sich, bleib ruhig.
«Soweit ich weiß, ließen ihre Eltern damals keine weiteren Untersuchungen zu. Da das Kind äußerlich keine Verletzungen aufwies, jedoch unter Schock stand, beließ man es dabei. Die Eltern waren der Meinung, das Kind wäre traumatisiert genug, als dass jetzt noch ein Gynäkologe an ihr herummurksen sollte.»
«Murksen?»
«So hat es die Mutter damals genannt.»
«Das verstehe ich nicht – das sollte man dann doch eigentlich wollen, also herausfinden, was passiert ist … Sind das Moslems oder so, oder Christen, ich meine, fundamentale?»
Bruch schüttelte nur den Kopf. Nicht schnell, sondern als müsste er sich daran erinnern, wie das ginge. Hin, her.
Schauer ließ ihm einen Moment, als sie sicher war, dass nichts mehr kam, fragte sie weiter. «Also das Mädchen verschwindet, alle suchen sie, doch sie bleibt verschwunden. Dann taucht sie auf, durstig und hungrig, keiner weiß, wo sie war? Und sie sagte nichts? Und dabei bleibt es? Niemand geht der Sache nach?»
«Irgendwann gab man auf.»
«Aha.» Erst jetzt sah sie, dass seine Dienstwaffe vor ihm auf dem Tisch lag. Hatte er sie geputzt? Aber da war kein Putzzeug. Warum lag sie dann da? Warum saß er in einer völlig finsteren Bude, mit der Knarre vor sich?
«Und worauf warten wir?», fragte sie, als es den Anschein hatte, dass sonst gar nichts mehr geschah.
Wieder zögerte er, als müsste er sich erst erinnern. «Ich habe die Akten von damals bereits angefordert. Müssten jeden Moment hier sein.»
War das, bevor er hier mit seiner Waffe rumgespielt hat oder währenddessen? Schauer griff sich an die Nasenwurzel, schloss die Augen einen Moment. Wo war sie hier nur hingeraten? Warum musste ausgerechnet jetzt ihrem Versetzungsgesuch stattgegeben werden? Ausgerechnet jetzt.
«Dann setz ich mich mal hin! Oder ich hol mir erst mal einen Kaffee.»
Als sie zurückkam, stellte sie ihm eine Tasse auf den Tisch, warf ein kleines Päckchen Kondensmilch und ein Tütchen Zucker hin.
Bruch sah erstaunt auf. Er hatte gar keinen Kaffee bestellt.
«Bitte!» Schauer schüttelte den Kopf, ging an ihren Platz.
«Danke», sah er sich gezwungen zu sagen. Seine Jacke war vorhin auch nass geworden. Zwar waren es nur wenige Meter von seinem Auto bis zum Eingang des Präsidiums gewesen, doch die hatten genügt, ihn zu durchnässen. Nun stieg die Feuchtigkeit von seinen Schultern auf. Es roch nach nassem Leder. Er müsste sie auf der Heizung ausbreiten, doch der Gedanke, sie auszuziehen, ließ ihn frösteln.
Ihr Stuhl quietschte, als sie sich setzte, und für einen Moment war es, als wäre Michael wieder da. Doch der konnte nicht da sein, hatte kopfüber im zerstörten BMW in den Gurten gehangen und war verbrannt. Die Bilder wollten ihn nicht loslassen. Er hätte gut erst mal alleine weitermachen können. Wie sollte er es nur mit dieser Frau aushalten, die offenbar immerzu sprechen musste. Wie ruhig war es mit Michael gewesen. Manchmal hatten sie den ganzen Tag nicht gesprochen. Kein Wort. Nicht einmal Guten Morgen hatten sie gesagt oder Mach’s gut.
«Willst du gar nichts wissen von mir?», fragte sie nun. «Wir können uns doch duzen, oder? Sind doch jetzt Kollegen.»
Spottete sie? «Was muss ich denn wissen?»
Jetzt stöhnte sie, kippte sich zwei Tütchen Zucker in den Kaffee, keine Milch, rührte mit einem sehr kleinen Löffel um, der kein Tee-, sondern eigentlich ein Salzlöffelchen war. Wie der in die Besteckschublade gekommen war, hatte er nie herausfinden können.
«Du musst schon mal gar nichts wissen. Ich dachte nur, da wir jetzt Kollegen sind, solltest du doch vielleicht einen Wissensvorteil den anderen gegenüber haben. Sonst fragen die dich noch was, und du kannst keine Antwort geben.»
«Mich fragt keiner.»
«Na, das ist ja ein Wunder.» Wieder schüttelte sie den Kopf. «Ich bin jedenfalls achtunddreißig, komme ursprünglich aus Zeven, bei Hamburg ist das. Ich war bei der Hamburger Kripo. Sicher fragst du dich jetzt voller Spannung, wie ich nach Dresden gekommen bin.» Sie sah ihn an, hob die Augenbrauen.
Ihr zuliebe nickte er.
«Ich hab einen Typen kennengelernt. Im Urlaub, auf Ibiza. Dresdner. Hübsch, groß, erfolgreich. Zu schön, um wahr zu sein. Ich bin fast zwei Jahre gependelt. Immer wenn ich frei hatte, bin ich hierhergekommen. Alle zwei, drei Wochenenden mal, eigentlich noch weniger. Schließlich dachte ich, ja, das ist sie, endlich die große Liebe. Ich habe um Versetzung gebeten. Und ein Jahr lang geschah nichts, keine Stelle frei. Dann aber macht er Schluss mit mir, und prompt bekomme ich den Posten hier.» Jetzt schloss sie den Mund. Bestimmt war ihr selbst aufgefallen, dass ihr ironischer Ton, mit dem sie sich durch den Alltag rettete, ins Zynisch-Wütende gekippt war.
«Deshalb bin ich hier», schloss sie und ließ den Rest unausgesprochen. Bruch vermutete, sie hatte umgehend um Rückversetzung gebeten.
Sie hatte sich hinreißen lassen. Von sich selbst. Er hatte sie nicht aufgefordert zu sprechen. Nun guckte er betreten aus der Wäsche, wusste mit den Informationen nicht umzugehen. Sie musste sich zusammennehmen, nicht immer denken, dass die anderen an ihrem Schicksal interessiert waren. Geschweige denn, dass sie ihre Gedanken nachvollziehen konnten. Irgendwie schien er vollkommen überfordert. Bestimmt projizierte sie ihre Wut auf Sebastian irgendwie auf ihn.
«Na ja, tut mir jedenfalls leid für deinen Kollegen», sagte sie, mit dem Versuch, einen friedlicheren Ton zu treffen.
«Warum?», fragte Bruch.
Schauer schwieg verblüfft. Hatte er gerade gefragt, warum?
«Du kanntest ihn doch nicht», sagte Bruch.
«Nein», erwiderte sie verunsichert.
«Warum tut es dir dann leid?»
«Meine Güte, das sagt man eben so, er war ja schließlich dein Kollege und wohl auch dein Freund. Und außerdem war er einer von uns. Ein Polizist, nicht wahr.» Dass man das erklären musste. Inzwischen hatte sie das Gefühl, irgendwie im Irrenhaus gelandet zu sein. Oder war das Ganze nur ein Streich, um der Neuen aus dem Westen gleich mal eins auszuwischen.
Sie hatte jedenfalls genug davon. Es brannte ihr unter den Nägeln, endlich loszufahren. Da waren Leute, die suchten ihr Kind. Sie mochte sich das gar nicht ausmalen, auch wenn sie keins hatte. «Sag mal, wen muss ich denn jetzt anrufen, damit wir die Akte schneller bekommen.»
Zu ihrer Überraschung griff Bruch nach einem Zettel auf seinem Tisch und reichte ihn ihr hinüber.