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Was für ein seltsamer Tag, dachte sie, als sie die Wohnungstür hinter sich schloss. Ein paar Augenblicke blieb sie im dunklen Flur stehen, betrachtete die Bilder vor ihrem inneren Auge. Dann tastete sie nach dem Lichtschalter. Sebastian hatte ihr die Wohnung gelassen. Immerhin, feiner Kerl, in der Beziehung. So richtig darüber freuen konnte sie sich nicht. Sie hatten sich diese Wohnung gemeinsam gesucht. Einfach war es nicht gewesen. Schöne Wohnungen in guten Stadtvierteln waren knapp und teuer. Striesen hieß das Viertel hier. Sebastian hatte darauf bestanden hierherzuziehen. Wie ein Schachbrett fast lag das Viertel, sanierte Altbauten, große Bäume überall. Viele Kinder, wäre es nach ihr gegangen, hätte es noch eines mehr werden können. Es ging aber nicht nach ihr. Ein angrenzender Park, kurze Wege in die Stadt. Ihre Wohnung war eine Dreizimmerwohnung, eigentlich zu groß für sie, ein Zimmer zu viel. Doch da Zweiraumwohnungen nicht viel billiger waren, konnte sie auch hierbleiben. Hübsch hatten sie es sich hier gemacht. So hübsch, dass es schon wieder langweilig war. War ja auch niemand da, der das wertschätzte. Helle Räume, weiße Möbel, auf antik gemacht. Hübsche Couch, Paisleymuster. Ein paar teure Grünpflanzen, aus dem Gartenmarkt, die besser ein wenig Selbsterhaltungswillen mit sich brachten. So schön war das alles, dass es sie schon manchmal anwiderte, denn es sah aus wie aus der Werbung, aber machte keineswegs glücklich, wie es die Leute in der Werbung immer darstellten. Man müsste eine Warnung hinzufügen, wie bei den Zigaretten oder bei Finanzanbietern. Achtung, die Darstellungen der Personen können stark von der Realität abweichen. Natürlich hatte sie das schon bei der Einrichtung der Wohnung gewusst. Sie sah ja genug in ihrem Job. Sie ärgerte sich nur über sich selbst, wie konnte sie nur geglaubt haben, bei ihr wäre es anders. Eine Katze hätte sie gern, doch dafür wohnte sie viel zu hoch, dritter Stock. Dafür hatte sie eine gute Aussicht von ihrem Balkon und eine Menge Vogelgezwitscher. Es konnte schlimmer sein. Im Wohnzimmer schaltete sie den Fernseher an, damit es nicht so still war. Das war Selbstbetrug, wusste sie. Aber es half. Deshalb betrog man sich ja. Für den schlimmsten Notfall hatte sie noch was im Kühlschrank. Obwohl sie eigentlich keinen Alkohol trinken sollte.

Endlich konnte sie sich ausziehen, die Jacke, die sie den ganzen Tag getragen hatte, die Hose. Untenrum nur im Slip, ging sie in die Küche, um zu sehen, was der Kühlschrank noch für Überraschungen in sich barg. Salat war im Gemüsefach. Aber sie hatte keine Lust, ihn anzurichten. Genau genommen hatte sie keine Lust, ihn zu essen. Sie griff nur immer automatisch danach im Supermarkt, auch fürs Gewissen. Sie hätte jetzt Appetit auf irgendwas Fettes. Pizza könnte sie bestellen. Doch irgendwie war das auch deprimierend, den armen Typen die ganze Treppe für eine Pizza hochzujagen, nur damit er sich dann mit einem Augenzwinkern verabschieden konnte.

Ess ich eben Knäckebrot, dachte sie, riss eine neue Packung auf, richtete es sich mit Frischkäse und Schinken an und legte noch ein paar Tomaten dazu. Dann ging sie ins Wohnzimmer, setzte sich auf die Couch, sie lehnte sich zurück, legte die Füße auf den Tisch. Im Fernsehen liefen gerade Nachrichten, und das war ja etwas, das sie jetzt in diesem Moment überhaupt nicht brauchte. Sie griff nach der Fernbedienung, beließ es dann aber dabei, denn es wurde von ihrem Fall berichtet. Sie hielt sich den Teller unters Kinn und biss vom Knäckebrot ab, kaute zweimal. Dann stöhnte sie, nahm doch die Fernbedienung und stellte lauter.

Die Reporterin war vor Ort in Goppeln, es musste ein Beitrag vom Nachmittag sein. Schauer sah im Hintergrund die erste Häuserreihe der Wohnsiedlung, sogar ihren Dienstwagen sah sie dort stehen. «Die Polizei sucht mit zwei Hundertschaften das Gelände ab, Hubschrauber mit Wärmesensoren überfliegen Goppeln und die umliegenden Ortschaften», sprach die Reporterin ins Mikrofon. Sie vergaß zu kauen, wartete gespannt, ob sie und Bruch auch ins Bild geraten waren.

«Inzwischen wurde auf allen sozialen Medien ein Suchaufruf gestartet», berichtete die Reporterin aus dem Off, während eine Videobotschaft der Kühns abgespielt wurde.

«Celina, falls du das siehst, komm nach Hause, wir vermissen dich sehr», sprach Frau Kühn, dann brach ihr die Stimme, und obwohl sie bestimmt hatte mehr sagen wollen, war das Video schon zu Ende.

«Unterdessen zeigen sich die Nachbarn sehr solidarisch. Parallel zur Polizei suchen sie die Umgebung ab.»

Eine der Frauen aus der Nachbarschaft der Kühns wurde eingeblendet. «Wir sind natürlich sehr besorgt. Wir sind ja alle Eltern, haben ja alle Kinder hier, und es bewegt einen schon sehr zu sehen, wie alle mitmachen», sprach sie zur Reporterin.

«Die Polizei will sich zu dem Fall nicht konkret äußern, es wird in alle Richtungen ermittelt, kommentierte ein Sprecher der Polizei», äußerte sich die Reporterin weiter.

Nun setzte sich Schauer gerade hin, hörte auf zu kauen, denn der alte Mann wurde eingeblendet, auf den Bruch sie heute schon aufmerksam gemacht hatte. Er war recht groß, mit fülligem Bauch, hatte weißes Haar, er mochte weit über siebzig Jahre alt sein. Für das Wetter schien er zu dünn gekleidet.

«Ich seh die Kinder immer spielen», sagte er, «und vor zwei Jahren gab es ja schon einmal so einen Fall hier, da kam das Kind zum Glück wieder heim. Ich kann die Sorge der Eltern sehr gut nachvollziehen, deshalb habe ich die Suche mitorganisiert. Als Einheimischer kennt man sich doch besser aus als die Hinzugezogenen.» J. Jolisch, Nachbar, stand am unteren Bildrand geschrieben.

«Zwei Jahre zuvor», nahm die Sprecherin den Faden auf, «war ein zehnjähriges Mädchen aus derselben Siedlung verschwunden, tauchte nach zwei Wochen äußerlich unversehrt wieder auf, ohne dass die Polizei herausfinden konnte, was mit ihr geschehen war. Nun gilt es herauszufinden, ob diese beiden Fälle auf irgendeine Art in Verbindung stehen. Die Suche nach dem vermissten Kind wird unterdessen fortgesetzt.»

Bruch stellte seinen Wagen auf dem erstbesten Parkplatz ab, den er fand. Direkt vor seinem Block eine Lücke zu finden, war ein Glücksfall. Deshalb ersparte er sich das unnötige Gesuche. Er stieg aus, warf die Tür zu. Der BMW piepte, als die Zentralverriegelung schloss. Vom Dönerladen auf der anderen Straßenseite sah eine Gruppe junger Männer zu ihm herüber. Syrer, Afghanen, er wusste es nicht. Sie waren immer da. Der Dienstwagen passte nicht ganz in das übliche Bild hier im Plattenbauviertel Gorbitz. Im Gegenteil, nur selten verirrten sich Fahrzeuge dieser Preisklasse hierher, nicht selten mussten sie dann mit tiefen Kratzern oder zerstochenen Reifen dafür büßen. Seit Michael tot war, hatte er sich angewöhnt, mit dem BMW heim und zur Arbeit zu fahren, obwohl er selbst ein Auto besaß, das nun schon seit Monaten unbewegt auf dem Parkplatz stand, ein älterer schwarzer Golf Kombi.

Bruch wohnte seit einigen Jahren hier im größten Neubaugebiet Dresdens, das in den Siebzigern aus dem Boden gestampft wurde, um der Wohnungsnot der DDR Herr zu werden. Damals heiß begehrt, waren die Wohnungen jetzt letzte Station Gescheiterter jeglicher Art, Immigranten und einiger weniger Übriggebliebener. Es war nicht ratsam, nachts allein unterwegs zu sein. Es war nicht ratsam, etwas Teures im Auto liegen zu lassen, und auch nicht, sich persönlich bei seinen Nachbarn über den Lärm zu beschweren.

Es war nicht überall im Viertel so schlimm, weiter oben hatten sie die Häuser einige Etagen zurückgebaut, Wohnungen teuer saniert. Hier aber, wo er wohnte, hatten sich Plastiktüten im Gebüsch verfangen, lag zerbröseltes Styropor wie Schnee auf der Wiese, waren die Klingelschilder angeschmolzen und die Wände besprüht.

Bruch machte das alles nichts aus. Er hatte, was er wollte, eine günstige Wohnung und, trotz all der lauten Menschen um sich herum, seine Ruhe. Niemand sprach ihn an, niemand klingelte. Und niemand rührte den BMW an.

Er warf einen langen Blick auf die jungen Männer am Dönerladen. Bestimmt ahnten sie, was er war, und bestimmt hatte sich herumgesprochen, dass man sich in diesem Falle gegenseitig in Ruhe ließ. Er sah über die Wohnungen voller nicht gemeldeter Personen hinweg, den Grasgeruch aus manchem Fenster, die aufgebrochenen Autos und Briefkästen, den übermäßigen Lärm, der nachts aus mancher Wohnung dröhnte, die Autorennen, die sich hier am Wochenende manchmal geliefert wurden. Dafür belästigte man ihn nicht, und der Wagen blieb heil, egal welche Begehrlichkeiten er bei dem einen oder anderen weckte.

Jetzt betrat er das Treppenhaus. Er schaltete das Licht nicht an, obwohl es inzwischen richtig finster wurde, ignorierte seinen Briefkasten, begann die Treppen hinaufzusteigen. Diverse Gerüche umfingen ihn, Essensgeruch verschiedenster Kontinente, Geruch von Schuhen, die auf den Treppenpodesten herumlagen. Hundegeruch, Altemenschengeruch. Der Kellerabgang schien ein unendlicher Quell latenten Uringestanks zu sein. Im ersten Obergeschoss tönten Schießgeräusche. Der junge Mann, der dort wohnte, hatte die wirkliche Realität längst aufgegeben, lebte von staatlicher Hilfe, wurde immer fetter, und wenn ihm eines Tages die Möglichkeit geboten wurde, sich virtuell beim Jobcenter zu melden, würde er gar nicht mehr aus dem Haus gehen. In der Zweiten wohnten links ein junges Russenehepaar, aber immer war die Wohnung voller Leute, ihnen gegenüber eine junge Frau, die zwar dem Drogensumpf entkommen war, doch nur, um nun ihr Dasein mit zwei Kindern, immer hart an der Armutsgrenze, zu fristen. Verbraucht sah sie aus. Ausgelaugt, wie eine Greisin, obwohl sie höchstens Mitte dreißig war, sie grüßte nie, weil sie zu scheu war, zwang sich, ihre Kinder zu lieben. Wie viele Menschen mochten ihr geholfen oder sie gezwungen haben, ihrer Sucht zu entfliehen, damit sie jetzt mit diesem Leben bestraft wurde?

Über ihr, in der Dritten, ein alter Mann, an die neunzig. Er war fast taub, ihn störte das Geschrei der Kinder nicht. Er rauchte, das roch man im ganzen Haus. Bruch sah ihn höchstens einmal im Monat. Wenn er irgendwann starb, würde es wochenlang niemand bemerken, denn sein Fernseher lief ununterbrochen.

In der Vierten wohnte ein junger Mann, der nur nachts die Wohnung verließ. Vermutlich nur ein Spinner, vielleicht heckte er etwas aus. Ging auf Raubzug oder folgte Frauen und malte sich aus, wie es wäre, sie ins Gebüsch zu zerren, und wagte es doch nie.

Bruch wohnte in der Fünften, ihm gegenüber eine fünfköpfige syrische Familie. Sie beäugten ihn misstrauisch, wussten sicherlich, dass er Bulle war, und glaubten, er wohnte wegen ihnen hier, um sie zu beobachten. Wenn er ihnen gelegentlich begegnete, senkten sie die Blicke, selbst die Kinder, ließen ihn stumm passieren und beteten wohl, er möge seine Aufmerksamkeit nicht auf sie richten.

Oben angelangt schloss Bruch seine Wohnung auf. Er betrat sie, schloss die Tür hinter sich, ließ das Licht vorerst aus, obwohl der Flur fensterlos war und nur ein schmaler trüber Lichtstreif anzeigte, wo die Wohnzimmertür einen Spalt offen stand. Für einen Moment, so tat er es immer, lehnte er sich an die Wohnungstür. Hier war Ruhe. Keine völlige Ruhe, nein, er hörte alles in diesem Haus, selbst die Frau ganz unten im Erdgeschoss, die sich Mühe gab, ihren Mann leise zu verprügeln. Hier aber war er in seiner Blase, seinem einzigen wirklichen Rückzugsort. Hierher kam niemand. Hier war er für sich.

Er vernahm ein leises Geräusch, leises Tapsen. Aus dem Wohnzimmer kam die Katze. Sie schlängelte sich durch den schmalen Spalt in der Tür. Sie ließ ihm diese ersten Sekunden. Jetzt kam sie und strich ihm um die Beine. Als Nächstes würde er in die Küche gehen müssen, eine Dose Katzenfutter öffnen, ihr zu fressen geben, das Wasser wechseln. Drei Jahre war sie bei ihm, nein, vier. Er hatte keinen Namen für sie.

Nachdem er seine Jacke ausgezogen und seine Schuhe abgestreift hatte, kümmerte er sich um die Katze. Dann öffnete er seinen Küchenschrank. Er besaß nicht viel. Ein paar Teller und Tassen, ein paar Gläser, Besteck. Aus dem Küchenschrank nahm er wahllos eine Fertigmahlzeit, riss die Packung auf, stellte sie in die Mikrowelle. Die nächsten Minuten nutzte er, den Fernseher anzuschalten, ins Bad zu gehen, um sich zu erleichtern. Die Katze fraß, sah kurz auf, als er zurückkehrte. Grau getigert war sie, mit gelben Augen. Sie folgte seinen Schritten, obwohl es jeden Tag dieselben waren.

So karg wie seine Küche war die gesamte Wohnung. Grünpflanzen besaß er nicht. Die Räume waren spärlich möbliert: im Wohnzimmer eine Couch, in schlichtem Grau, pflegeleicht. Ein niedriger Tisch davor. Ein Schrank, in dem die nötigsten Papiere waren. Keine Bilder an den Wänden. In seinem Schlafzimmer gab es ein Bett, einen Kleiderschrank. Darin auch nur das Nötigste: Unterwäsche, Hosen, Hemden. Seit er hier wohnte, hatte er nicht das Bedürfnis gehabt, irgendetwas zu verschönern oder zu verbessern. Eigentlich nicht erst, seit er hier wohnte. Schon immer. Es hatte nur lange Zeit, hier allein in der Wohnung, benötigt, das zu verstehen.

Als er im Bad fertig war und sich die Hände wusch, hielt er plötzlich inne. Er hob den Kopf und sah in den Spiegel. Das vermied er sonst, sich selbst zu betrachten. Manchmal hatte es den Anschein, als tat das Spiegelbild nicht ganz dasselbe wie er. Er hob seine Hand, langte nach dem Griff der Spiegelschranktür, öffnete sie. Auch hier nur die wichtigsten Dinge: Zahnputzzeug, Rasiergerät, Seife. Und eine Tablettendose. Die nahm er.

Das Etikett war abgegriffen. Es war noch immer dieselbe Dose, die er vor einiger Zeit bekommen hatte. In einem kleinen Paket. Nachschub kam in kleinen verschweißten Tüten. Kleine weiße Tabletten. Sie waren gut für ihn. Brachten ihn über den Tag. Verhinderten das Schlimmste. Er öffnet die Dose, hielt dann aber inne. Falsch war das, die falsche Zeit. Er hatte heute Morgen seine Tablette genommen. Eine sollte er am Tag nehmen, nicht zwei. Trotzdem schüttelte er sich eine aus der Dose auf die offene Handfläche. Lange sah er sie an. Betrachtete sie, ohne zu denken. Nichts war in seinem Kopf, nur das Bild von diesem kleinen runden weißen Ding, das so viele chemische Reaktionen auslöste oder unterdrückte, an dem so viele Leute geforscht hatten, um jemandem wie ihm zu helfen, und die nicht mal im Ansatz verstanden, was dann im Kopf vor sich ging. Welches war seine wahre Natur, fragte er sich an guten Tagen. Die, die zutage kam, wenn er die Tablette ausließ, oder dieser Zustand, der eintrat, wenn er sie nahm? Wer war er, fragte er sich, doch ganz emotionslos, nicht verzweifelt, ganz frei von Pathos. Wer war er denn?

Er spürte eine Bewegung, sah nach links unten, wo die Katze in der Tür saß. Es war ihr fremd, dass er so lang dastand. Sie sah ihn an. Ihm in die Augen. Bruch tat die Tablette zurück, schloss die kleine Dose, stellte sie zurück.

Das Essen in der Mikrowelle war bereits fertig, er hatte das Klingeln überhört. Er nahm die Assiette heraus, noch eine Gabel aus dem Besteckfach, dann setzte er sich auf die Couch, aß nur mit der Gabel, vornübergebeugt, ohne richtig zu registrieren, was er überhaupt aß, in der Linken hielt er die Fernbedienung, schaltete durch die Programme. Starrte dabei den Fernseher an. Die Katze, an das stetige Flackern längst gewöhnt, war auf das andere Ende der Couch gesprungen, rollte sich zusammen, bedeckte ihr Gesicht mit dem Schwanz und schloss die Augen.

Bruchs Daumen bewegte sich unmerklich, drückte und drückte die kleine schwarze Taste, die schon ganz abgenutzt war, ihre Beschriftung längst abgerieben. Plötzlich hielt er inne. Das zweite Mal an diesem Abend überraschte er sich, indem er aus seinen Gewohnheiten brach. Er legte die Fernbedienung und die Gabel ab, erhob sich. Die Katze hob den Kopf, sah ihn an. Nicht so sehr als wunderte sie sich, eher als schaute sie, was nun geschehen würde. Nicht wirklich interessiert, eher unbeteiligt. Wie ein Polizist, der zum Observieren einer Person eingeteilt war. Und manchmal, an seinen schlechteren Tagen, glaubte er das sogar. Dass sie hier war, um ihn zu beobachten.

Heute aber wusste er, dass das Blödsinn war. Dafür aber war ihm, als hätte jemand nach ihm gerufen. Ganz leise nur. Er wusste, das konnte nicht sein. Das wusste er genauso, wie er wusste, dass die Katze nicht zu seiner Beobachtung hier war. Aber trotzdem glaubte er, etwas gehört zu haben. Es konnte nicht schaden nachzusehen, dachte er sich, und das erste Mal am Tag geriet er in wirkliche Zweifel. Sonst zweifelte er nie. Die Dinge, die zu tun und zu sagen waren, ließen keinen Raum für Zweifel. Er trat hinter dem Tisch hervor, steuerte auf die Wohnzimmertür zu, verharrte, lauschte in den Flur. Die Katze hatte ihren Kopf ein wenig gedreht, sah ihn an, sah ihm in die Augen.

Nichts, er hörte nichts. Was er gehört hatte, musste ihm sein Geist vorgegaukelt haben. Trotzdem trat er durch die offene Tür, fand sich im dunklen Flur wieder, hielt inne und lauschte in Richtung des dritten Zimmers, dessen Tür immer verschlossen blieb.

Bis zu ihr waren es jetzt nur noch zwei Meter. Er fand sich wieder, die Klinke in der Hand, wusste nicht, wie das geschehen war. So stand er lang. Sehr lang. Er wusste, er durfte dem Drang nicht nachgeben, den Illusionen, die sein Gehirn manchmal für ihn bereithielt. Er durfte den Schlüssel nicht drehen, die Klinke nicht niederdrücken. Durfte nicht in das Zimmer sehen. Er hatte nichts gehört, sich nur etwas eingebildet. Sein Unterbewusstsein wollte ihn überlisten, wollte ihn verleiten.

Er senkte seinen Blick, betrachtete seine Hand, die Finger fest um die Klinke geschlossen, so fest, dass sie ganz weiß wurden und die Hand zu zittern begann. Dann drehte er hastig seinen Kopf. Die Katze war ihm nicht nachgelaufen. Trotzdem blieb das Gefühl, jemand hätte ihn beobachtet. Er ließ die Klinke los, machte drei, vier hastige Schritte, warf einen Blick ins Wohnzimmer, wo das Tier auf der Couch lag wie zuvor.

Wieder stand er still. Wie eingefroren. Zu viele Optionen, die sich ihm gleichzeitig auftaten. Im Spiegelschrank standen die Tabletten. Er könnte doch eine nehmen, dann würde er klarer denken. Die Tabletten schalteten all das Überflüssige aus, das Falsche, das Eingebildete. Doch auch das durfte er nicht übertreiben. Sein Verstand beschritt einen schmalen Pfad, er durfte nicht aus der Balance geraten. Aus dem verschlossenen Zimmer hatte ihn die Stimme gerufen. Die Couch lockte mit dem Versprechen, den gewohnten Zustand wiederzufinden.

Bruch entschied sich für sie. Heute hatte er genügend Kraft, sich allem anderen entgegenzustellen. Doch er fürchtete, das nächste Intervall rückte näher. Es würden Tage kommen, in denen er der Stimme nicht widerstehen konnte, wenn sie ihn rief. Was würde er dann sehen, öffnete er die Tür? Jedenfalls nichts, das ihm guttat. Er ging wieder zur Couch, setzte sich. Er fühlte weder Stolz, dass er sich hatte überwinden können, noch die Enttäuschung der unbefriedigten Neugier. Er saß nur wieder, nahm die Gabel, aß weiter das Essen, das so kalt geworden war, als hätte er nicht Minuten im Flur verbracht, sondern eine Stunde oder länger. Er nahm die Fernbedienung, begann wieder durch die Programme zu schalten. Zweiundsiebzig hatte er. Und wenn er hinten angelangt war, schaltete er zurück auf die Eins und begann wieder von vorn. Er suchte. Er wusste nicht wonach. Nur, dass er suchte.