Ihr war unwohl auf dem Weg zurück nach Goppeln. Nicht allein dass sie dem Typen eine verpasst hatte, der Geruch des Blutes, seine ganze widerliche Art sorgten dafür. Noch dazu schien Bruch recht zu haben, es war sinnlos, was sie taten. Fuhren durch die Gegend, fragten Leute nach Dingen, die sie bereits erzählt hatten. Und dieses Dreckswetter. Vorm Haus der Kühns stellte sie den Wagen ab.
«Haben Sie diesen Mann schon einmal gesehen?», fragte Schauer.
«Wer ist das?», fragte Yvonne Kühn, Celinas Mutter. Inzwischen war es früher Nachmittag. Sie hatte ein wenig geschlafen. Schien nicht mehr so benommen. Hatte sich angekleidet, als wollte sie gleich hinaus.
«Haben Sie ihn schon einmal gesehen?»
Die Kühns beugten sich über den Laptop, studierten ein Bild von Berger. Sie flüsterten miteinander. Schauer ließ ihnen den Raum. Schließlich ließen beide ab vom Computer. «Nein, nicht dass wir uns daran entsinnen könnten. Wer ist denn der Mann?»
«Das kann ich Ihnen nicht sagen!»
«Können wir das Foto ausgedruckt bekommen?», fragte Herr Kühn.
«Ganz sicher nicht! Können sich Ihre Kinder das Bild bitte ansehen!»
«Maxim, Sarah!», rief Kühn so laut und unvermittelt, dass Schauer zusammenzuckte. Sie sah Bruch an, um Kontakt zu bekommen, das Gefühl, nicht ganz allein zu sein. Doch der starrte nur, als wäre er in Gedanken ganz woanders. Oder auf Stand-by, um Akku zu sparen.
Das Mädchen kam die Treppe runtergeflitzt. Der große Bruder schlurfte betont langsam hinterher. Als er der Polizisten gewahr wurde, stöhnte er.
«Schaut ihr euch bitte das Bild an und sagt, ob ihr den Mann schon einmal gesehen habt», bat Schauer. Angesichts des großen trägen Burschen bekam sie schon wieder Puls. Dem konnte ja seine Schwester nicht so egal sein. Oder? Oder er wusste etwas. Noch einmal sah sie Bruch an, und tatsächlich betrachtete er den Jungen, als hätte er gerade denselben Gedanken gehabt.
Maxim guckte nur kurz. «Nee, kenn ich nicht», sagte er und wollte schon wieder abdrehen.
«Du hast doch noch gar nicht richtig hingesehen!», entrüstete sich seine Mutter. Wieder stöhnte der Junge, riss seine Augen auf, starrte den Bildschirm drei Sekunden lang an.
«Reicht das?», fragte er.
Kühn wollte aus der Haut fahren, doch seine Frau hielt ihn zurück.
«Wer ist das?», fragte die Kleine. Niemand nahm sie wahr.
«Kann ich wieder hoch?», fragte der Junge.
«Geh», antwortete Bruch.
Frau Kühn sah ihm nach. «Seit einem Jahr pubertiert er. Und seit er ein paar neue Mitschüler in der Klasse hat, ist er unausstehlich.»
Bruch hatte sich leicht bewegt. Mit dem Gesicht deutete er nach oben. «Wären Sie einverstanden, wenn wir ihn mal kurz allein auf seinem Zimmer sprechen?», fragte Schauer in der Hoffnung, Bruchs Botschaft richtig verstanden zu haben. Warum fragte er nicht selbst?
«Wenn Sie sich davon was erhoffen.»
«Wasn?», maulte Maxim auf ihr Klopfen hin. Schauer öffnete die Tür, trat nach links, Bruch hinter ihr nach rechts. Maxim saß an seinem Computer, hatte sich für eine Runde Fortnite eingeloggt. Nun schob er sein Headset so, dass wenigstens ein Ohr frei war.
«Was issn?»
«Du hast den Mann schon mal gesehen», sagte Bruch.
Maxim öffnete den Mund, wollte widersprechen. An Bruchs starrem Blick scheiterte er jedoch.
«Ja, is aber nicht wichtig.»
«Deine Schwester ist verschwunden», entfuhr es Schauer scharf. Bruch bewegte sich ein paar Zentimeter vor. Vorsichtshalber schob Schauer ihre Hände in die Jackentaschen.
«Du sagst also, du kennst den Mann, und ich will wissen, woher. Ob es wichtig ist, entscheiden wir», sagte Bruch.
Maxim kaute auf seiner Unterlippe, in seinem Mundwinkel wuchs ein kleines Ekzem. «Sagen Sie auch meinen Alten nichts. Die nehmen mich noch von der Schule.»
Es war fast tröstlich für Schauer, dass Bruch den Jungen ebenso nur ansah, ohne zu antworten, wie er es bei ihr immer tat.
«Also der vertickt Dope an der Schule. Ich weiß das nur, weil mir das einer gesagt hat. Ich rauch nichts.»
«An deiner Schule?», fragte Schauer. Sie hätte diesem Asozialen nicht nur eine reinschießen sollen. «Und deine Schwester ist an derselben Schule?»
«Ja, na klar», er tat, als wäre es ganz logisch. Wie nahe er dran war, auch eine geschossen zu bekommen, konnte er nicht ahnen.
«Seit wann treibt der Typ sich da rum?»
«Schon seit ein paar Wochen.»
Bruch drehte in diesem Moment ab.
«Danke, kannst weiterspielen», schloss Schauer die Runde. Eigentlich müsste man es machen wie Bruch, einfach gehen, wenn man fertig war. Oder sagen, was man sagen wollte. Oder nichts sagen. Doch irgendwie fühlte es sich immer falsch an. Um so zu sein, muss man entweder ganz cool sein oder nicht ganz richtig ticken in der Birne. Zu welcher Kategorie Bruch zählte, da war sie sich längst nicht sicher.
«Konnte er Ihnen weiterhelfen?», fragte Frau Kühn unten.
Schauer nickte. «Und? Was machen Sie jetzt?»
«Ich geh wieder raus, nach ihr suchen. Wir haben zwar schon alle bekannten Stellen abgesucht, aber ich kann nicht nur im Haus sitzen.»
«Wenn wir nur diese Linda zum Reden bringen könnten», sagte Schauer leise.
«Ich weiß, auch das haben wir schon versucht. Gefleht habe ich. Die wollen einfach nicht.»
«Frau Kühn, verzweifeln Sie nicht. Es muss nicht immer gleich das Schlimmste passieren!»
Die Frau schüttelte den Kopf, wie ein trotziges Kind. «Doch, sieht man doch, überall auf der Welt geschehen schlimme Dinge.»
«Das kommt Ihnen nur so vor. Die allermeisten Kinder tauchen wieder auf. Meist haben sie nur Mist gebaut und trauen sich nicht heim. Haben Sie ein Instagram-Profil? Dann machen Sie ein kurzes Video, sagen Sie ihr, dass sie heimkommen soll, wenn sie irgendwo da draußen ist. Dass sie keine Angst vor Strafe haben soll.»
«Aber sie hat doch ihr Handy nicht!» Die Frau war kurz davor, in Tränen auszubrechen.
«Frau Kühn, heutzutage finden Kinder immer einen Weg, ihre Konten zu checken.»
«Und wenn Sie ihre Konten knacken? Sie hat doch Instagram und TikTok.»
«Wir sind schon dabei!», log Schauer, denn so einfach war das nicht. Rein rechtlich.
Ohne es absprechen zu müssen, steuerten sie auf das Haus der Herzfelds zu. Wenn Maxim diesen Berger kannte, wussten bestimmt noch mehr Kinder dieser Schule von ihm. So auch Linda.
«Ja, bitte?», fragte Herr Herzfeld.
«Wir müssen noch einmal mit Linda sprechen.»
Es war Bruch recht, dass Schauer sprach. So musste er seine Kraft nicht mit unnötigem Geschwätz verschwenden, konnte sich umsehen, das Mienenspiel der Leute beobachten.
Herzfelds Gesicht verhärtete sich. «Ich muss Sie aber ausdrücklich bitten, sie nicht auf ihr Verschwinden anzusprechen.»
Bruch sah deutlich, wie sich die Haltung seiner Kollegin wieder änderte, obwohl sie sich nach außen hin nicht bewegte. «Ich kann das nicht garantieren. Es geht schließlich darum, Celina zu finden. Wir müssen Linda ein Bild zeigen.»
«Was für ein Bild?», fragte Herzfeld. Hinter ihm öffnete sich eine Tür, seine Frau gesellte sich hinzu.
Schauer drehte den Kopf ein wenig, ohne ihn anzusehen, doch Bruch wusste, sie bat um Hilfe.
«Wir müssen Linda sprechen», sagte er. «Jetzt.»
Herzfeld zögerte, doch seine Frau reagierte. Sie drehte sich um, öffnete die Wohnzimmertür ein wenig. «Linda, komm mal.»
«Was wollen Sie ihr zeigen?», fragte sie dann.
«Ein Bild!», antwortete Schauer. «Und wir möchten es nur Ihrer Tochter zeigen. An unserem Laptop im Wagen.»
Bruch wusste, warum sie es den Eltern vorenthalten wollte, hatte dieselbe Akte gelesen.
«Wieso dürfen wir es nicht sehen?», fragte Frau Herzfeld mit einem leicht quengelnden Tonfall. Es schien ihnen nicht recht, dass sie nicht mehr die erste Opferrolle spielen konnten. Ihre Tochter war verschwunden gewesen, und ein Wunder hatte sie zurückgebracht. Nun standen andere im Mittelpunkt.
«Wir fürchten, Sie ziehen die falschen Schlüsse.»
«Wie meinen Sie das denn?», fragte Herzfeld, doch endlich kam Linda.
«Kannst du mal kurz zu unserem Auto kommen», bat Schauer das Mädchen. Linda nickte stumm.
«Zieh dir was über!», mahnte ihre Mutter, reichte ihr die Jacke, half sogar den Reißverschluss zu schließen. Linda ließ es widerwillig geschehen. Dann trat sie ins Freie, lief mit den beiden Polizisten zum BMW , ohne etwas zu sagen.
«Dieser Mann.» Schauer klappte den Laptop auf. «Kennst du den? Sag’s ehrlich!»
«Schon gesehen», sagte Linda. «An der Schule. Die Jungs sagen, der verkauft Drogen.»
«Weißt du, ob er mit Celina gesehen wurde? Hatte sie irgendwie Kontakt zu ihm? Oder hat sie mal mit dir über ihn gesprochen?»
Bruch hörte etwas und drehte sich um. Frau Herzfeld hatte sich eine Strickjacke übergezogen und war ihnen mit einigem Abstand gefolgt. Ob sie sich hatte anschleichen wollen, konnte er nicht wissen, aber sie hatte Filzpantoffeln an, und nur leises Steineknirschen hatte sie verraten.
«Wen hat sie gesehen?», fragte sie aggressiv.
«Frau Herzfeld, was Sie hier tun, ist nicht mehr nur lästig, Sie behindern die Ermittlungen.» Schauer schien sich zur Ruhe zwingen zu müssen. Bruch sah, wie es kochte in ihr.
«Das ist meine Tochter. Wir hatten genug Leid mit ihr.»
«Mama, es ist doch …»
«Sei still!», fuhr die Frau ihre Tochter an.
Schauer reichte Bruch den Laptop, trat der Frau entgegen. Bruch legte das Gerät ins Auto, damit er für den Notfall beide Hände frei hatte.
«Soweit wir wissen, haben Sie nie versucht, das Verschwinden Ihrer Tochter aufzuklären. Sie haben sich allem verweigert. Weder wurde sie von einem Arzt untersucht, noch haben Sie einen Psychologen an sie herangelassen. Alles angeblich zum Schutze Ihres Kindes. Möglicherweise haben Sie so die Aufklärung eines Verbrechens verhindert. Und das führt uns direkt zu Celinas Verschwinden. Möglicherweise hätte das dadurch auch verhindert werden können.»
Linda gab plötzlich ein seltsames Geräusch von sich und fing an zu würgen. Keuchend blieb sie, einen Moment vornübergebeugt, richtete sich dann auf, wischte sich mit dem Handrücken über den Mund.
«Sehen Sie, was Sie angerichtet haben», fauchte ihre Mutter, ihr war das ganz recht. Sie nahm Linda bei den Schultern und schob sie in Richtung ihres Hauses zurück.
«Sie müssen sich kooperativer verhalten, sonst muss ich andere Wege gehen. Notfalls müssen wir Ihre Mitarbeit erzwingen, es geht schließlich um das Leben eines Menschen», rief Schauer ihr nach.
Die Herzfeld drehte sich um, ohne ihre Tochter loszulassen. «Dann machen Sie das doch!», sagte sie wütend.
An der Haustür angelangt, stand dort ein kleines Mädchen von etwa sechs Jahren. Sie hielt eine kleine Plüschgiraffe in der Hand und sah die beiden Polizisten neugierig an.
«Luisa, geh rein!», befahl ihre Mutter, schob Linda an ihr vorbei.
«Ist Linda böse?», fragte Luisa.
«Nein, deine Schwester ist nicht böse», erwiderte Schauer.
Ihre Mutter kam zurück und fasste sie am Arm. «Luisa, rein jetzt.» Damit zog sie das Kind ins Haus und warf die Tür zu.
«Was nun?», fragte Schauer.
«Warum sagt sie das», meinte Bruch.
«Die ist eben überbesorgt.»
«Nein, ich meine das kleine Mädchen, Luisa, warum sagt sie, dass Linda böse ist.»
«Sie hat gefragt», korrigierte Schauer.
Bruch starrte auf die Stelle vor der Tür, versuchte sich die Szene genau in Erinnerung zu rufen. Müsste sie nicht fragen, ob Linda böse war? Ist Linda böse, hatte sie gefragt.
«Wie wollen wir weiter vorgehen?», fragte Schauer, und das Bild verpuffte.
«Leiten wir die Beobachtung Bergers in die Wege.»
«Willst du ihn nicht festnehmen lassen? Ein Zusammenhang ist gegeben, durch seine Vorstrafe wird der Staatsanwalt kaum zögern.»
«Falls er Celina in seiner Gewalt hat, ist sie nicht bei ihm daheim. Wenn, dann hat er sie irgendwo versteckt, und er wird es uns nicht sagen, wenn er inhaftiert ist.»
«Aber sie ist vielleicht irgendwo eingesperrt und gefesselt. Sie wird Todesängste ausstehen.»
«Sie ist noch nicht einmal vierundzwanzig Stunden weg. Es besteht keine akute Lebensgefahr für sie. Beobachten wir ihn lieber.»
Schauer trat näher an ihn heran. «Felix! Sie ist ein Kind. Und wenn sie irgendwo eingesperrt und gefesselt ist, dann steht sie Todesängste durch. Holen wir uns den Kerl.»
«Es würde nicht besser für sie. Er würde nichts sagen, denn würde er sagen, wo sie ist, wäre er überführt. Beobachten wir ihn, wohin er sich bewegt, was er tut.»
«Und mit wir meinst du uns?»
«Nein, andere sollen das tun. Wir befragen die Kinder in der Nachbarschaft. Jedes Kind. Bestimmt kennen sie ein paar Verstecke in der Umgebung, die kein Erwachsener kennt.»
Die nächsten zwei Stunden brachten nur eine Erkenntnis: Stadtkinder kannten keine Verstecke. Die meisten Bewohner dieser Siedlung waren erst vor wenigen Jahren hierhergezogen, hatten all ihre Stadtgewohnheiten behalten, zu denen auch gehörte, dass Kinder, zumindest die jüngeren, fast überallhin mit dem Auto gebracht wurden. Dass sie nicht allein draußen herumziehen sollten und auch gar keine Lust dazu hatten. Keines der befragten Kinder kannte die Umgebung als bis gerade zur Grenze der Siedlung genauer. Mit den Kindern der Alteingesessenen gab es fast ebenso wenig Kontakt, wie auch die Erwachsenen untereinander hatten, sie gingen sogar in verschiedene Schulen.
«Wir müssten herausfinden, ob Celina außer Linda noch mehr Freunde in der Siedlung hatte», schlussfolgerte Schauer. Sie musste sich eingestehen, dass sie keine Lust mehr hatte. Bestimmt suchten sie ganz an der falschen Stelle, befürchtete sie. Immerhin war man mit dem Bus in wenigen Minuten in Dresden und noch ein paar Minuten später im Stadtzentrum. Konnte es nicht sein, dass Celina einfach ausgerissen war, sich in der Stadt herumtrieb. Sie wäre nicht das erste Kind, das mit zwölf auf die Straße geriet. Wegwollte. In Städten wie Hamburg, Frankfurt oder Berlin sah man gar nicht mehr hin, so viele gab es, die auf der Straße lebten. Mochte es erst eine lustige Idee sein auszureißen, wurde es immer schwieriger zurückzukehren, je länger man wegblieb. Der Stolz war im Weg und die Angst vor der Strafe.
«Was nun?», fragte sie und kam sich bescheuert vor. Als müsste sie ihn um Hilfe bei der Entscheidung bitten. Es war Feierabend. Sie hatte alles getan, was an diesem Tag möglich war. Mehrere Hundert Leute suchten nach Celina. Noch dazu die Anwohner, die sich den Suchtrupps anschlossen. Sicher waren sie besorgt um das Kind, aber ein bisschen war es auch Abenteuer und auf jeden Fall eine Abwechslung, und wer wäre nicht gern derjenige, der sie fand. Ein Held.
«Dienstschluss», sagte Bruch und hatte damit offenbar so lange gewartet, bis sie ihre Gedanken beendet hatte. Meinte Simon das, als er andeutete, dass Bruch jemand Besonderes war, oder wie hatte er sich ausgedrückt? Gab’s nicht diese Leute, die in den Gesichtern anderer lesen konnten wie in einem Buch? Ein Superrecognizer, nein, ein Menschenleser.
Aber gab es auch jemanden, der ihn lesen konnte?