Schauer versuchte sich gelassen zu geben. Zehn Kollegen saßen hier. Sieben Männer, drei Frauen. Außer Simon und Buchholz kannte sie noch niemanden. Da sie zu früh da gewesen war und sich als Erste in dem Raum gesetzt hatte, waren ihr die Ganggespräche draußen entgangen und bestimmt auch die Gelegenheit, Kontakt zu knüpfen. Zwar hatten sie alle mit freundlichem Hallo oder Guten Morgen gegrüßt, aber gesprochen hatte sie keinen. Und es musste wohl Zufall sein, dass die Stühle direkt neben ihr alle frei geblieben waren. Die Dienstbesprechung lief schon zehn Minuten, als Bruch kam. Ohne ein Wort zu sagen, ohne sich zu entschuldigen oder jemanden zu grüßen, setzte er sich auf den erstbesten freien Platz, anstatt, wie sie gehofft hatte, neben sie. Toll, dachte sie, wirklich toll, da wären wir wieder auf Start, gehen Sie nicht über Los, sondern direkt durch die Hölle.
Bruch sah nicht gut aus. Noch schlechter als gestern. Als hätte er die ganze Nacht nicht geschlafen. Vielleicht gab er sich ja nur so hart und machte sich doch Gedanken, wo das Mädchen sein könnte.
Simon ging mit keiner Silbe auf Bruchs Zuspätkommen ein. Er hatte stehend vor der Videoleinwand von seinem Zettel vorgelesen, kurz gewartet, bis Bruch saß, und dann einfach fortgesetzt.
«Die Suche wird also erweitert, wir bekommen noch einmal hundert Leute von der Bereitschaft dazu. Die müssen richtig eingewiesen werden. Das Suchgebiet wird hauptsächlich in den ländlichen Bereich vergrößert.» Er zeigte entsprechende Gebiete auf dem Satellitenbild auf der Projektionswand an. «Des Weiteren sind die Kollegen von der Autobahnpolizei instruiert, sämtliche Rastplätze und Tankstellen zu kontrollieren. Aufgrund der Nähe zur Autobahn besteht der Verdacht, Celina Kühn könnte sich als Anhalterin abgesetzt haben oder als blinder Passagier auf einem Lkw. Auch die tschechische Polizei ist informiert. Die Innenstadt fällt in Ihren Bereich, Schmidtke. Sie und Ihr Team suchen dort die üblichen Plätze auf.»
Eine der Frauen, eine untersetzte Person von etwa vierzig Jahren, mit sehr kurzen Haaren, nickte. Sie machte einen burschikosen Eindruck, trug Jeansklamotten. «Ist nicht so leicht zurzeit, wegen dem beschissenen Wetter ist kaum jemand draußen», kommentierte sie in breitem Sächsisch.
Simon nickte, wollte schnell fortfahren. Er beugte sich zu seinem Tisch, klickte auf seinem Laptop herum. Bergers Bild erschien. «In Sachen Sven Berger. Dieser Mann heißt eigentlich Jens Bürger, saß vier Jahre wegen schwerer sexueller Nötigung und versuchtem Totschlag. Das Gericht konnte ihm damals nur die mehrfache Vergewaltigung seiner Lebensgefährtin nachweisen. Es besteht jedoch der Verdacht, dass er sich auch an ihrer damals vierzehnjährigen Tochter vergriffen hat. Die aber ist irgendwann abgehauen und nicht auffindbar gewesen.»
«Gewesen?», fragte Schauer.
Simon sah auf, alle anderen sahen sie an.
«Soweit ich das sehe, gibt es noch immer keinen Hinweis auf ihren derzeitigen Aufenthaltsort. Wir gehen dem Vorschlag Hauptkommissar Bruchs nach, lassen den Mann beobachten. Bisher verhält er sich unauffällig, blieb den ganzen restlichen Tag und die Nacht in seiner Wohnung. Der Garten eines Freundes von ihm wurden ohne sein Wissen durchsucht, ohne Ergebnis.»
Was soll’s, dachte sich Schauer, haben mich ja sowieso schon alle angeglotzt. «Gibt es nicht ein Mittel, Familie Herzfeld und vor allem ihre Tochter Linda zu vernehmen? Es ist doch nicht von der Hand zu weisen, wie wichtig ihre Aussage jetzt sein könnte, lebenswichtig sogar!»
Simon nickte wieder. «Ein schwieriges Thema. Die Kollegen von der Vermisstenstelle hier und beim BKA könnten ein Lied davon singen.»
Alle im Raum nickten. Tja, Schauer war damals nicht dabei gewesen. Wäre schön gewesen, der Idiot hätte sich neben sie gesetzt und könnte sie aufklären. Stattdessen saß sie hier ganz allein.
«Können Sie das bitte konkretisieren?», fragte sie, bemüht, ihre aufkommende Aggression zu unterdrücken.
«Dazu wollte ich gerade kommen. Familie Herzfeld hat beim Verschwinden ihrer Tochter Linda vor zwei Jahren in kürzester Zeit alle Knöpfe gedrückt, die es zu drücken gab. Sie wurden nicht müde, von der ersten Minute an die Unfähigkeit der Polizei anzuklagen. Jede Maßnahme war ihnen zu lasch und zu wenig. Sie gingen zur Presse, da war das Kind noch nicht einmal zwölf Stunden weg, da waren noch nicht einmal alle Kontaktpersonen geprüft. Ganze achtmal erstatteten sie Dienstbeschwerde. Sie trommelten über alle Kanäle Leute zusammen. Suchtrupps könnte man sagen. Aber das geriet ihnen ein wenig außer Kontrolle, da waren Leute aller Couleur dabei: Rechte, Hooligans, besorgte Bürger, mit Schreckschusspistolen, Luftgewehren, und einer hatte sogar eine Machete. Die Polizei hatte plötzlich mehr damit zu tun, diese Leute unter Kontrolle zu halten, als das Kind zu suchen. Die zogen durch die Gegend, verlangten willkürlich Einlass in Häuser, die ihnen verdächtig erschienen. Ein Mann wurde sogar schwer verletzt. Er kam ihnen verdächtig vor, als er von der Nachtschicht heimkam, da griffen sie ihn an. Als Linda dann gefunden wurde, oder besser gesagt, wiederauftauchte, zogen sich die Herzfelds ganz schnell zurück. Sie sagten, das Kind wäre traumatisiert, aber sie wollten es keinem Arzt anvertrauen, keine Psychologen zurate ziehen, wollten weder unsere Hilfe in Anspruch nehmen noch die, die ihnen von Opferverbänden angeboten wurde.»
«Es weiß also wirklich niemand, was mit dem Kind damals geschehen ist. Nicht einmal, ob sie verletzt oder sexuell missbraucht wurde?», fragte Schauer.
«Es gab keine Handhabe, die Eltern zu zwingen, einer solchen Untersuchung zuzustimmen.»
«Natürlich, wenn das Wohl des Kindes gefährdet ist», unterbrach Schmidtke ihn entrüstet. «Dafür gibt es Leute vom Jugendamt. Das Kind hätte untersucht werden müssen!» Mit finsterem Blick nickte sie Schauer zu.
Simon verzog das Gesicht. «Karo, du warst damals nicht dabei. Alle waren froh, dass da Ruhe reinkam. Die Mutter von Linda sagte damals aus, sie hätte sich ihre Tochter angesehen, sie wäre an entsprechenden Stellen gänzlich unversehrt, es gab keine Hämatome, keine äußeren Verletzungen und auch keine Anzeichen für ein gewaltsames Eindringen in Scheide und Anus.»
Das genügte Schmidtke nicht. «Aha, und das konnte sie wissen, ist sie Ärztin?»
«Wird deshalb jetzt mit solch großem Aufwand gesucht», fragte Bruch. Das völlig unerwartete Erklingen seiner Stimme veranlasste alle, sich nach ihm umzusehen. Eine ganz seltsame Stille entstand. Stiller als still.
Simon sah ihn fragend an. «Wie meinst du das?»
Bruch erwiderte den Blick ein paar Momente länger als nötig. «Um einem solchen Szenario vorzubeugen.»
Simon wendete sich stöhnend ab. «Ihr wisst selbst, in der heutigen Zeit ist ein Shitstorm schneller entfacht als ein Waldbrand im Hochsommer. Da das Verschwinden des Kindes so schnell öffentlich bekannt wurde, sahen wir uns gezwungen, sofort mit allen Mitteln vorzugehen. Vor allem auch, damit die Truppen von damals nicht wieder auf der Bildfläche erscheinen. Ich für meinen Teil halte das für nicht gerechtfertigt. Ich denke, das Kind ist ganz einfach abgehauen.»
«Was glauben Sie denn, was mit Linda damals geschehen ist?», fragte Schauer, zwang Simon damit, seinen Kopf wieder ganz in die andere Richtung zu drehen.
Er zögerte mit der Antwort. «Ich denke, Linda ist damals auch einfach nur ausgerissen. Und es war den Herzfelds peinlich, als sie wieder auftauchte.»
«Zwei Wochen lang?», quiekte Schmidtke zynisch. «Eine Zehnjährige?»
Simon hob die Schultern. «Hat jemand noch Vorschläge, Ideen?»
«Was ist mit diesem Jolisch?», fragte Schauer. Sie hatte das mit Bruch allein besprechen wollen. Doch eigentlich gab es keine Veranlassung für Geheimniskrämerei oder gar Vertrautheit mit dem Kerl.
Simon konnte ihr sogar weiterhelfen. «Jochen Jolisch heißt der Mann, sechsundsiebzig Jahre alt, früher Landwirt. Er ist früh verwitwet, hat zwei erwachsene Kinder, mehrere Enkel. Er half damals auch bei der Suche nach Linda. Zeigt sich sehr engagiert. Auch jetzt, haben Sie sicher gestern im Fernsehen gesehen. Er hat jedoch damals sehr mäßigend auf die Herzfelds eingewirkt und sich auch gegen diese Bürgermiliz gestellt. Die waren übrigens auch in sein Haus eingedrungen, hatten Keller, Dachboden, auch seine Scheune und den Schuppen durchsucht und dabei auch einigen Schaden angerichtet.»
«Welches Interesse könnte er haben, sich so bei der Suche einzubringen?», fragte Schauer.
Simon sah sie verdutzt an und lachte dann auf. Schauer verstand nicht. «So eine Frage hätte ich von Felix erwartet», fügte er erklärend hinzu und brachte damit fast alle zum Lachen. «Er will eben helfen, ein vermisstes Kind zu finden.»
Schauer atmete durch, sah in die Runde, bis auch das letzte Grinsen verschwunden war. Dann hob sie den Daumen. «Er hat doch keinerlei Bezug zu den Kindern, er ist ein alter, alleinstehender Mann. Will er sich wichtigmachen?» Jetzt streckte sie den Zeigefinger aus. «Hat er etwas gutzumachen?» Jetzt den Mittelfinger. «Ist er einsam, sucht Gesellschaft? Oder …» Sie hob den Ringfinger und sprach es nicht aus.
«Vielleicht all das gleichzeitig!?», bot Simon als Antwort an. «Zumindest die ersten drei Punkte. Man muss ja nicht immer misstrauisch sein. Es gibt auch gute Menschen.»
Gute Menschen! Was sollen wir denn jetzt tun?, wollte Schauer als Nächstes fragen. Wenn schon Hunderte Leute nach dem Kind suchen, wenn die Herzfelds nicht sprechen wollen, wenn Berger beobachtet wird. Bruch verhinderte das, indem er sich erhob.
«Wir sind fertig», sagte er, und es war eindeutig keine Frage.
«Moment!», sagte Simon.
Bruch, der schon fast an der Tür war, blieb stehen.
«Folgendes ist passiert.» Wieder beugte er sich vor, schaltete auf das nächste Bild. Es war eine Zeichnung von einem Gesicht, eine ganz schlichte Skizze, ein Phantombild. Es deutete die Kopfform an, den Sitz der Augen, die Frisur, die schmale Nase mit dem leichten Knick. Schauer konnte dennoch auf Anhieb Sven Berger erkennen.
«Dieses Bild tauchte gestern in den sozialen Medien auf, mit der Bildunterschrift: Wer hat diesen Mann gesehen? Facebook, Instagram, Twitter, Snapchat. Es wurde von einer Facebookseite gepostet, die bekannt ist dafür, Bilder vermisster Kinder oder meistens sehr ungenaue Täterbeschreibungen zu veröffentlichen, aber auch radikale Maßnahmen gegen straffällige Sexualtäter zu fordern. Von dort breitete sich das Bild über Nacht auf die anderen Kanäle aus. Wir haben intern nach diesem Phantombild gesucht, aber es scheint nicht aus Polizeibeständen zu kommen. Genau genommen hat es von Berger nie ein solches Phantombild gegeben. Wir prüfen derzeit noch, woher das Bild eigentlich stammt, ob es Zufall ist, dass dieses Bild jetzt auftaucht.»
«Kein Zufall», sagte Bruch. «Es stammt von den Herzfelds.»
«Ach ja?»
«Ja», erwiderte Bruch, und mehr nicht. Simon wartete gar nicht erst ab, ob Bruch fortfuhr, sah nun Schauer fragend an.
«Wir haben gestern den Kühns ein Foto von Berger gezeigt», fühlte sie sich genötigt zu erklären. «Es hat sich herausgestellt, dass der Bruder von Celina Berger vom Sehen kennt, weil er Drogen an seiner Schule verkauft. Um uns diese Information bestätigen zu lassen, haben wir das Bild Linda Herzfeld gezeigt. Aber nur ihr! Steht alles im gestrigen Protokoll.»
«Ja, weiter?»
Schauer hob die Schultern. «Ihre Mutter lief ihr nach, zu unserem Wagen, vielleicht hat sie etwas gesehen.»
«Das muss sie gar nicht», sagte Bruch. «Es gibt im Internet Programme, um Phantombilder zu erstellen. Das Mädchen wird den Mann beschrieben haben.»
«Und warum sollen es nicht die Kühns gewesen sein?», fragte Simon.
«Die waren es nicht», sagte Bruch, und Schauer fragte sich, was ihn so sicher machte. Immerhin waren sie es, die ihr Kind vermissten.
«Ist das strafbar?», fragte jemand.
«Ich glaube nicht», antwortete Simon. «Müssen wir prüfen lassen. Das Bild ist ohne jede Angabe von Ort, Alter, Größe. Es könnte sogar eine fiktive Figur sein, zumindest kann der Urheber das behaupten.»
«Wenn jemand das Bild in die Hände bekommt, der diesen Berger kennt, lebt der sehr gefährlich», merkte Buchholz an. «Es findet sich immer jemand, der die Gewaltfantasien anderer auslebt.»
Simon beschwichtigte mit einer Handbewegung. «Er wird ja beobachtet. Falls er mit Celinas Verschwinden etwas zu tun hat, wäre das sehr kontraproduktiv. Wie gesagt, ich glaube das nicht. Die ist nur fortgelaufen. Vielleicht bringt uns ja die Auswertung der Überwachungskameras an den Bahnhöfen weiter.»
Ein Mann, der weiter hinten saß, nahm das zum Anlass, die Sitzung zu beenden. «Wir sind an der Sache dran!», sagte er, stand auf und verursachte damit einen Aufbruch wie in einer Schulklasse nach dem Pausenklingeln.
«Wer war das? Der dann aufgestanden ist?», fragte Schauer, als sie an einer Ampel halten mussten. Bis dahin waren sie stumm geblieben. Hatten kein Wort miteinander gesprochen. Gut geschlafen? Moin moin. Wie geht’s? Fehlanzeige.
«Thomas Voss, Oberkommissar, hat sich auf Bildauswertung spezialisiert, zu dem kannst du auch gehen, wenn dein Computer nicht mehr geht.»
«Warum warst du zu spät?»
«Hab nicht auf die Uhr gesehen», antwortete Bruch so schnell, dass es wie einstudiert klang.
«Wollen wir die Herzfelds darauf ansprechen, auf das Phantombild?»
«Hilft es unseren Ermittlungen?», fragte Bruch, was zugleich auch seine Antwort war.
«Wenigstens regnet es nicht mehr», sagte Schauer, mit einer Erwiderung hatte sie nicht gerechnet, aber warum auch immer löste es bei Bruch eine Reaktion aus.
«Können wir solcherart Floskeln lassen?», sagte er gepresst. «Sag einfach nichts, wenn nichts zu sagen ist. Es macht mich müde.»
Sprachlos sah sie ihn an, hatte er das jetzt wirklich gesagt? War der Typ wirklich so unverschämt? Ihr erster Impuls war, aus dem Auto zu steigen und ihm zu sagen, dass er seinen Dreck auch alleine machen konnte. Doch vielleicht ging das wirklich nicht gegen sie, versuchte sie zu relativieren, vielleicht konnte er so was wirklich nicht ertragen. Vielleicht doch so was wie ein Autist. Aber warum sagte ihr das keiner?
Bis nach Goppeln fuhren sie stumm. Gelegentlich knackte es im Funk. Und als ob der Himmel sie Lügen strafen wollte, zog er sich zu, je weiter sie den Berg hinauf aus der Stadt fuhren, an den Autobahnauffahrten angelangt, begann es schließlich zu regnen.
Bei der Siedlung hatten sich inzwischen noch zwei weitere Übertragungswagen hinzugesellt, nun waren es fünf, der Hubschrauber war noch nicht aufgestiegen. Eine Gruppe Leute hatte sich am Straßenrand versammelt, mit Gummistiefeln, Taschenlampen und Stöcken. Schauer passierte die kleine Ansammlung, bog in die hintere Einfahrt zur Siedlung ein, wo nichts weiter los war, stellte dort das Auto ab.
«Hör mal», gab sie sich versöhnlich. «Ich bin neu hier, ich weiß nicht, wie du tickst. Du sagst es mir ja auch nicht. Ich weiß auch nicht, welche Tabletten du nehmen musst. Ich will’s auch gar nicht wissen.» Wollte sie schon. «Wenn du etwas möchtest, dann sag es mir. Aber ordentlich, nicht, als wär ich zurückgeblieben oder was weiß ich.»
«Jolisch wohnt da drüben. Fahr auf sein Grundstück. Ich will ihn sprechen.»
Schauer öffnete den Mund, doch für diesen Moment wollte ihr nichts einfallen. Sein Verhalten machte sie einfach nur fassungslos. Sie zwang sich, ihren Blick von ihm loszureißen. Dann schaltete sie auf Drive und fuhr zum Grundstück, das schräg gegenüber der Neubausiedlung lag und von einem altersschwachen Zaun eingegrenzt wurde.
Sie hatte es also doch mitbekommen. Von den Tabletten gehört. Bruch lauschte nach innen, versuchte, seine Gefühle zu erforschen. Es sollte ihn eigentlich wütend machen oder wenigstens besorgt sein lassen. Das Grundstück war groß. Würde Jolisch es verkaufen, könnten sie noch zwölf oder fünfzehn dieser kleinen Parzellen daraus machen, mit Häusern drauf, die individuell aussahen und im Grunde alle gleich waren. Obstbäume gab es hier, so alt wie ihr Besitzer selbst, krüppelig, klein gehalten, die Äste nach unten gebogen. Ein großer vom Alter und der Feuchtigkeit schwarzer Stapel geschichteten Holzes befand sich dicht neben der großen Scheune, man könnte ihn von innen aushöhlen und als Versteck benutzen. Die Scheune, ein großes Gebäude, ebenso schwarz, sah aus, als würde der nächste Sturm sie niederreißen. Doch vermutlich hatte sie schon vielen Stürmen standgehalten. Jolischs Haus, zweistöckig zwar, jedoch niedrig, geduckt, mit einigen Anbauten, die über die Jahrzehnte hinzugefügt worden waren. Verstecke gäb es genügend. Er stieg aus. Er wusste, er müsste mit seiner Kollegin sprechen. Müsste ihr sagen, dass sie es nicht persönlich nehmen soll. Aber all diese Dinge zu sagen, zu sprechen selbst, war ihm zuwider. Er müsste ein schlechtes Gewissen haben, wusste er, sich unwohl fühlen, sie so vor den Kopf zu stoßen, doch so wie er auch keine anderen Gefühle in sich fand, waren auch diese nicht aufzutreiben. Außerdem, da war er sich sicher, hatte sie ihre eigenen Geheimnisse. So waren sie doch eigentlich quitt.
Sie folgte ihm zu dem Haus. Vor der verzogenen hölzernen Tür hielten sie, im Schutze eines schmalen Vordachs. Rechts neben ihnen befand sich eine kleine Veranda.
«Bestimmt ist der gar nicht da, ist mit den anderen losgezogen.»
Jolisch war da, hinter einem Fenster hatte er Licht gesehen. Um sich die Antwort zu sparen, hob er die Hand, drückte die Klingel. Da sie nicht zu funktionieren schien, klopfte er.
«Kommen Sie rein, es ist offen», rief Jolisch von drinnen.
Bruch drückte die Klinke, musste sich leicht gegen die Tür stemmen, die klemmte.
«Kommen Sie doch durch die Hintertür», kam ihnen Jolisch entgegen. «Ach, wer sind denn Sie?», fragte er und trocknete sich die Hände an einem alten Küchentuch ab.
«Polizei. Schauer, Bruch», er zeigte auf Schauer und sich.
«Regenschauer, Wolkenbruch», der Alte lachte. In seiner Jugend musste er ein Hüne gewesen sein. Jetzt lief er mit steifen Hüften. «Wie kann ich Ihnen denn helfen? Möchten Sie Kaffee?»
«Nein», sagte Bruch.
«Ja!», überstimmte ihn Schauer. «Er ist nur bescheiden.»
Der Alte lachte wieder, drehte ab. Schauer stieß Bruch mit dem Ellbogen an und riss die Augen auf, während sie gleichzeitig ihren Kopf ein Stück vorschob. Bruch konnte die Mimik nicht deuten. Sie folgten dem Mann durch den Flur in die Küche, die wie in alten Zeiten der wichtigste Raum im Hause schien.
«Wen haben Sie denn erwartet?», fragte Schauer, nahm den angebotenen Platz in der Sitzecke an, rutschte durch, mit dem Rücken zum Fenster, zog energisch an Bruchs Jacke, damit er sich auch setzte. Bruch ließ sich auf der kurzen Querbank nieder, das Fenster zu seiner Rechten.
«Na ja, die Nachbarn halt. Sie sind wegen dem Mädchen hier, denke ich? Ich glaube ja, das Kind ist weggelaufen. Die wird schon wiederkommen, aber es hilft ihnen, wenn man etwas tut.»
«Sie glauben also gar nicht, dass etwas geschehen ist?»
Jolisch nickte, kam mit zwei Tassen in der einen Hand, die er trug, indem er seine Finger hineinsteckte und sie zusammenpresste, und in der anderen Hand eine uralte Kaffeekanne, deren Ausguss verkrustet war. Bruch sah in Schauers Gesicht, dass sie es nun bereute, Kaffee verlangt zu haben. Jolisch stellte die Tassen ab, goss ein, reichte sie ihnen, schob ihnen dann noch eine Dose fette Kaffeesahne zu. Auch der Ausguss der Plastikdose war nicht sauber. Allgemein war das Haus in einem schlechten Zustand. Es roch muffig, nach Feuchtigkeit in den Wänden, nach uraltem Fußbodenbelag, darunter mischten sich Gerüche von Kaffee, Bier, altem Brot, Männerkleidung. Dreckig war es nicht hier, aber auch nicht sauber, zwischen all den unzähligen Dingen, die sich im Laufe der Jahrzehnte angesammelt hatten, lagen Staub und tote Fliegen. Die Fensterscheiben waren halb blind, die Türen der Möbel hingen schief, die Griffe waren speckig. Bruch sog tief Luft ein. Eine Note, die er nicht direkt zuordnen konnte, schien zwischen all den Ausdünstungen zu schweben. Dann nahm er seine Tasse und trank. Der Kaffee war bitter. Musste sehr bitter sein, dass er es schmecken konnte.
«Kannten Sie das Mädchen?», fragte Schauer, und Bruch sah, wie sie die Tasse zum Mund hob und tat, als würde sie trinken.
«Ich hab sie natürlich immer gesehen, sie laufen ja vom Bus nach Hause an mir vorbei. Sie und die anderen Kinder.»
«Hatten Sie Kontakt zu ihnen? Über den Gartenzaun sozusagen?»
Sie versuchte unverfänglich zu bleiben. Bruch betrachtete den Mann.
Jolisch lächelte. «Sie haben versucht, Obst zu klauen. Das ist lange schon her. Ich hab sie mit der Harke verjagt. Aber das war nur Spaß, gewissermaßen zur Abschreckung.»
«War da Celina mit dabei? Und Linda auch?»
«Also ich kann die ja nicht so unterscheiden, aber ich denke schon. Seitdem grüßen sie mich, und ich geb ihnen manchmal Kirschen und Äpfel.»
«Aber ins Haus haben Sie sie nie eingeladen?»
Jolisch schien keinen Hinterhalt zu erkennen. Er winkte nur lachend ab. «Was sollen denn die Kinder bei einem alten Mann im Haus. Die würden sich doch nur unwohl fühlen.»
«Damals, vor zwei Jahren, als Linda verschwunden war, da gab es einen Trupp selbsternannter Sheriffs, die drangen sogar in Häuser ein und suchten nach ihr. In Ihres auch? Die glaubten wohl, Sie, Herr Jolisch, hätten das Kind entführt?»
Jetzt wurde Jolisch ernster. «Wissen Sie, ich kann die Sorge der Leute ja verstehen, und wäre es mein Kind, ich würde wahrscheinlich dasselbe anstellen. Man darf ihnen das nicht übel nehmen.»
Warum wich er der Antwort aus, fragte sich Bruch.
«Aber waren sie bei Ihnen im Haus?»
«Na ja, sie kamen in der Nacht. Hämmerten an meine Haustür, ein paar waren schon in der Scheune. Ich war denen wohl verdächtig. Sie wunderten sich, warum ich mich so bei der Suche engagierte, weil ich ja doch die Familien hier gar nicht gut kenne. Die Neuen. So ist das noch immer, die Zugezogenen aus der Stadt sind schon sehr zurückhaltend. Aber natürlich fanden sie Linda hier nicht.»
«Wurden Sie bedroht?», fragte Schauer. Sie hatte die Tasse abgestellt und hoffte sicher, sie geriete in Vergessenheit. Bruch sah, dass am inneren Rand der Tasse auch Rückstände klebten.
«Na ja, schon. Zwei drückten mich an die Wand und meinten, sie würden mich nicht aus den Augen lassen. Die waren ziemlich wütend. Aber das war ja nicht nur bei mir so. Bei anderen waren sie auch.»
«Es hieß, die Hinzugezogenen behaupteten, die Alteingesessenen hätten mit der Entführung etwas zu tun? Wie kommen die darauf?»
Jetzt lächelte Jolisch wieder. Er hatte sich kürzlich rasiert, doch vermutlich sah er nicht mehr so gut, unter seiner Nase und am Kinn waren Borsten verblieben. «Es gab Leute, die behaupteten, einige der Alten wären nicht einverstanden gewesen mit dem Verkauf des Heidemann-Grundstücks.»
«Auf dem die Siedlung entstanden ist?», hakte Schauer nach.
«Ja. Heidemann starb zweitausend. Dann geschah erst mal lange nichts. Dann beschlossen die Erben, seine Söhne, das Grundstück zu verkaufen. Ein Immobilienunternehmer ließ es erschließen, und es wurde zum Baugrundstück deklariert. Das war alles nicht ganz koscher, wenn Sie mich fragen, aber was läuft da schon koscher, die sind doch alle von hinten bis vorne geschmiert. Irgendwann fing der Bau an, und Sie wissen ja, wie das ist. Wenn die Leute etwas aus dem gewohnten Trott bringt, werden sie ungehalten. Es gab ein paar, die wollten das nicht, wollten keine neuen Nachbarn, wollten ihre Ruhe.»
«Sie auch?»
Warum sie das alles wissen wollte, dachte Bruch, das war kein Grund, ein Kind zu entführen.
Jolisch nickte und verschränkte seine großen kräftigen Finger vor dem Bauch. «Ich auch, ja. Aber ich habe mich daran gewöhnt. Erst an den Bau, dann an die vielen neuen Leute.»
«Haben Sie keine Anzeige erstattet damals?»
«Nein, wissen Sie, ich bemühe mich seit Langem, die Neuen und die Alten zusammenzubringen. Ich habe auch schon Feste organisiert. Ich wollte nicht noch mehr Unfrieden stiften. Ich wurde ja auch schon gefragt.»
«Wonach?»
«Mein Grundstück zu verkaufen. Sehen Sie!» Er deutete zum Fenster. Schauer drehte sich um, doch Bruch musste nicht hinsehen. Er wusste, man hatte Ausblick über die Stadt, von der Sächsischen Schweiz, wo man bei gutem Wetter die Festung Königsstein deutlich sehen konnte, bis Radebeul, ganz im Nordwesten. Und unten im Kessel konnte man die Frauenkirche erkennen, die Hof- und Kreuzkirche, das Rathaus. Menschen fanden so was schön.
«Aber Sie lehnten ab?»
«Sollen meine Kinder sehen, was sie damit machen, wenn ich mal dod bin.»
Wie er es aussprach. Mit weichen d, als ob das den wirklichen Tod abhalten könnte. Er wollte nicht sterben. Wollte noch ewig so leben. Bruch nahm den Gedanken auf. Was wollte er? Warum sich ewig diesem Zustand aussetzen. Für ihn bedeutete der Tod nichts.
Etwas ließ Bruch den Kopf nach rechts drehen und doch aus dem Fenster sehen. Jemand lief dort an der Straße entlang. Trug etwas in der Hand. Einen Beutel. Ein Kind. Von seinen Eltern zum Bäcker geschickt.
«Wir müssen gehen», sagte er. «Jetzt.»
Schauer sah zu ihm, folgte dann seinem Blick. «Herr Jolisch, vielen Dank für Ihre Auskunft und die Gastfreundschaft.» Sie schob sich seitlich aus der Sitzecke, erhob sich. «Falls Sie wieder in Not geraten, rufen Sie uns an. Hast du eine Karte?», wandte sie sich an Bruch.
Das ist vollkommen unnötig, dachte er, doch holte er eine aus seiner Jackentasche, sie war geknickt und leicht aufgequollen von der Feuchtigkeit in seiner Jacke. Er legte sie auf den Tisch, neben der noch vollen Tasse seiner Kollegin.
«Linda», rief Schauer halblaut, «warte doch mal!»
Das Mädchen hatte fast die Siedlung erreicht. Noch war die Sicht zu ihrem Elternhaus verdeckt. Linda ging zügig, und seit Schauer und Bruch das Haus verlassen hatten, lief sie noch zügiger.
Schauer beschleunigte. Nur ein wenig schneller, und sie würden rennen.
«Bleib jetzt stehen!», befahl sie. Genug mit der Rennerei. Sie waren die Polizei.
Linda blieb stehen, wie sie war, drehte sich nicht um. Schauer holte sie ein, hielt aber so viel Abstand, damit sie sich nicht bedrängt fühlte. «Hör doch mal, Linda, ich weiß, deine Eltern wollen nicht, dass du mit uns sprichst, aber das ist falsch. Du musst darüber sprechen. Was damals geschehen ist. Es würde uns vielleicht helfen zu verstehen, was gerade mit Celina los ist. Willst du es uns nicht sagen? Willst du nicht, dass wir deine Freundin finden?»
Linda schüttelte den Kopf. Sie sah Schauer dabei nicht an, starrte geradeaus ins Leere.
Schauer beugte sich hinab, wollte Linda in die Augen schauen. «Warst du beim Bäcker? Lassen dich deine Eltern allein gehen?»
«Ich wollte es so», sagte Linda heiser.
«Du wolltest mal allein gehen? Wirst du sonst überallhin gebracht?»
«Ja, überallhin.»
«Du fährst also nicht mit Celina und den anderen Bus?»
«Doch, aber immer mit denen, nie allein.»
Schauer sah sich nach Bruch um. Der war ein paar Meter zurückgeblieben. Ahnte er, welchen Eindruck er auf das Kind machen würde? Oder wollte er einen Fluchtweg abschneiden?
«Und es ist dir wirklich ganz und gar unmöglich zu sagen, was damals geschah? Du warst zwei Wochen weg? Wo warst du?»
Linda begann wieder mit dem Kopf zu schütteln.
«Hör mal, was auch immer damals geschehen ist, es ist nicht deine Schuld, verstehst du? Wer immer dir was angetan hat, der ist schuld, nicht du. Du bist ein Kind. Aber willst du denn, dass Celina dasselbe durchmachen muss?»
Linda schüttelte nur den Kopf. Schauer überlegte, wie sie weiter fragen konnte. Es war klar, dass das Kind nicht einfach so zu knacken war, wenn sie zwei Jahre lang nichts dazu gesagt hatte.
«Kannst du nicht wenigstens etwas sagen, bist du angesprochen worden damals? Hat dich jemand in ein Auto gelockt? Hattest du dich verlaufen?»
Linda schüttelte einfach immer nur weiter den Kopf. Inzwischen hatte sie die Augen geschlossen, und es sah aus, als weinte sie. Der Regen aber hatte ihr ganzes Gesicht benetzt.
«Linda, es geht um deine Freundin. Celina. Vielleicht ist sie in Lebensgefahr. Willst du, dass ihr etwas Schlimmes passiert, dass wir ihr nicht helfen können, nur weil du nichts sagen willst?» Das war gemein, wusste Schauer. Aber wie sonst sollte man an das Kind rankommen.
«Linda!», rief es von Weitem, schrill war der Ruf. Ängstlich und wütend zugleich. Frau Herzfeld kam angestürmt. In weiter Strickjacke, Jogginghose und Hausschuhen kam sie in großen Schritten an. In diesem Moment brach es aus dem Mädchen heraus. Sie ließ den Brötchenbeutel fallen, schlug sich die Hände vors Gesicht.
«Sehen Sie!», schrie ihre Mutter. «Sehen Sie, was Sie anrichten!» Sie packte ihre Tochter am Arm, zerrte an ihr. «Komm, komm mit, wir gehen heim! Ich hab’s dir gesagt, ich hab’s dir gesagt, die fangen dich ab. Die tun dir weh. Die tun dir nur weh!» Wütend zerrte sie an dem Kind, zog sie fort, zur Siedlung hin. Die Brötchen ließen sie liegen.
Schauer bückte sich danach, hob den Beutel auf.
«Frau Herzfeld!», rief sie.
Die drehte sich ruckartig um.
«Ihre Brötchen!» Schauer ging zu ihr hin, reichte ihr den Stoffbeutel, der auf einer Seite ganz nass war. «Wir wollen nur Celina helfen. Ihren Eltern. Sie müssen doch wissen, wie die sich fühlen!»
«Ich weiß es!», schrie die Frau. «Ich weiß es genau. Deshalb helfen wir alle. Aber mein Kind, das lassen Sie in Ruhe! Fragen Sie doch nach den Jugendlichen! Oder sollen wir Ihre ganze Arbeit machen? Ja?»
«Was denn für Jugendliche?»
Frau Herzfeld atmete tief ein und begann ruhiger zu sprechen. «Die Kinder erzählen von denen, fragen Sie doch die. Aber lassen Sie meine Tochter in Ruhe!» Mit einem letzten hasserfüllten Blick ging Frau Herzfeld davon. Schauer ließ sie davonziehen. Sie wartete, bis Bruch herankam, der sich die ganze Zeit zurückgehalten hatte.
«Warum weint sie?», fragte sie ihn. «Ich habe ihr doch keine Angst gemacht. Weil sie traumatisiert ist? Weil sie reden möchte und ihre Eltern es ihr verbieten? Weil sie nicht mehr so von ihnen behandelt werden möchte?»
«Weil sie etwas Schlimmes getan hat.»
Schauer fühlte sich wieder einmal genötigt, ihm genau ins Gesicht zu sehen. War das jetzt eine Idee von ihm, oder hielt er das für einen Fakt, oder war es ein Witz, eine ironische Weiterführung ihrer Optionen. Doch man konnte ihm nichts aus der Mimik lesen. Sie ließ es dieses Mal einfach so stehen. Bestimmt war er einfach so, meinte es gar nicht böse, wenn er nicht grüßte oder Gespräche abrupt beendete. Dann musste man sich ermahnen, ihm das nicht übel zu nehmen. Wie mochte es nur seiner Familie ergehen, seiner Frau, seinen Eltern und Geschwistern, sich immerzu daran erinnern zu müssen, dass er es nicht mit Absicht tat.
«Du hast nach den Tabletten gefragt», sagte er unvermittelt.
«Den Jolisch?» Sie konnte sich nicht erinnern. Anstatt sie aufzuklären, sprach Bruch einfach weiter.
«Niemand außer Michael wusste davon.»
Jetzt kapierte sie, er meinte seine Tabletten. Sie zuckte mit den Achseln. Geht mich auch nichts an, sollte das heißen.
«Du hättest es nicht erfahren sollen», gab er freiheraus zu.
«Na ja …» Nun wusste sie nichts dazu zu sagen. Eine Drohung schien das nicht zu sein. Eher so etwas wie eine Bitte. Nur dass der Affe nicht bitte sagen konnte. Und was sollte sie auf eine unausgesprochene Bitte antworten, eine unausgesprochene Antwort?
«Na ja, du hast ja auch nichts wegen Berger gesagt.» Sie versuchte es mal mit einem Lächeln. Er verstand das nicht. Starrte sie nur weiter an. Man mochte ihm eine klatschen, wenn er so dastand.
«Ich will damit sagen, da wären wir ja quitt!»
Bruch nickte. «Gehen wir zu den Kühns. Maxim wird wissen, wer die Jugendlichen sind, von denen Frau Herzfeld eben sprach.»
«Maxim ist nicht da», sagte Udo Kühn. Der Mann war ganz grau im Gesicht. Schauer konnte sich gut ausmalen, wie es war, frühmorgens nach einigen Stunden gnädigen Schlafs zu erwachen und von der Realität eingeholt zu werden. Sie selbst hatte auch genug Realität bekommen in letzter Zeit.
«Wo ist er denn?»
«Er wollte mit ein paar anderen Jungs los, nach Celina suchen.» Kühn hob müde die Schultern, vielleicht haben die Kinder ja eine Idee, sagte diese Geste aus. Oder er ahnte, der Junge wollte einfach nur raus und seine Ruhe vor dem ganzen Rummel. Auch das war nicht unwahrscheinlich. Es konnte gut sein, der Junge machte sich keine Sorgen um seine Schwester. Er steckte mitten in der Pubertät, und da machte das Gehirn gerade bei Jungen einige sehr kritische und nicht ungefährliche Phasen durch.
«Wissen Sie ungefähr, wohin?»
«Sie sind mit den Rädern unterwegs.»
«Gut», sagte Schauer, und Kühn wollte schon die Tür schließen, da hob sie noch einmal die Hand. «Herr Kühn. Ich habe Ihnen doch gestern ein Bild von einem Mann gezeigt. Dieses Bild, oder zumindest ein Phantombild, ist noch in der Nacht im Internet aufgetaucht. Sagen Sie mir, dass Sie nichts damit zu tun haben!»
Kühn hielt inne. «Bringt das Celina irgendwie in Gefahr?», fragte er dann.
Schauer zögerte. Bruch kam ihr unerwartet zu Hilfe.
«Wenn Ihre Tochter sich in der Gewalt dieses Mannes befinden sollte, dann kann es sie in höchste Gefahr bringen.» Damit schloss er und ließ Kühn in seinem Elend zurück.
«Wir glauben das aber nicht!», fügte Schauer deshalb dazu. «Haben Sie nun etwas damit zu tun?»
«Wem haben Sie es noch gezeigt?»
Schauer wartete, ob Bruch etwas sagte, da er aber schwieg, sagte sie auch nichts.
«Den Herzfelds?», fragte Kühn.
«Linda!», erwiderte Schauer. «Belassen Sie es dabei. Wir werden uns darum kümmern, wenn es so weit ist. Lassen Sie uns erst mal Ihre Tochter finden!»
Nun war es Kühn, der noch etwas sagte. «Sie denken doch sicher, sie ist schon tot, oder?»
«Wie kommen Sie denn darauf?»
«Sie suchen doch wie nach einer Toten, mit Leichenhunden und Stöcken.»
«Herr Kühn, wir müssen alles in Betracht ziehen. Es kümmern sich noch viel mehr Leute, als Sie denken. Ich kann Ihnen gern Kontakt zu einem unserer Psychologen …»
«Das wurde uns schon angeboten! Danke.» Kühn nickte und schloss die Tür.