«Wir können doch jetzt nicht sinnlos durch die Gegend fahren, bis wir ein paar Jungs mit Fahrrädern sehen», murrte Schauer nach einer halben Stunde.
«Bessere Idee?», fragte Bruch.
«Wir könnten …» Schauer schloss den Mund wieder. Ihr fiel auch nichts Besseres ein.
Bruch richtete sich im Sitz auf. «Halt an!»
Schauer bremste stark, hielt. Bruch stieg aus, musste sich gegen heftigen Wind stemmen, der übers Feld fegte und so den Lärm der Autobahn wegdrückte. Er ging ein Stück zurück, beugte sich ein wenig nieder. Schauer, die keinen Schimmer hatte, was vor sich ging, drehte sich im Sitz, betrachtete ihn durch die Heckscheibe. Dann kam er zurück.
«Stoß zurück, dann da entlang.» Er zeigte auf das Feld.
«Das ist ein Feldweg, völlig aufgeweicht», merkte Schauer an. Hatte er Fahrradspuren gesehen? Während der Fahrt? Hatte er sie gelesen wie ein indianischer Spurenleser? Das wäre ein gefundenes Fressen für alle, wenn die Neue, die Wessitante, den Karren im Schlamm versenkte. Da sie aber sowieso nicht gegen diesen Hornochsen ankam, fuhr sie ein Stück zurück, lenkte den Wagen auf das Feld.
Zuerst fuhr sie sehr vorsichtig, doch so schlimm wie vermutet war es nicht, sie fasste Mut und beschleunigte ein bisschen. Zuerst ging es leicht bergauf, weg von der Stadt. Rechts tauchte ein Waldstück auf. Der Weg schien daran vorbeizuführen, schwang sich dann aber nach rechts. Schließlich erreichten sie den Wald. Kaum mehr als ein Wäldchen, groß wie ein Fußballfeld.
«Dort sind sie», sagte Bruch, und Schauer sah gar nichts.
«Wenn du es sagt.»
Schon stieg Bruch aus, zog die Schultern hoch, rammte die Fäuste in die Jackentaschen. Ein Königreich für einen Schirm, dachte Schauer. Nein, für ein Pferd. Ein hübsches. Nicht zu groß, nicht zu viel Weiß in den Augen. Drauf und weg. Sie stieg aus, klappte sich den Jackenkragen hoch, folgte Bruch, der schnurstracks ins Dickicht brach. Jetzt sah sie drei Fahrräder. Weiter hinten nahm etwas Gestalt an, als sie sich näherten. Eine Art Unterstand. Äste und Bretter kreisrund um einen Baumstamm gelehnt, mit einer Plane umhüllt, bildeten sie ein Zelt. Schauer roch Zigarettenrauch. Ehe Bruch dort reinstürmte und die Kinder verschreckte, gab sie ihm einen Klaps an den Ellbogen, erbat sich Vortritt, hockte sich vor den Eingang.
Man hatte sie schon bemerkt. Die Kippen waren weg, hastig verscharrt im Waldboden.
«Coole Bude», sagte Schauer. Viel Platz war hier nicht drin. Dunkel war es. Aber irgendwie gemütlich. Hätte ihr als Kind super gefallen. Gefiel ihr jetzt noch.
Die drei Jungen sahen sie an wie eine Erwachsene, die versuchte, cool zu sein. Dabei war sie cool. Nein, war sie nicht. Bruch war cool, aber nur weil er einen Hirnschaden hatte. Maxim war dabei, die beiden anderen kannte sie nicht. Stumm sahen sie sie an.
«Ich muss dich was fragen», wendete sie sich an Celinas Bruder.
«Kennst du die?», fragte einer der anderen.
«Ja, sie ist Bul…izistin.»
Ja, Bullizistin. Schön, wenn Kinder schon so eine Einstellung hatten.
«Warum seid ihr eigentlich nicht in der Schule?»
Die zwei fremden Jungen hoben die Schultern und senkten die Köpfe. Maxim fühlte sich wohl von einer Antwort befreit.
«Wir haben gesagt, wir helfen suchen», antwortete einer.
«Halt doch das Maul», knurrte Maxim leise.
«Na ja, vielleicht könntet ihr uns ja wirklich helfen. Ein paar Leute haben uns gesagt, hier würden sich Jugendliche rumtreiben. Von außerhalb. Wisst ihr, wer damit gemeint sein könnte?»
Maxim senkte seinen Kopf ein wenig, blickte unter seinen Augenbrauen durch zu seinen Freunden hin. Schauer ließ ihm Zeit. Ein bisschen.
«Was ist, willst du nicht antworten? Denn zum Nein sagen ist es jetzt zu spät», sagte sie nach fünf Sekunden. «Kennt ihr die?»
Die drei Jungen schwiegen. Es war offensichtlich, dass sie sich in einer Art Falle sahen, die sie sich selbst gebaut hatten. Vielleicht mochten die beiden anderen etwas zu erzählen haben, doch Maxim, der der größte von ihnen schien, hinderte sie mit seinem Schweigen daran.
«Maxim, es geht um deine Schwester!», wagte Schauer den Vorstoß. «Mag sein, dass du jetzt gerade angepisst bist von ihr und auch von deinen Eltern, dass dir alles scheißegal ist. Aber es wird eine Zeit kommen, in fünf Jahren vielleicht, oder eher, oder später, da wirst du es schwer bereuen, falls du uns etwas zu sagen hättest und hast es nicht getan. Warum schweigst du?»
Maxim antwortete nicht, starrte sie nur finster an. Lange dauerte der Moment, und Schauer wusste, wenn es eine winzige Hoffnung gegeben hatte, dass er doch nachgab, verblasste die mit jeder Sekunde des Schweigens. Sie spürte eine Berührung. Das musste Bruch sein. Wollte der es versuchen? Wollte er sie totstarren? Sie sah auf. Er gab ihr ein stummes Zeichen mit dem Kopf. Sie erhob sich, ließ sich von ihm ein paar Schritte wegziehen.
«Ich ruf den Richter an», sagte er, «er wird Beugehaft veranlassen. Das halten die nicht länger als ein, zwei Tage durch!»
Schauer starrte Bruch verständnislos an. Als sie den Mund öffnete, hob er den Finger, drehte den Kopf zum Unterschlupf hin. Drinnen war eine heiser geflüsterte Diskussion entbrannt, die offensichtlich in ein Gerangel ausartete. Das Zelt bewegte sich, Teile des fragilen Gestells rutschten, die Plane verlor ihren Halt, sank ein Stück herab. Einer der Jungen kroch heraus, strampelte sich frei, da er offenbar festgehalten wurde. Endlich sprang er auf. Sein Kopf war hochrot.
«Wir kennen die!», keuchte er.
«Ja, kannst du uns Namen sagen?»
Der Junge nickte. «Maria, Oskar und André, das ist ein Russe! Und noch zwei, von denen ich nicht weiß, wie die heißen.»
«Und du?»
«Ich heiß Paul!»
Inzwischen waren Maxim und der dritte Junge aus dem Zelt gekrochen, hatten sich die Hosenböden und die Knie abgeklopft.
«Warum sagst du uns das nicht gleich?», fragte Schauer.
«Ist doch egal!», murrte Maxim, warf noch einen hasserfüllten Blick auf seinen Freund.
«Wie heißen die anderen zwei?»
«Maddox und Hermann.»
«Wisst ihr, woher die kommen, hier aus dem Ort?»
«Nee, aus Prohlis.»
«Was ist denn das?», fragte Schauer vorsichtshalber. Sie glaubte es zwar zu wissen, Sebastian hatte gelegentlich mit einiger Abscheu davon gesprochen, aber sie wollte sicher sein.
«Plattenghetto», sagte der dritte Junge mit derselben Mischung aus Ekel und Überheblichkeit.
«Wisst ihr, wo sie wohnen oder auf welche Schule die gehen?»
Die zwei anderen Jungen schüttelten die Köpfe, während Maxim regungslos blieb.
«Du weißt es», sagte Bruch.
Maxim sah ihn an, hielt dem Blick erstaunlicherweise stand. Kein Wunder, dachte Schauer. Pest und Cholera.
«Die gehen auf die Hilfsschule da! Zumindest Maria und Hermann», sagte der dritte Junge.
«Das ist keine Hilfsschule!», widersprach der zweite.
«Ich weiß, wo», sagte Bruch.
«Gibt es noch irgendwas zu wissen über diese fünf?», fragte Schauer. Sie sah Maxim an, doch der war so verbockt, dass er selbst jetzt noch kein Wort sagte. Dagegen lösten sich die Zungen der anderen beiden Jungen.
«Die haben wir vor zwei Jahren an einem Teich kennengelernt, wo wir baden im Sommer. In Kauscha. Ist eigentlich verboten da. Und die haben sich immer lustig gemacht, dass wir vom Dorf kommen, und wir haben die verarscht, weil die in dem Ghetto wohnen, wo nur Assis sind. Irgendwann sind die mal mit Fahrrädern aufgetaucht. Dann haben die das Gruselhaus entdeckt. Da hocken die manchmal.»
«Gruselhaus?»
«Na ja, ein richtiges Haus ist das nicht, eigentlich ein Bauernhof. Der ist verlassen, ganz kaputt. Unsere Alten verbieten uns, da hinzugehen, weil man in den Boden einbrechen kann, oder die Decke kann abstürzen. Wir waren aber trotzdem ein paarmal da!»
«Wo ist denn das?»
«Gleich wenn Sie aus Dresden kommen, durch Kauscha. Sieht man sofort.»
Schauer sah sich nach Bruch um. «Wurde das schon durchsucht?»
Bruch nickte.
«Also dort hängen die fünf ab? Und ihr auch manchmal?»
Paul nickte. «Also, wäre cool, wenn Sie das unseren Alten nicht sagen.»
Schauer wendete sich Maxim zu. «Hast du uns deshalb nichts sagen wollen?», fragte sie.
Maxim sah sie nur finster an.
Schauer trat noch näher. «Gut, dann sag halt nichts. Ich würde dir aber raten, deine Wut jetzt nicht an deinem Freund auszulassen!»
«Pfff», entfuhr es Maxim. «Freund.»
«Und jetzt?», fragte Schauer. «Fahren wir zu der Schule?»
«Auf dem Weg dahin sehen wir uns den Bauernhof an.»
«Ich dachte, das wäre ein kleiner Bauernhof», staunte Schauer und lenkte den BMW bis vor das große verschlossene Tor. Bruch stieg aus, warf die Tür zu. Schauer gesellte sich zu ihm, stemmte die Hände in die Hüften und blies aus.
«Wie soll man denn hier reinkommen?»
Der Hof schien riesengroß, das Tor vor ihnen war bestimmt fünf Meter hoch, machte einen sehr massiven Eindruck. Es schloss die etwas zwanzig Meter breite Öffnung an der Stirnseite des Dreiseitenhofs komplett ab. Der Innenhof musste wenigstens so groß sein wie zwei Turnhallenfelder. Die Gebäude rechts und links besaßen auf die Straßenseite hin kein einziges Fenster. Drei Stockwerke waren sie hoch. Wie es drinnen aussah, war nicht zu erkennen. Schauer trat vor, klinkte an der Tür, die in das große Tor eingelassen war, um es nicht komplett öffnen zu müssen, wenn nur eine Person hinein- oder hinauswollte.
Die Tür war verriegelt, und auf dieser Seite schien es keinen weiteren Zugang zu geben.
«Wir gehen außen herum», bestimmte Bruch. Es gab keinen wirklichen Weg, auf der rechten Seite des Hofes hatte er zumindest einen Trampelpfad entdeckt. Bestimmt würden sie im Schlamm rutschen und nach dieser Runde völlig verdreckt aussehen. Kalt war ihm auch, zumindest sagte ihm die Vernunft, dass ihm kalt sein müsste.
Ihn stimmte nachdenklich, dass der Junge nichts hatte sagen wollen. Zwar fühlte er selbst eine völlige Leere, dort wo Gefühle für andere Menschen sein sollten, doch der Junge konnte nicht so verstockt sein. Er musste wenigstens ein winziges bisschen Zuneigung für seine Schwester empfinden, allein seiner Eltern wegen konnte es ihm nicht völlig egal sein, was mit ihr geschah. Er musste wissen, dass seine Eltern todunglücklich waren und sein Leben sich dadurch nur verschlechtern würde. Wodurch also wurde dieses kleine Gefühl unterdrückt, was veranlasste ihn zu schweigen?
Er lief los, um die nächste Ecke, dort führte der Trampelpfad an der Längsseite entlang über eine sanfte Kuppe. Hinter der Rückseite des Bauernhofs war dichter Pflanzenbewuchs zu erkennen.
Auf dieser Seite gab es Fenster auf jeder Etage. Die Erdgeschossfenster lagen jedoch so hoch, dass man die Unterkante nur auf Zehenspitzen und mit ausgestreckten Armen erreichen konnte. Außerdem waren sie vernagelt. Der Hof samt seiner Gebäude musste sechzig oder achtzig Meter lang sein, das hintere Ende jedoch zeigte sich weit mehr baufällig, als sie es erreichten. Was von Weitem wie Bäume oder Büsche ausgesehen hatte, war einfach nur dichtes Brombeergestrüpp, das sämtliche Birken und Obstbäume überwuchert hatte. Man konnte noch Strukturen eines Gartens erkennen, dahinter fiel das Gelände ein wenig ab, einen Teich gab es, mit einem Entensteg und einer kleinen Insel. Ein alter Schuppen war zusammengebrochen, ein kleiner Stall stand noch. Auch ein Gewächshaus war zu erkennen, das von innen völlig zugewachsen schien. Der gute Zustand der Längsseite hatte getäuscht, das Quergebäude des Dreiseitenhofs war zum Teil eingestürzt. Der Dachstuhl hing durch, Schutt war wie eine kleine Lawine in den alten Garten gerutscht, von Schlingpflanzen längst erobert. Hier herrschte seit Jahren nur noch Verfall, seit Jahrzehnten sogar. Möglich, dass der Hof kurz nach der Wende aufgegeben wurde, nachdem die LPG aufgelöst worden war. Bruch fand einen ganz schmalen Pfad, wie von Tieren ausgetreten, und es wäre nicht verwunderlich, wohnten Marder hier, Füchse oder wenigstens wilde Katzen.
«Du willst da jetzt nicht rein?», fragte Schauer. «Hast du nicht gesagt, es wurde nach Celina durchsucht?»
Ja, das hatte er gesagt, kein Grund also, noch einmal nachzufragen. Bruch betrat den schmalen Pfad. Er wollte sehen, wie es in dem Gebäude aussah. Hinter ihm stöhnte Schauer, er hörte, wie sie ihr Handy herausnahm.
«Schauer hier», sagte sie. Dann stöhnte sie wieder. «Ja. Die Neue! Dieser Bauernhof an der Straße von Kauscha nach Goppeln, wurde der abgesucht? Ja, ich warte! Warte doch mal!»
Letzteres galt wohl ihm. Bruch sah keinen Grund zu warten, soll sie doch einfach nachkommen. Er suchte den Schutt nach einem Weg ab, über den er ins Gebäude gelangen konnte.
«Ja», sprach Schauer hinter ihm mit ihrem Gerät. «Ja, aha. Danke.» Sie legte auf. «Also, die haben das Gebäude mit Hunden umkreist und mit Drohnen überflogen. Also mit dem Hubschrauber. Da die Hunde nicht angeschlagen haben, ging man davon aus, dass das Kind hier nicht sein kann.»
«Dann müssen wir eine Durchsuchung anordnen», sagte Bruch und begann den Schuttberg hinaufzuklettern. Ihm war, als gäbe es einen Pfad. Und wenn die Jugendlichen sich hier herumtrieben, dann würden sie schon in dem Gebäude gewesen sein.
«Du gehst mir grad wirklich auf den Sack!», murrte Schauer. «Erstens sollten wir schleunigst zur Schule fahren und nach den Jugendlichen sehen, zweitens ist das wirklich gefährlich, hier rumzuturnen, drittens ist die Bude so groß, da brauchst du ein paar Leute, um durchzublicken.»
Bruch wusste, dass sie recht hatte. Aber etwas war hier, schlug in ihm eine Saite an, ohne dass er es erklären konnte. Als lauerte etwas, als beobachtete ihn jemand. Er nahm sein Handy hervor, sah auf die Uhr. «Kommt denn jemand?»
«Ja, sind auf dem Weg. Zehn Mann.»
«Die Kinder sitzen im Unterricht, können nicht weg. Ich will bei der Durchsuchung dabei sein. Geh du vor, sie sollen das Tor aufbrechen. Ich warte hier hinten.»
«Warum?», fragte Schauer, dann kam sie näher, senkte die Stimme. «Glaubst du, hier ist jemand drinnen.»
Bruch wollte zuerst gar nichts erwidern. Er konnte es genauso wenig wissen wie sie. «Könnte sein», sagte er dann, weil er wusste, dass Leute solche Dinge hören wollten.
«Geht klar, ich fange die vorn ab.» Schauer zog sich zurück. Bruch wartete, bis sich ihre Schritte verloren. Dann kletterte er den Schuttberg weiter bis nach oben, duckte sich unter einem herabhängenden Mauerstück hindurch ins Innere der Ruine.
Drinnen war es finster, roch modrig-feucht. Scharfer Geruch deutete auf die gelegentliche Anwesenheit einiger Tiere hin. Die Decke hing durch, Balken waren zerbrochen, auf ihnen lastete das Gewicht des eingestürzten Daches. Es tropfte wie in einer Höhle. Bruch wagte sich weiter vor. Lief mit kurzen vorsichtigen Schritten. Es knisterte und raschelte. Das Haus musste unzähligen Mäusen, Vögeln und anderem Getier als Unterschlupf dienen. Leise knarrte etwas über ihm. Das war der Wind, der am Gebäude drückte und zerrte. Seltsam, dass alles leer stand und dem Verfall preisgegeben war, angesichts dessen, dass heutzutage jedes Grundstück seinen Wert hatte. Er fand einen Gang, prüfte den hölzernen Boden. Mehr tastend als sehend kam er an eine geschlossene Tür. Sie ließ sich nicht bewegen. Er lehnte sich mit seiner linken Schulter dagegen, schwang ein Stück zurück und warf sich gegen das Türblatt. Statt aufzugehen, knackte es laut, und die Tür, nichts als Pressspan und Pappe, brach durch. Bruch trat mit dem Fuß dagegen, brach sie ganz aus den Angeln. Der Raum dahinter war heller, durch zwei Fenster, eines ganz trüb, das andere vernagelt, drang Licht. Bruch trat über die Trümmer der Tür hinein, sah sich um. Es war ein Büro. Wie aus einer anderen Zeit. Der Schreibtisch, der Stuhl, die Regale, das Telefon auf dem Tisch, der hölzerne Spind, alles DDR -Standard. Die Tapete schälte sich von den Wänden. An der Decke und in den Ecken wucherte Schimmel. Eindeutig, dass dieser Raum seit der Wende oder kurz danach von niemandem mehr betreten worden war. Selbst Tiere hatten noch keinen Zugang gefunden. Bruch trat zurück in den düsteren Gang, entdeckte nun jedoch eine weitere Tür, die er zuvor in der Dunkelheit nicht gesehen hatte. Diese war auch verzogen, doch ließ sie sich öffnen. In diesem Raum standen in einer langen Reihe Tische und Stühle. Die Decke hing herab wie eine Regenplane, auf der sich das Wasser staute, es mochte nur noch eine Berührung fehlen oder eine leichte Erschütterung, und sie bräche herab. Der Raum, gleichermaßen Besprechungs- und Durchgangszimmer, besaß Fenster zu beiden Seiten. Die links auf der Längsseite, die sie vorhin passiert hatten, waren vernagelt, rechts die Fenster zum Hof waren zwar angelaufen, doch Bruch konnte hindurchsehen. Der Hof war wirklich sehr groß und vollgestellt mit schwerem Gerät, das früher Hunderttausende Mark wert gewesen sein musste. Traktoren waren zu erkennen, Zuggeräte für die Feldarbeit. DDR -Laster, Multicars, auch einen Wartburg erkannte Bruch. Alles war verrostet. Längst hatte die Natur das Gelände zurückerobert. Der teils gepflasterte, teils betonierte Boden war von Gräsern und Unkraut gesprengt, Birken wuchsen zwischen der Gerätschaft. Die drei Innenseiten des Hofes sahen noch ganz intakt aus, lagen windgeschützt. Jedoch konnte es nur noch eine Frage von wenigen Jahren sein, bis auch diese Fassaden zu bröckeln begannen und schließlich einbrachen. Bruch zog sich zurück. Er war hiergeblieben, um den hinteren Fluchtweg zu überwachen, nicht um das Gebäude zu erkunden. Er kehrte durch den Gang zurück, rutschte den Schuttberg mehr hinab, als dass er kletterte, und kaum war er unten angelangt, klingelte sein Telefon.
«Wir sind jetzt am Tor, sie brechen es auf!»
«Schick jemanden hinter. Wenigstens zwei Mann.» Er legte auf und wartete.
Es dauerte zwei Minuten, da vernahm er Schritte. Drei Uniformierte in Overalls kamen um die Ecke, zwei Männer, eine Frau.
«Beziehen Sie hier Stellung für den Fall, dass jemand versucht, sich zu entfernen», befahl Bruch und wollte sogleich den Schutthaufen wieder erklimmen.
«Sie meinen, wir sollen hier einfach stehen und warten?»
Bruch hielt inne. Die Anweisung war doch eindeutig gewesen. «Ja», antwortete er. Dann machte er sich auf. Diesmal hielt er sich nach rechts, als er oben angelangt war. Und hier schien es auch, als ob es einen schmalen Pfad gab, der durch den Staub und den Dreck auf dem Boden führte. Er schlängelte sich an herabhängenden Brettern und Deckenteilen vorbei, führte nach rechts durch die Öffnung einer eingestürzten Wand, dann wieder nach links durch eine offene Tür. Hier war es überall düster, wenn auch nicht ganz finster. Die Fenster auf dieser Seite waren von Pflanzen zugewachsen. Hier war der Pfad deutlicher auszumachen, er führte nun zu einem Treppenhaus, in dem die Farbe von den Wänden geplatzt und wie Laub zu Boden gefallen war. Das Dach hier war undicht. Wasser tropfte vom rostigen Geländer. Staub, Pollen und Pflanzenreste bildeten eine regelrechte Schicht auf den Stufen, nur in der Mitte der Stufen war zu sehen, dass hier jemand oder etwas gelegentlich entlanglief. Bruch stieg die Stufen hinauf. Auf dem ersten Podest fand er ausgebrannte Teelichter. Die Jugendlichen schienen sich also wirklich gelegentlich hier aufzuhalten.
Sein Handy klingelte wieder. Es war Schauer.
«Wo bleibst du denn jetzt?»
«Ich bin schon drin, ganz hinten. Von dir aus linke Seite.»
«Super, ich warte hier wie eine Dumme.» Jetzt war Schauer diejenige, die auflegte. Bruch steckte sein Handy weg, stieg weiter die Treppe hinauf. Oben angelangt fand er einen Wohnbereich vor. Er betrat ein Wohnzimmer mit Couch, Sesseln, Tisch und Schränken aus DDR -Produktion. Alles lag voll Staub und Blättern. Spinnweben hingen an den Wänden, so alt und dicht, dass sie ganz massiv erschienen. Die Gardinen waren vergilbt, das Holz der Fensterbänke vom eindringenden Wasser aufgequollen, der Lack geplatzt, voll mit Hunderten toter Fliegen. Durch eine weitere Tür ging es in eine kleine Küche. Sie sah aus, als wären die Bewohner gerade erst gegangen. Der Küchenschrank voller Utensilien, Gläser, Töpfe, Besteck, auf dem Küchentisch sogar noch Teller, eine offene Butterdose, ein offenes Honigglas, ein Messer. Bruch konnte es sich nicht anders erklären, als dass der letzte Bewohner vom Frühstück weggerufen wurde und nicht wieder zurückkehrte. Durch eine weitere Tür kam er in einen winzigen Raum, in dem ein zerwühltes Bett stand. Auch hier lag Staub in dicken Schichten, hatten Mäuse ihren Dreck hinterlassen. Ein kleiner Vogel lag tot unter dem Fenster. Bruch verließ die Wohnung wieder. Ihn verwunderte, dass die Jugendlichen sich nicht dieser Räumlichkeiten angenommen hatten. Gerade das Sofa und die Sessel hätten sich doch zum Abhängen angeboten.
«Uh, gruslig!», stöhnte Schauer, die plötzlich in der Tür stand.
Bruch hob die Schultern. Schauer betrat den Raum, sah sich ebenso um, wie er sich gerade umgesehen hatte. Nach wenigen Augenblick kam sie zurück, schüttelte in seltsamer Manie den Kopf.
«Was ist», fragte Bruch.
«Bedrückt dich das nicht?»
«Es ist eine verlassene Wohnung.»
«Eine alte Frau hat hier gelebt, sie ist vor circa anderthalb Jahren gestorben. Ich stelle mir vor, wie sie da am Tisch sitzt, ein Brötchen isst und einfach vom Stuhl kippt. Hat ein paar Tage gedauert, ehe man sie fand.» Wieder schüttelte sie den Kopf, stülpte dabei die zusammengepressten Lippen nach innen.
«Wie hieß sie?»
«Elisabeth Gessner. Ihr gehörte das hier alles.»
«Sie wohnte hier ganz allein?», fragte Bruch, und nun fühlte er doch mal etwas, nämlich mäßiges Erstaunen.
«Sieht so aus. Offenbar hatte sie hier hinten ihr kleines Refugium, das und den Garten. Eine funktionierende Toilette gab es offenbar nicht, zumindest haben wir noch keine gefunden. Die muss in den Garten gegangen sein. Hier gibt’s wirklich eine Menge Verstecke. Wird eine Weile brauchen, bis die hier alles durchsucht haben.»
Bruch deutete zum Fenster. «Da unten ist ein Teich mit Enten. Wer füttert die.»
Schauer stellte sich kurz auf die Zehenspitzen. «Die versorgen sich doch bestimmt selbst. Wollen wir mal nachsehen?»
Der Tümpel war in keinem besseren Zustand als das Haus und die kleine Wohnung darin. Was auch immer getan werden musste, um den Teich zu pflegen, es war nicht getan worden. Teile des Ufers waren abgesunken, fast drei Viertel waren von Schilf überwuchert. Die Zuchtenten waren halb verwildert, Wildenten hatten den Teich für sich entdeckt. Der Entenstall stand offen. Schauers größte Sorge war gewesen, einen verschlossenen Verschlag zu finden mit einem Dutzend verhungerter Tiere darin.
«Erben gibt es nicht?», fragte Bruch.
«Woher soll ich denn das wissen?», entfuhr es Schauer. Dass er offenbar die erstbeste Gelegenheit genutzt hatte, in das Haus einzusteigen, wurmte sie noch immer. Anscheinend hatte er sie nur loswerden wollen, indem er sie zum Tor schickte, damit er in Ruhe sein Ding machen konnte.
«Du wusstest auch den Namen der alten toten Frau.»
«Ja, stimmt, das haben die Kollegen schnell herausgefunden, aber das war es dann auch schon.» Konnte sein, dass sie ein wenig aggressiv war. Aber das mit der alten Frau beschäftigte sie. Warum wohnte die hier ganz allein in diesem riesigen Gebäude, halb verwahrlost? Warum starb sie ganz allein, und niemand bekam es mit? Grundsätzlich war das nichts Neues für sie. In Hamburg waren sie auch immer mal zu einem solchen Fall gerufen worden. Jemand nippelte ab, in seiner Wohnung in einem Block mit Hunderten Leuten drum rum, und niemand bekam es mit. Erst wenn es anfing zu stinken oder die halb verhungerten Haustiere verzweifelt an der Tür kratzten, nachdem sie von Herrchen oder Frauchen alles Essbare abgekaut hatten. Aber hier war es noch einmal etwas anderes. Diese Ahnung davon, wie es war, auf einem Hof zu leben, der früher voller Leben gewesen war. Im Frühjahr und zur Erntezeit musste es hier hoch hergegangen sein, da wurde Tag und Nacht gearbeitet. Da war immer jemand da. Und dann die Wende, alles brach zusammen, alle gingen davon. Der Mann starb, die Kinder waren weg, und schließlich war der Hof leer, nur die Frau da, inmitten dieser leeren Hülle. Ganz allein, ganz für sich, während der Sturm über die Hügelkuppe pfiff oder der Regen an die Fenster prasselte. Was mochte sie gedacht haben? Hing sie ihren Erinnerungen nach, war sie zu sehr mit ihrem Alltag beschäftigt? Begann sie zu verwahrlosen, ohne es zu bemerken? Wann hatte sie aufgehört, ihre Wäsche zu waschen, sich selbst? Wann hatte sie angefangen, aus Konserven zu essen oder mit sich selbst zu reden.
«Was ist?», fragte Bruch.
«Was geht’s dich an?», erwiderte sie und drehte ab. Nichts ist, nur Panik. Panik, genauso einsam zu enden. Und was vor ein paar Jahren noch ganz lächerlich schien, nahm langsam Gestalt an. Die Zeit begann knapp zu werden. Es gab immer mehr zu berichten, immer weniger Zeit, die man gemeinsam erleben konnte, sofern man überhaupt jemand fand, wegen dem man sogar in eine andere Stadt zog, eine neue Sprache lernen musste, um dann dort sitzen gelassen zu werden.
«Fahren wir zu der verdammten Schule», sagte sie, um Beherrschung bemüht. Sie rammte die Fäuste in die Jackentaschen.
«Trifft dich das so?», fragte Bruch.
Bin ich jetzt sein Studienobjekt, fluchte Schauer innerlich. «Ja, sieh es dir an!» Sie zeigte auf ihr Gesicht. «Das nennt man Emotion. Ist so ’ne Tradition bei Menschen. Zeigt man, wenn man sauer ist, oder traurig, oder wütend, gerührt, oder verliebt. In diesem Fall ist das eine Mischung aus Angst und Mitgefühl.» Sie schnappte nach Luft.
Bruch sah sie an, und nichts regte sich in seiner Miene.
Mensch, dachte sie sich, der Kerl hat wirklich ein Problem, er kann ja gar nichts dafür. «Tut mir leid. Komm jetzt!»