Förderzentrum Albert Schweitzer hieß die Schule, und in der Schulleitung wusste man gleich, wer Maria und Hermann waren.
Maria Horn hieß das Mädchen mit vollem Namen und Hermann Wenke der Junge.
«Was haben sie denn angestellt?», fragte die Sekretärin.
«In diesem Falle nichts, wir müssen sie als Zeugen befragen», antwortete Schauer. Eines Tages würde sie wohl tot in Ohnmacht fallen, sollte Bruch mal von sich aus das Wort ergreifen.
«Zeugen», wiederholte die Frau seufzend. «Ich geh sie mal holen. Warten Sie bitte hier.»
Kaum war die Sekretärin losgelaufen, kam die Schulleiterin aus ihrem Büro. «Die haben es beide nicht leicht. Kaum jemand hier», sagte sie. «Hermann wird daheim verprügelt, seit frühester Kindheit. Wir warten nur auf den Tag, an dem er zurückschlägt. Lang wird es nicht dauern. Und Marias Mutter hat die Familie verlassen, da war sie gerade mal fünf oder so. Wächst bei ihrem Vater auf, aber der …» Die Frau winkte ab. Schon hörten sie Schritte, und die Schulleiterin verstummte.
Die Sekretärin kam zurück, im Schlepptau ein junges Mädchen und einen großen Jungen, fast schon so groß wie Bruch. Das Mädchen war hübsch, aber wie ein Flittchen gekleidet, völlig überschminkt und zog ein Gesicht, das einen veranlasste, ihr ohne einen Grund eine scheuern zu wollen. Der Junge guckte ein bisschen dümmlich, vermutlich hatte er Angst, dass man ihm wegen irgendeiner Schweinerei auf die Schliche gekommen war.
«Sind Sie Bullen, oder so?», fragte Maria.
«Sind wir. Bruch und Schauer. Kripo.»
«Was wolln Sie denn?»
«Maria!», mahnte die Sekretärin, weil das Mädchen sich allzu lasziv an den Tresen gelehnt hatte.
«Wir suchen einen Oskar, einen Maddox und einen André.»
«Kennen wir nicht!», sagte Maria und wollte sich sogleich verabschieden.
«Du gehst erst, wenn wir es sagen!», sagte Schauer bestimmt. Sie mochte das Mädchen, trotz des mauligen Gesichts. Seit ihrem fünften Lebensjahr ohne Mutter. Sie kämpfte sich durch, auf ihre Weise. «Wir wissen, dass es eure Freunde sind und ihr zusammen abhängt. Wir müssen euch alle sprechen. Könnt ihr uns sagen, wo wir die anderen drei finden?»
«Die gehen auf die andere Schule drüben. Auf der Dings, wo auch der Skatepark ist», antwortete Maria, sah dann Hermann auffordernd an.
«Gamigstraße. Sind wir irgendwie verhaftet oder so?», fragte der Junge.
«Nein, aber ihr müsstet bitte mitkommen! Wir müssen euch alle gemeinsam befragen!» Das war dieselbe Schule, die auch Maxim und Celina besuchten.
«Heißt das, für heut ist Schluss mit Schule?», fragte Hermann.
Schauer hob die Schultern, nickte.
«Yesss!» Maria hob die Faust und zog am imaginären Schiffshorn.
Einerseits waren die fünf eigentlich noch Kinder, fasste sie für sich zusammen, andererseits schon Jugendliche, denen man unter bestimmten Umständen auch nicht begegnen wollte. Oskar, André und Maddox waren wie Hermann groß gewachsen, wobei Oskar sie alle überragte, stachen nicht durch übermäßige Intelligenz heraus, und über ihre Fähigkeit, Empathie zu empfinden, machte Schauer sich schon gar keine Illusionen. Sie hatten sich in der Schule in der Gamigstraße einen kleinen Raum erbeten und waren mangels besserer Alternativen in einem großen Kellerraum gelandet, der gleichsam Heizungskeller wie auch Abstellplatz war. Hier fanden sich überzähliges oder defektes Kleingerät aus der Turnhalle sowie alte Stühle und Tische, sodass man sich wenigstens setzen konnte. Während Maria das Ganze anscheinend noch immer für einen großen Spaß hielt, waren Hermann und die anderen Jungen nach anfänglichem Gestänker untereinander ziemlich ernst geworden.
Jetzt lümmelten sie auf ihren Stühlen, hätten vermutlich gern eine geraucht. Schauer warf einen fragenden Blick zu Bruch, der daraufhin keine Reaktion zeigte. Somit war das wieder einmal geklärt. Sie sollte sprechen und wusste noch nicht recht, wie zu beginnen. Sie wollte Informationen, ohne jemanden zu verschrecken.
«Wir haben euch zusammengetrommelt», begann sie, «nicht weil wir euch irgendetwas zur Last legen, sondern weil wir etwas wissen wollen. Uns wurde mitgeteilt, dass ihr euch gelegentlich in Goppeln aufhaltet. Stimmt das?»
«Ist ja nicht verboten, oder?», fragte Maria.
«Ist das ein Ja?»
«Ja, na und?»
«Was macht ihr da, und wie kommt ihr dahin, mit dem Bus?» Schauer sah von einem zum nächsten. Die Jungen schienen auf ihren Stühlen ein klein wenig herunterzurutschen.
«Mit Fahrrädern, wie denn sonst», übernahm Maria das Antworten.
Vermutlich hatten sie Mopeds gestohlen, oder sogar ein Auto, dachte sich Schauer. «Und was macht ihr da? Ist das nicht langweilig da?»
«Voll lame », stimmte Maria zu. «Waren auch ewig nicht mehr da!»
«Da gibt es einen alten verfallenen Bauernhof, seid ihr da mal gewesen?»
«Ja, auch mal, aber der ist auch voll öde.»
«Kennt ihr jemanden von dort? Kinder? Andere Jugendliche?»
«Nee, na ja, aus der Schule ein paar, vom Sehen, aber wir haben mit denen nichts zu tun, die denken, sie sind was Besseres.»
Schauer betrachtete die Jungen. Die waren allesamt stumm, und es könnte zwar sein, sie täuschte sich, aber sie schienen auffällig oft zu blinzeln, kratzten sich an den Hälsen, rutschten auf den Sitzflächen herum. Vielleicht gab es ja etwas, das Maria nicht wusste.
«Der Name Celina Kühn, sagt der euch was?»
Alle fünf taten, als dachten sie nach, schüttelten dann die Köpfe oder zogen die Mundwinkel herunter.
«Maxim Kühn? Kennt den jemand?»
«Der ist hier an der Schule», erwiderte Oskar. «Eine Klasse unter uns.»
«Ah, den kennt ihr also. Celina ist seine jüngere Schwester, auch hier an der Schule, und vielleicht habt ihr ja mitbekommen, die ist verschwunden. Maxim sagte, ihr hängt gelegentlich zusammen ab?»
Maria zuckte mit den Achseln, juckte sich unter ihrem Busen. Das mochte zufällig sein, doch Schauer war sich sicher, sie war sich ihrer Reize bewusst und wusste gut damit umzugehen. Nur dass sie hier bei beiden an der falschen Stelle war, bei ihr und bei Bruch.
«Also?», hakte Schauer nach.
Oskar gab als Erster nach. «Manchmal. Im Sommer öfter. Da sind wir an so einem See. Und in dem kaputten Hof waren wir auch mal, wie gesagt.»
«Wann habt ihr Maxim das letzte Mal gesehen?»
«Vorgestern in der Schule.»
«Nein, ich meine getroffen, privat. Wann wart ihr das letzte Mal in Goppeln?»
«Das ist ewig her», sprang Maria schnell ein. Sie schien die Wahrheit zu sprechen, zumindest für sich. Was die Jungen betraf, war sich Schauer inzwischen sicher, wusste Maria nicht alles. «Ihr?», sprach sie deshalb die Jungs noch einmal direkt an.
Sie regten sich unmerklich, wechselten Blicke. Keiner sagte etwas.
«Hört mal, Leute, es geht nicht darum, euch irgendetwas zum Vorwurf zu machen. Wir wollen Celina finden und suchen nach jedem kleinen Hinweis. Wann also seid ihr das letzte Mal da oben gewesen, wann habt ihr Celina das letzte Mal gesehen?»
Nun war es Hermann, der zuerst sprach. Wenn es stimmte, was die Schulleiterin gesagt hatte, musste er daheim wohl jederzeit mit dem Schlimmsten rechnen. «Letzte Woche waren wir oben. Wir sind in der Gegend herumgefahren, und wir waren auch noch mal bei dem Bauernhof, aber wir haben uns nicht reingetraut. Maxim war auch mit dabei und noch zwei, deren Namen wissen wir aber nicht mehr. Maxim seine Schwester, die wollte mitkommen, die ist verknallt.» Hermann nickte in Maddox’ Richtung.
«Halt’s Maul!», knurrte Maddox. Schauer sah ihn an. Er wurde rot.
«Ist dir das peinlich?»
«Was kann ich denn dafür? Die ist zwölf oder so.»
«Du kannst auch nichts dafür. Aber sie wollte mitmachen bei euch?»
«Ja», fuhr Hermann fort. «Aber wir haben die weggeschickt.»
«Ihr habt Celina also das letzte Mal vor einer Woche gesehen?»
«Nee, in der Schule noch vor zwei Tagen oder so», meinte Oskar.
«Und du», wandte sich Schauer an André, «sagst du gar nichts?»
«Der kann nur Russisch», Maddox lachte rau.
«Fresse!», knurrte André mit deutlich russischem Akzent.
«Fresse, Russe!», erwiderte Maddox.
«Russe!», nahm Oskar die aggressiv-freundschaftliche Spöttelei auf.
André zeigte den Mittelfinger, hob ihn dann zur Nase, roch daran. «Deine Mutter», feixte er hämisch.
«André, wie lang kennst du die alle?»
Der Junge hob die Schultern. «Seit Kindergarten.»
«Seit dem Kindergarten?», fragte Schauer. Wieso sprach er dann so ausgeprägten Akzent? Man sah ihr die Frage wohl an.
«Der spinnt bloß. Der spricht ganz normal. Der äfft nur seine Alten nach.» Maria sah sich zu André um, der ganz rechts saß. «Scheißrusse.» Sie leckte sich provozierend die Lippen.
André schenkte auch ihr den Mittelfinger, zog ihn sich erneut unter der Nase durch, brachte Maria damit tatsächlich zum Erröten.
«Ihr wisst, dass wir euch zur Einzelvernehmung mitnehmen können!», sprengte Bruch die traute Runde. «Ihr seid in dem Bauernhof gewesen, nicht nur einmal. Was habt ihr da gemacht, und wer war noch dabei?»
«Sie haben doch gesagt, Sie werfen uns nichts vor», murmelte Maria trotzig.
«Ihr erkennt den Ernst der Lage nicht.»
Nun war es der Russlanddeutsche, der antwortete. «Wir waren da, vor drei Tagen, Maria nicht, aber wir und Maxim und die zwei Freunde von ihm da. Maxims Schwester war nicht dabei.»
«Am Wochenende. Was habt ihr gemacht?»
André sah sich zu den anderen um, die senkten die Köpfe. «Na ja, wir wollten eine Mutprobe machen.» Er verstummte.
«Eine Mutprobe?»
«André hatte Schiss», flüsterte Hermann.
«Alle hatten Schiss!», betonte André. «Wir wollten über Nacht bleiben. Aber in dem Haus spukt es!»
«Das sagst nur du!», widersprach Oskar.
«Da drinnen spukt es!», beteuerte der Russlanddeutsche. «Ihr alle seid weggerannt!»
«Weil du gerannt bist! André glaubt an Geister», kicherte Oskar, doch das war nur aufgesetzt. Er glaubte es selbst.
Schauer trat André entgegen. «Erzähl mal!»
«Nichts», er winkte ab, «ich sag’s einfach nur, könnt ihr glauben oder nicht. Meine Mutter und meine Oma sagen auch, dass es Geister gibt. Ist ganz normal. In dem Haus soll eine alte Frau gelebt haben. Die war ganz lang da ganz allein. Zehn Jahre oder länger. Und dann ist sie gestorben, und keiner hat es gemerkt ein paar Wochen lang oder so, und nun ist ihr Geist in dem Haus gefangen. Und ich bin nicht weggelaufen aus Angst, sondern weil sie ihre Ruhe haben soll!»
«Jaja, genau, du hast gequiekt wie ein kleines Schweinchen! Uuuwwiiiiiik», Oskar konnte erstaunlich gut das schrille Quieken eines Ferkels nachahmen.
«Hör auf!», fuhr Schauer ihn an. «Was ist denn geschehen?»
«Ich hab sie gesehen!», sagte André finster.
«Die alte Frau?»
André nickte. «Aber als Devochka», raunte er. «Als Mädchen», korrigierte er sich ins Deutsche. «Trug ein weißes Kleid.»
«Der spinnt!», widersprach Oskar laut. «Wirklich, der verarscht Sie, es hat geknarrt, weil die Bude so alt ist und ganz kaputt, und wer weiß, wie viele Viecher da drinnen rumlaufen. Wir waren alle da, da war gar nichts. Der hatte nur Schiss, weil er an Geister glaubt! Wenn man an Geister glaubt, sieht man auch welche, sagt mein Alter.»
André verschränkte die Arme vor der Brust und drehte seinen Kopf weg.
«Aber gruslig ist es da schon», wagte Maria anzumerken.
Oskar schien am abgeklärtesten. «Na logisch, das ist ein krasser lost place, so ein altes verlassenes Haus, das Scheißgestrüpp dahinten, da wartest du doch nur drauf, dass Slenderman um die Ecke kommt.»
Maria zog einen Flunsch. «Und ihr wart ohne mich da? Ihr habt gesagt, ihr hättet keine Zeit.»
«Kann es denn sein, dass andere Kinder auch in der Ruine waren? Habt ihr mal welche gesehen, oder sind euch welche gefolgt?», fragte Schauer, die bemerkt hatte, wie sie vom eigentlichen Thema abgewichen waren. Und am Wochenende konnte André kein Mädchen da gesehen haben, zumindest keine Celina, denn da war sie noch nicht verschwunden gewesen.
«Kann sein», meinte Oskar, «kann ja auch sein, dass Maxim mit seiner Schwester da rein ist! Aber wir haben mit der Celina nichts zu tun!»
«Was hältst du von denen?», fragte Schauer ihn, als sie wieder im Auto saßen.
Bruch hatte die ganze Zeit schon darüber nachgedacht. Die fünf bildeten ein seltsames Gespann. Maria mochte sich gern mit Jungen umgeben, vielleicht hatte sie ein Auge auf einen geworfen. Andrés Geste schien unmissverständlich, ihr Erröten ebenfalls. Die anderen Jungen mochten glauben, dass sie auch eine Chance bei ihr hätten. Oder sie waren einfach nur Freunde, die gern zusammen waren. Beides Dinge, die in seinem Denken derzeit keinen Platz fanden. Nichts von beidem reizte ihn auf irgendeine Art.
Dazu kam, dass die Jungen Maria letztes Wochenende ausgeschlossen hatten. Warum, war die Frage. Wäre es nicht reizvoll gewesen, sie dabeizuhaben, wenn man schon irgendwo übernachtete, und sei es in einem Geisterhaus. André glaubte an Geister. Ganz fest. Sie existierten für ihn wie Menschen und Tiere und Steine.
Und was war sein Gefühl gewesen, als er hinter dem Haus stand, dessen Dach nur noch nicht eingestürzt war, weil es von den anderen Hausteilen gestützt wurde? Da war ihm gewesen, als beobachtete ihn jemand. Er hatte gelegentlich solche Anwandlungen, jedoch nicht, wenn er die Tabletten nahm. Aber hatte er sie denn genommen? Er wusste es nicht. Nicht für gestern, nicht für heut. Dass jetzt die Neue da war, machte es nicht besser, es brachte Unruhe, brachte ihn um seine letzten klaren Gedanken, mit ihrer Fragerei und ihren unausgegorenen Komplexen, die sie ständig beleidigt sein ließen. Er spürte, wie er aus dem Gleichgewicht geriet, wie der Tunnel, in dem er sich befand, Risse und Löcher bekam.
Doch so viel hatte er noch mitbekommen, etwas gab es, das André und Maddox von Oskar und Hermann unterschied. Die beiden wirkten genauso abwehrend wie Maxim.
Am Wochenende konnte nichts geschehen sein, denn Celina war am Montag noch daheim gewesen, am Dienstag erst verschwunden. Was, wenn an diesem Dienstag noch etwas vorgefallen war, von dem nur André, Maddox und Maxim etwas wussten? War es mehr als der Geschwisterhass, der Maxim so zornig erscheinen ließ? War etwas geschehen? Zu komplex, seine Gedankengänge jetzt zu erklären.
«Keine Ahnung», sagte er.
«Keine Ahnung?», fragte Schauer. «Du denkst über eine Antwort fünf Minuten nach und sagst dann, keine Ahnung.»
Sie äffte sogar seinen Tonfall nach und traf ihn ganz gut.
«Was war denn das?» Schauer riss Mund und Augen auf in theatralischem Staunen. «War das ein Lächeln? Wen muss ich anrufen? Den Notarzt? Das Katastrophenschutzamt?» Ihr Telefon begann zu klingeln.
«Schauer? Ja. Aha, wir kommen!» Sie legte auf.
«Das war Püschel von der Einsatzleitung. Sie sind noch beim Hof. Sie haben nicht Celina gefunden, aber sie haben etwas gefunden. Wir sollen es uns ansehen.»
Dieses Mal stand das Tor zum Hof ganz offen, sodass sie einfahren konnten. Der Regen hatte nachgelassen. Eine größere Gruppe Bereitschaftspolizisten hatte sich um einen Bus versammelt. Sie tranken Heißes aus Bechern, aßen oder rauchten. Ein Uniformierter kam Schauer und Bruch entgegen, wies ihnen den Weg zur linken Seite des Gehöftes, wo ein großes Scheunentor offen stand.
«Hauptkommissar Püschel wartet dort auf Sie!»
Wie der Hof stand auch die Scheune voll mit Geräten. Man hatte einige Scheinwerfer aufgebaut. Trotzdem war es nicht ganz ungefährlich, sich zwischen den abgestellten Maschinen und Feldgeräten hindurchzuschlängeln. Es roch nach uraltem Heu, nach Holz, nach altem Maschinenöl, nach Moder und Schimmel.
«Hier hinten!», rief Püschel, winkte mit einer Taschenlampe.
Bruch hatte Schauer den Vortritt gelassen, sah nach oben. Es ging weit hinauf. Bis zum Zwischenboden mussten es zehn Meter sein. Bestimmt hatte man hier früher Heuballen gestapelt.
«Passen Sie auf, da geht es abwärts!» Püschel fuchtelte mit dem Lichtstrahl, ließ ihn um eine Stelle kreisen. Es handelte sich um eine Art betonierten Schacht oder eine Grube, von der aus man die Unterseite von Fahrzeugen warten konnte.
Püschel erwartete sie an einer Tür, die aus der Scheune in den nächsten Gebäudeteil führte. «Hier geht es zu einem Treppenhaus», erklärte er, «aber sehen Sie hier!» Er leuchtete in das Treppenhaus hinein, nach oben. Der erste Teil der Treppe, die hinaufführte, war noch intakt, der zweite Teil nach dem Podest aber war abgebrochen und komplett hinuntergestürzt. Der Schutt häufte sich auf der Treppe, die in den Keller hinabführte.
«Wir gehen davon aus, dass das erst vor Kurzem passiert sein muss. Die Bruchstellen sehen ganz frisch aus, sehen Sie!»
Er leuchtete entsprechende Stellen an. Es war eindeutig, die Bruchstellen waren viel heller, ganz scharfkantig, frei von Spinnweben.
«Denken Sie?» Schauer sprach es nicht aus, zeigte auf den Schuttberg.
«Wir gehen nicht davon aus, dass sie dort liegt. Es ist schon jemand hinuntergeklettert und hat geleuchtet.»
«Sie gehen nicht davon aus?», fragte Schauer, die wohl nie nachgeben konnte.
«Wir sind sicher!», konkretisierte Püschel.
«Celina könnte tödlich verunglückt sein, bei dem Ausflug hier in den Hof, und die Jungen haben den Leichnam beiseitegeschafft», sagte Bruch.
«Ist das dein Ernst?», fragte Schauer und sah ihn abschätzend an. Sie musste aber zugeben, dass sie kurz auch den Gedanken hatte: Es würde einiges erklären, vor allem das Verhalten von Celinas Bruder. Aber würde ein Bruder den Leichnam seiner Schwester verschwinden lassen, musste ihn das Gewissen nicht erdrücken?
Es war sein Ernst, ahnte sie. Und so wie Bruch sich gab, traute sie ihm zu, dass er als Kind dasselbe erlebt hatte. Vielleicht hatte er deshalb so einen Schuss in der Waffel.
«Kann ich mal?», bat sie, streckte die Hand nach Püschels Taschenlampe aus.
«Wollen Sie da runter?»
Schauer behielt ihre Hand ausgestreckt. Püschel gab ihr die Lampe.
«Viele Teile sind lose, Sie müssen schauen, wo Sie sich festhalten!»
«Ich komm schon klar!» Schauer stieg die ersten zwei Stufen hinab, musste sich auf ein großes Trümmerteil setzen, das im Wege lag, schwang die Beine darüber. Als sie die Füße aufsetzte, kam ein wenig Schutt ins Rutschen. Sie suchte nach einem festen Tritt, balancierte auf der Innenseite der Treppe weiter hinunter. Ein kleines Stück weiter unten kam sie auf die Idee, über das Geländer zu steigen, um sich daran entlangzuhangeln. So kam sie ein gutes Stück hinab, bis zum Zwischenpodest. Dort gelang es ihr, auf die letzte Halbtreppe nach unten zu steigen. Sie hockte sich nieder, leuchtete mit der Lampe zuerst in den Spalt zwischen der herabgestürzten und der eigentlichen Treppe. Darin war tatsächlich nichts auszumachen, Püschel hatte recht. Dort lag Celina nicht, auch kein Blut, und eigentlich war das eine gute Nachricht, denn das hätte niemand überlebt. Aber ausgeschlossen war nichts. Man konnte auch blöd stürzen und sich das Genick brechen ganz ohne Blut. Schauer richtete sich auf, leuchtete den Boden ringsum ab, schob mit der Fußspitze Staub und Gestein beiseite, suchte nach anderen verdächtigen Spuren.
«Ich habe angeordnet, die Teiche in der näheren Umgebung abzusuchen. Es wird eine Weile brauchen, das zu organisieren, aber die Taucher sind schon bestellt», sprach Püschel oben mit Bruch. Der wird sich wundern, dachte Schauer, genauso gut könnte er mit einer Statue sprechen. Aber vermutlich kannte der den schon, hier kannte bestimmt jeder jeden. Sie stieg noch die letzten Stufen hinab, leuchtete in den Kellergang rechts und links, der ganz aus Feldsteinen gemauert war und den Eindruck machte, als ob er nicht erst fünfzig oder hundert, sondern dreihundert Jahre alt wäre.
«Gibt’s das Haus schon lang hier?», rief sie nach oben.
«Also der Alte hier, dieser Jolisch, meinte, hier gäbe es schon sehr lange eine Siedlung, manche vermuten, schon seit tausend Jahren. Wurde zwölfhundertirgendwas das erste Mal erwähnt. Hier gab es ja auch ein Kloster, oder gibt es sogar noch. Und die Schweden waren hier im Dreißigjährigen Krieg, zweimal sogar. Hier soll auch Napoleon mal durchgereist sein. Können Sie alles den Jolisch fragen.»
Schauer duckte sich, trat tiefer in den Gang hinein. Ein wenig unwohl fühlte sie sich schon, doch sie wusste die beiden Männer über sich. Auf dem erdigen Boden erkannte sie Schuhabdrücke.
«Sie haben hier unten auch alles durchsuchen lassen?», rief sie.
Püschel antwortete, doch sie verstand ihn nicht. Als sie sich umdrehte, schlug sie sich die Stirn an einem Holzpfosten ein, der aus der Wand ragte. Sie hörte es leise knirschen, und schon fühlte sie, wie es warm über ihre Augenbraue lief. Sie presste sich die Hand auf die Stirn und fluchte leise in sich hinein. Nicht der Schmerz störte sie, da hatte sie Schlimmeres erlebt, dagegen war das hier ein Witz, aber dass sie jetzt wochenlang mit dieser Blessur auf der Stirn herumlaufen musste, noch dazu mit kurzen Haaren. Keine Chance, etwas zu verdecken. Ohne etwas zu sagen, stieg sie die Treppe wieder hinauf, am Podest angelangt musste sie die Hand von der Stirn nehmen. Sogleich lief das Blut wieder, tropfte als schmales, aber stetiges Rinnsal von ihrer Braue.
«Was ist denn mit Ihnen?», rief Püschel besorgt. «Warten Sie!» Schon kletterte er über die abgestürzte Treppe zu ihr hinunter, half ihr übers Geländer und den Schutt hinauf.
«Danke schön!», sagte Schauer demonstrativ.
«Ich bring Sie mal raus, da ist ein Sani!»
«Das ist nicht so schlimm, kann ich klammern.» Der Sanitäter tupfte an ihrer Stirn herum, desinfizierte ohne Vorwarnung die Wunde, was ordentlich zwiebelte, danke schön!
«Blutet meist eine Weile vor sich hin.»
Schauer schwieg zu dem Gerede. Ihr war gerade bewusst geworden, dass sie nicht nur eine Blessur haben würde, sondern auch noch einen weißen Verband um den Kopf.
«Ist das der Bruch, Ihr Kollege da?»
«Hm!» Sie hatte die Augen geschlossen, ließ die Behandlung über sich ergehen.
«Sie sind neu, oder? Kennen Sie die Geschichte mit dem Unfall?», fragte der Sanitäter.
«Sein Kollege starb.»
«Na ja.»
Schauer öffnete die Augen. «Na ja? Was heißt, na ja? Ist er nicht gestorben?»
«Doch, schon, aber es heißt …» Den Sani überkam anscheinend plötzlich ein schlechtes Gewissen, dass er so tratschte. Er winkte ab. «Na, ist egal!»
«Nee, nichts mit egal. Erst anfangen, dann Skrupel bekommen. Was war mit dem Unfall?», fragte Schauer und hielt den Mann am Handgelenk fest, weil er so geschäftig vor ihrem Gesicht herumwurstelte.
«Na ja», versuchte der Typ sich aus der Zwangslage zu winden. Dann senkte er die Stimme. «Es heißt, er hätte helfen können und hat es nicht getan.»
Schauer ließ den Mann los. «Das sagt sich immer leicht, wenn man nicht dabei war.» Sie hasste dieses dumme Gequatsche. Klar, wenn Bruch so ein Außenseiter war, dass sich alle das Maul über ihn zerrissen. So wie es hieß, man hätte jemanden halb totgeschlagen, nur weil er mal eine gefangen hat und unglücklich stürzte. Dass der Typ sturzbesoffen gewesen war, sie angefallen hatte, davon war dann keine Rede mehr. Was konnte sie dafür, dass der gleich ausnullte.
Der Sanitäter wiegte den Kopf. «Ja, stimmt, es heißt aber … Drücken Sie mal so», er nahm ihre beiden Zeigefinger und führte sie an die entsprechende Stelle, dann holte er die Klammerpflaster aus der Verpackung. Er beugte sich über sie. «Es heißt, er habe seinen Kollegen im Auto verbrennen lassen und seelenruhig zugesehen», flüsterte er, während er ihr die Wunde klammerte.
«Sein Kollege ist verbrannt?»
«Ja, ein Autounfall, der Bruch wurde rausgeschleudert, der andere, Bartko, blieb drinnen. Als die Feuerwehr kam, brannte die Karre. Alle sagten, Bruch hätte ihm helfen können.»
«Vielleicht stand er unter Schock», versuchte Schauer zu relativieren. Doch auch wenn sie dagegen anzukämpfen versuchte, weil sie nicht vorschnell urteilen wollte, so schien es doch gut auf Bruch zu passen, dazustehen und zuzusehen, wie man verkohlte.
«Ja, vielleicht», sagte der Sani und meinte, ganz bestimmt nicht.
«War er denn verletzt?»
Der Sani beugte sich wieder näher, während er nun begann, ihr eine Mullbinde um den Kopf zu wickeln. «Gar nicht, bis auf ein paar Schürfwunden. Ich weiß das nur, weil eine Freundin von mir beim Polizeiärztlichen Dienst arbeitet.»
«Und sonst, wurde er auch psychologisch betreut?» Nun waren sie schon einmal dabei, alles wie Klatschtanten zu bequatschen, da konnte sie auch das noch erfahren.
«Hat er alles abgelehnt», flüsterte der Sani. «So, fertig!», sagte er dann laut und errötete heftig.
«Dann können wir zu den Kühns fahren», bestimmte Bruch, der inzwischen fast lautlos herangekommen war.
Er wusste, was die Leute sprachen. Es gab keinen Grund, sich deshalb zu beschweren. Leute redeten immer, ob sie nun die Wahrheit wussten oder nicht. Und selbst wenn sie die Wahrheit wussten, bogen sie diese zurecht, und noch lieber war es ihnen, sie wüssten die Wahrheit nicht, denn dann konnten sie sich ihren Teil frei denken. Es war ihm auch bewusst, dass es nicht lang dauern würde, bis Schauer davon erfuhr. Auch das konnte ihm egal sein, denn sie hatte sicherlich vor, wieder von hier zu verschwinden. Vielleicht blieb das verschwundene Mädchen ihr einziger gemeinsamer Fall.
Er blieb stumm. Er wollte nicht wissen, was der Sanitäter ihr genau erzählt hatte. Es machte keinen Unterschied. Michael war tot. Das war das Einzige, was man wissen musste.
Als sie bei der Siedlung angelangt waren, erkannte eine Reporterin sie und steuerte direkt auf ihr Auto zu. Bruch stieg aus dem Wagen, sah der Frau direkt in die Augen, die Hände in den Jackentaschen. Kurz bevor sie den BMW erreichte, überkamen sie wohl Zweifel, ob er der Richtige für ein Interview wäre. Deshalb bog sie zu Schauer ab.
«Wondrak von RTL », stellte sie sich schnell vor. Schon wurden andere auf sie aufmerksam. «Kann ich Sie fragen, gibt es Fortschritte? Stimmt es, sie wollen die Teiche absuchen lassen? Denken Sie, dass Celina ertrunken ist?»
«Wir können nichts sagen», erwiderte Schauer. Sie wollte nach links ausweichen, doch die Reporterin stellte sich ihr in den Weg.
«Es muss doch aber Anhaltspunkte geben. Stimmt es, dass Sie einen Sexualstraftäter im Visier haben?»
«Es gehört zur üblichen Prozedur bei solchen Fällen, dass man alle Möglichkeiten in Betracht zieht», erwiderte Schauer. Bruch blieb stehen, nahm sich vor einzuschreiten, sollte die Frau zu aufdringlich werden. Inzwischen war der Kameramann herangetreten, filmte von der Seite, schnitt Schauer den Weg nach links ab, sodass sie nach rechts ausweichen musste.
Als die Reporterin ihr ein zweites Mal in den Weg trat, verhärteten sich Schauers Gesichtszüge. Bruch trat an sie heran. «Gehen Sie beiseite», sagte er leise. «Sie behindern die Polizeiarbeit.»
Die Frau besann sich, gab den Weg frei. «Ist es wahr, dass der Mann, der an Celinas Schule gesehen wurde, ein entlassener Sexualstraftäter ist?», hakte sie trotzdem nach.
Bruch ignorierte sie einfach, gab Schauer ein Zeichen, es ihm gleichzutun.
«Danke», sagte Schauer leise, als sie die Haustür der Kühns erreicht hatten.
Bruch klingelte. «Du hättest sie geschlagen.»
«Ach, spinn doch nicht», schnaubte Schauer.
Bruch diskutierte nicht. Er wusste es.
«Ist Maxim da?», fragte er, kaum dass Herr Kühn geöffnet hatte.
«Nein.»
«Dann müssen wir mit Ihnen sprechen!» Bruch trat vor, zwang Celinas Vater zurückzuweichen.
«Wissen Sie von dem alten Bauernhof am Ortseingang?»
Frau Kühn kam aus der Küche, hielt ein Wasserglas in der Hand. «Die letzte Bewohnerin starb vor knapp zwei Jahren. Er steht leer jetzt. Die Kinder finden das spannend, wollen immer dahin, aber wir verbieten es.»
«Maxim ist gelegentlich dort, mit Paul und einem anderen Freund und mit einer Gruppe Jugendlicher, die er aus der Schule kennt.»
«Wir haben es aber verboten. Es ist zu gefährlich. Und außerdem …»
Bruch sah sie an, wartete auf das Ende des Satzes.
«Was ist außerdem?», fragte Schauer.
«Ach, das ist Blödsinn. Die Leute sagen, es spukt. Wir glauben nicht, dass es spukt. Höchstens, dass sich dort Leute aufhalten.»
«Leute?»
«Manche sagen, Obdachlose. Wir denken, dass es dort vielleicht ein Hehlerlager gibt. Es wurden immer mal ein paar Männer gesehen, die sich verdächtig benommen haben.»
«Verdächtig», fragte Bruch. Dass man den Leuten immer alles aus der Nase ziehen musste. Es ermüdete ihn und ließ ihn jeglichen Antrieb verlieren.
Schauer verlor die Geduld zuerst. «Sie meinen Syrer? Nordafrikaner? Afghanen?»
Frau Kühn nickte und zog gleichzeitig die Schultern hoch.
«Da drin ist kein Hehlerlager, wir haben das Gelände und die Gebäude durchsucht. Aber die Kinder waren da, nicht nur einmal sicherlich. Es ist gefährlich da. Jederzeit kann etwas einbrechen. Es ist etwas eingebrochen! Ist es möglich, dass Maxim seine Schwester dorthin mitgenommen hat?»
«Auf keinen Fall!»
«Auf keinen Fall?», fragte Schauer. «Warum nicht?»
«Weil …»
Es gab keinen Grund. «Wer sagt, dass es dort spukt?», fragte Bruch. Auf Schauers Stirn zeigte sich ein kleiner roter Fleck auf dem Verband. Das Glas in Frau Kühns Hand zitterte.
«Ach, die Leute. Der Alte. Manche behaupten, nachts Lichter gesehen zu haben.»
Schauer sah ihn an. Fragend. Er nickte. Sollte sie reden.
«Es besteht die Möglichkeit, dass Celina mit ihrem Bruder und den anderen in dem Haus war, dass sie möglicherweise bei einem Unfall ums Leben kam und Maxim geholfen hat, das Ganze zu vertuschen, aus Angst vor den Konsequenzen.»
Frau Kühns Mund klappte auf. Herr Kühn erstarrte, begann ein wenig zu schwanken, als kippte er gleich um. «Das ist ja völlig absurd!», stieß er hervor.
Warum die Leute das sagten. Es war nicht absurd. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Kind beim Spielen ums Leben kam. «Wo war Maxim vorgestern Abend?»
«Hier, hier daheim!» Kühn sah zu seiner Frau, die nickte bestätigend.
«Die ganze Zeit?», fragte Bruch.
«Die ganze Zeit. Er hat oben auf seinem Zimmer gezockt!»
Konnte man das nachprüfen? Konnte man sich aus dem Haus schleichen und unbemerkt zurückkehren, wenn die Eltern es gewohnt waren, dass man stundenlang in seiner Bude hockte?
Frau Kühn hatte die Fassung wiedergewonnen. «Dieser Mann, den Sie uns zeigten. Stimmt es, dass er ein Sexualstraftäter ist? Wird er beobachtet? Denken Sie, er hat Celina irgendwo eingesperrt?»
«Er wird beobachtet», bestätigte Bruch.
«Können Sie ihn nicht verhaften? Verhören?»
Was sie wirklich wollte, blieb unausgesprochen. Dieser Wunsch war verzeihlich. Sie hatte Angst um ihr Kind. Und wenn es der Falsche war, den sie folterten. Damit musste man rechnen. In den Augen dieser Leute und anderer hatte er sein Leben sowieso verwirkt. Hier gab es jetzt nichts mehr zu holen. Bruch wendete sich ab.
«Wenn Maxim zurückkommt, soll er sich melden», hörte er Schauer sagen. Im Flur angelangt, verdunkelte sich die Glaseinfassung der Haustür für einen Moment. Bruch trat ein Stück zurück, sah durch das kleine Seitenfenster. Maxim war gerade mit seinem Fahrrad angekommen, er stellte es so ab, als wollte er gleich wieder los. Jetzt stieg er die zwei Stufen hinauf, öffnete die Tür mit seinem Schlüssel. Er schwitzte, schniefte, zog den Naseninhalt hoch. Als er Bruch im Flur stehen sah, hielt er inne.
Es entsponn sich ein Blickduell. Ein paar Sekunden standen sie ganz still. Bruch hörte etwas. Ein leises Knacken.
«Was machen Sie denn da?», fragte Frau Kühn.
Bruch wusste, was es war. Schauer hatte die Terrassentür geöffnet. Wollte sich außen heranpirschen, Maxim den Fluchtweg abschneiden.
Der Junge schaltete unerwartet schnell. Er fuhr herum, wollte aus der Haustür und prallte mit Schauer zusammen, stieß sie so hart von sich, dass sie auf ihren Hintern fiel. Maxim packte sein Rad, riss es am Lenker herum, rannte los und sprang auf.
«Maxim!», schrie ihm seine Mutter, die zur Tür gerannt war, hinterher. «Na toll!», fuhr sie dann Bruch an. «Jetzt ist auch noch er weg!»
«Warum läuft er denn davon!», schnauzte Schauer zurück, ließ sich von Bruch hoch helfen, der ihr die Hand gereicht hatte.
«Keine Zeit», mahnte Bruch, er hatte ihr nicht aus Menschenliebe aufgeholfen. Gemeinsam rannten sie zum Auto, vorbei an den Übertragungswagen, in denen gelangweilt die Kameracrews saßen. Schauer öffnete von Weitem schon den Wagen. Sie sprangen hinein und fuhren los, um gerade noch zu sehen, in welchen Weg Maxim einbog.
Schauer beschleunigte bis zur nächsten Kreuzung, bremste dann scharf und lenkte ein. Das Heck brach ein wenig aus, doch schon beschleunigte sie wieder, einen recht steilen Hang hinab.
«Dort», sagte Bruch. Maxim war gar nicht diese Straße hinuntergefahren. Er hatte in einer Einfahrt gewartet und fuhr nun in entgegengesetzter Richtung davon. Schauer bremste wieder hart.
«Rückwärts», befahl Bruch, doch Schauer hatte schon in eine weitere Einfahrt eingelenkt, wendete, verlor dadurch aber wertvolle Zeit. Auf der regennassen Straße drehten die Reifen zuerst durch. Als sie endlich wieder an der Kreuzung angelangt waren, war von dem Jungen nichts mehr zu sehen. Er konnte in Richtung Dresden, in Richtung Bannewitz oder zum Autobahnzubringer gefahren sein, und ebenso gut konnte er sich irgendwo verstecken.
«Den hätten wir auch so nicht bekommen», verteidigte sich Schauer, ohne dass Bruch etwas gesagt hatte. Der Blutfleck auf ihrem Verband war größer geworden. Unschlüssig was zu tun, blieb sie an der Kreuzung stehen. Von hinten näherte sich ein Auto, hupte kurz, sie winkte es mürrisch vorbei.
«Passt ja zu unserer Theorie, dass der jetzt abhaut.»
«Er hat Angst», sagte Bruch.
«Logisch, wenn der wirklich seine Schwester auf dem Gewissen hat.»
Bruch schwieg dazu, aber so meinte er das nicht. Es war kein pubertärer Trotz, kein Geschwisterhass, kein schlechtes Gewissen. Es war Angst. Was ihn flüchten ließ, war nicht die Angst, etwas gestehen zu müssen. Er fürchtete sich vor etwas anderem.
«Fahren wir noch mal zu Jolisch. Ich will etwas über den Bauernhof wissen», sagte er.
«Warum?» Sie sah ihn fragend an.
Er konnte nichts erwidern. Es war alles gesagt. Kopfschüttelnd gab sie auf und fuhr los.
Er machte ihr Vorwürfe. Auch wenn er nichts sagte, auch wenn er wie immer keine Miene verzog. Hätte sie den Rückwärtsgang reingeschoben und wäre einfach zurückgestoßen, hätten sie nicht die entscheidenden Sekunden verloren. Wäre zwar ein bisschen riskant gewesen, hätte ja ein Auto runterkommen können, oder eine Kindergartengruppe hätte die Straße überquert, aber hey, das juckt den doch nicht. Und jetzt wollte er wieder zu dem Alten. Reine Zeitverschwendung in ihren Augen. Keine Spur von dem Kind. Maxim müssten sie kriegen, Verstärkung bestellen. Wenn sie eines nicht hatten, dann Zeit. Und allein der Gedanke an die verkeimte Kaffeetasse und den Altemännergeruch ließ sie ausheben.
Dafür hatte sie augenblicklich eine bessere Idee. Sie beschleunigte, anstatt vor Jolischs Grundstück zu verzögern, fuhr vorbei, bemerkte nur im Augenwinkel, wie sich Bruchs Kopf mit Blick auf das Haus des alten Mannes drehte. Dann sah er wieder nach vorn, ohne etwas zu sagen.
Ich bin auch wer, dachte Schauer. Ich bin auch wer. Auch wenn bestimmte Menschen immer wieder versuchen, mir das Gegenteil weiszumachen. Sie durchquerte den alten Ortskern und hielt vorm Bäcker.
«Willst du auch was?», fragte sie. Der Regen nahm plötzlich zu, prasselte aufs Autodach, die Scheibenwischer verausgabten sich.
Bruch schüttelte knapp den Kopf. Konnte es sein, dass sich sein Gemüt aufhellte, wenn der Regen nachließ und der Himmel aufklarte, und sich wieder verfinsterte, sobald sich die Wolkendecke schloss? Oder ließen die Wofürauchimmer-Tabletten schon nach?
Sie wartete kurz, bis der Regen wieder ein wenig nachließ, stieg aus, beugte sich noch mal hinab, um ins Auto zu sehen. «Es ist fast Mittag, wir Menschen essen meist etwas um diese Zeit.»
Bruch schüttelte den Kopf.
«Spät heute», begrüßte die Verkäuferin sie und lächelte.
«Heute durften wir ausschlafen», nahm Schauer den Scherz auf. Das unterschied sie von dem Automaten da draußen, dass sie kommunizierte, auch wenn sie eigentlich keinen Bock dazu hatte. «Ich hätt gern ein belegtes Brötchen, das da, mit Schinken.» Sie betrachtete die Auslage. «Und so ein Obsttörtchenteil!» Mit einem Mal hatte es sie überkommen. Das Ding sah aus, als wäre es künstlich, bunt und glänzend, als wäre es lackiert, gleich würde die Verkäuferin sagen, es ist nur zur Dekoration. Doch die Frau nahm es und packte es ein. Das würde sie sich schön genüsslich vor Bruch zwischen die Kauleisten schieben und die Karre mit Mürbeteig vollkrümeln.
«Der alte Bauernhof», begann sie, und noch ehe sie den Satz beendete, sah sie, wie sich der Gesichtsausdruck der Frau änderte, «wem gehört der denn?»
«Zurzeit wohl niemandem, da lebte eine alte Frau, die ist aber gestorben. Muss fast zwei Jahre her sein. Kaffee?»
«Heute nicht, nein. Das ist ja bestimmt diiie Attraktion für alle Kinder im Ort, oder?»
Die Verkäuferin wiegte den Kopf. «Ist ja eher gefährlich. Ein Teil ist schon vor ein paar Jahren eingestürzt. Macht sechs achtzig.»
Schauer nahm ihr Portemonnaie heraus, fischte einen Zehner heraus. «Sieben. Ein paar Leute haben uns gesagt, da drinnen spukt es. Vielleicht der Geist der Verstorbenen.»
Das Gesicht der Verkäuferin wurde ernst, sie ignorierte Schauers Geste, legte drei Euro und zwanzig auf die flache Geldschale. «Darüber sollte man keine Scherze machen! Danke schön, auf Wiedersehen.» Noch ehe Schauer Brötchen, Kuchen und Geld an sich genommen hatte, zog sie sich in den hinteren Raum zurück.
«Sie glaubt es selbst», sagte Bruch, als Schauer sich ins Auto setzte.
Das dachte sie sich auch, aber konnte er Lippen lesen, oder war er wirklich so ein Freak, der alle Menschen durchs Angucken durchschaute? Sie legte das eingepackte Brötchen ins Seitenfach, das eingepackte Törtchen stellte sie auf dem Armaturenbrett ab. Sie hatte die Lust verloren, es zu essen. Was ihr gerade noch lustig erschienen war, war einfach nur dumm.
Dafür klingelte ihr Telefon jetzt. Sie nahm es heraus. «Warum rufen die mich jetzt eigentlich immer an?», fragte sie sich nach einem ersten Blick. Aber die Antwort wusste sie bereits.
«Schauer.»
«Buchholz hier, Berger bewegt sich. Er hat seine Wohnung verlassen, ist in den Bus gestiegen. Er fuhr zuerst in die Stadt. Am Fritz-Förster-Platz ist er umgestiegen, bewegt sich offenbar in Richtung der Schule auf der Gamigstraße. Er müsste in zehn Minuten etwa da sein. Falls Sie der Sache persönlich nachgehen wollen, die Kollegen hängen aber dran!»
«Ja, danke, ich denke, wir fahren auch mal hin!» Sie legte auf. «Wie kann der so dämlich sein? Der will doch jetzt nicht dahinfahren, um Gras zu verticken. Der muss sich doch denken können, dass wir ihn beobachten.»
«Wir müssen da nicht hinfahren.»
«Nee?» Natürlich nicht, der Herr hat eigene Pläne.
«Berger ist nicht relevant für uns.»
«Ach nee? Aber dieses Haus? Kommt dir nicht der Gedanke, die wollen uns mit dem Geschwätz über das Haus irgendwie ablenken?»
«Wovon sollte die Bäckerin dich ablenken wollen», fragte Bruch zurück.
«Wir können aber den Berger nicht ignorieren. Selbst wenn der wirklich nur», sie malte Anführungszeichen in die Luft, «so dumm ist, tatsächlich Dope zu verkaufen.»
«Dann fahren wir», sagte Bruch, und Schauer kam nicht dazu, darüber erstaunt zu sein, wie schnell er sich überreden ließ, denn er überraschte sie sogleich noch einmal. «Ich will heute in dem Haus übernachten.»
Schauer musste auflachen, ihr wurde jedoch gleich bewusst, Bruch war niemand, der scherzte. «Ist das dein Ernst?», fragte sie trotzdem.
«Ich will es selbst sehen.»
«Was? Dass es spukt? Du willst dir einen Schlafsack nehmen und dort auf der Couch schlafen?»
Bruch nickte.
«Na, dann viel Spaß», kommentierte sie und wusste doch schon in diesem Augenblick, dass sie, wenn er es wirklich durchziehen wollte, irgendwie mit drinhing. «Wollen wir mal die Rundumkennleuchte anmachen, damit ich ein bisschen Gas geben kann?» Auch jetzt musste sie keine Antwort abwarten. Bruch schien weder ihren ironischen Unterton zu registrieren, noch dass sie überhaupt gefragt hatte. Sie saß am Steuer, sie bestimmte. Sie schaltete das Blaulicht an, sah kurz in den Rückspiegel, lenkte stark ein und fuhr scharf an. Ihr Törtchen rutschte auf dem Armaturenbrett nach rechts und fiel vor Bruch runter. Anstatt zuzugreifen, ließ er es zu Boden fallen. Prima, das war jetzt zermatscht. Wenigstens aber bückte er sich und hob es auf.
Es war eigentlich nicht so weit, und da sie kaum Verkehrsaufkommen hatten, lohnte es sich nicht, das Blaulicht und die quäkige Sirene anzuschalten. Kurz nach dem Ortseingangsschild Dresden schaltete sie alles ab. Wie sie es heute schon einmal getan hatte, fuhr sie in das Plattenbaugebiet hinein, nahm im Kreisverkehr die zweite Ausfahrt und fuhr in gemäßigtem Tempo in Richtung der Schule. Dort angelangt, stellte sie den Wagen zwischen zwei quer zur Straße geparkten Autos ab, damit Berger sie nicht gleich erkannte. Eine Weile warteten sie.
Nach einiger Zeit öffneten sich die Türen der Schule, und Kinder kamen heraus, verteilten sich über den Hof.
«Normale Klingeln gibt’s wohl auch nicht mehr», merkte Schauer an. «Wie lang sollen wir warten, er müsste doch längst da sein?»
«Ruf Buchholz an.»
Ruf du doch an, dachte Schauer, tat aber wie geheißen. «Wo bleiben die denn?», fragte sie, kaum dass Buchholz sich gemeldet hatte.
«Weiß nicht, versuchen Sie es über Funk! Kanal vier.»
Bruch bewegte sich tatsächlich, langte nach dem Funkgerät. «Bruch hier, wir warten in der Gamigstraße auf Berger! Kommen.»
«Negativ», antwortete sogleich jemand. «Er bewegt sich in eine Gartensparte. Links von der Dohnaer Straße, gegenüber der Star-Tankstelle. Sie könnten versuchen, ihm den Weg abzuschneiden, indem sie ans äußerste Ende vom Otto-Dix-Ring fahren. Kommen.»
Bruch hängte die Sprechmuschel ein. Schauer sah ihn eine Sekunde lang an, schüttelte den Kopf. Dann nahm sie das Gerät.
«In Ordnung. Ende!»
«Die Straße runter, immer geradeaus, ich sage, wo du abbiegen musst», erklärte Bruch.
Schauer ließ den Motor an und fuhr los. «Wenn das deine Regenlaune ist, wie bist du denn drauf, wenn es hagelt?»
«Mann, das ist ja noch so ein Plattenbaugebiet», staunte Schauer. Das hatte Sebastian ihr nicht gezeigt. Offenbar war er mit ihr nur durch die hübschen Stadtteile gefahren.
«Halte hier!», bestimmte Bruch. Bis zum Ende der Straße waren es noch gut fünfzig Meter. Dann nahm er das Funkgerät. «Haben Stellung bezogen. Kommen.»
«Wir folgen ihm zu Fuß, er müsste gleich auf der anderen Seite herauskommen! Kommen.»
«Noch kein Sichtkontakt», meldete Bruch.
«Dort!» Schauer hatte den Mann gesehen. Er trug viel zu dünne Kleidung für dieses ekelhafte Wetter, hatte sich die Kapuze seines Sweaters über den Kopf gezogen, schien völlig durchnässt. Doch er schien nicht zu frieren. Das erstaunte sie, dass diese Leute kein Temperaturgefühl hatten. Oder ihre Sucht war so groß, dass sie die Kälte einfach nicht wahrnahmen. Denn Berger war garantiert Junkie. Dann aber würde er kaum Interesse an Celina haben, es sei denn, er wollte die Familie um Geld erpressen. Ein Erpresserschreiben oder -anruf war bisher noch nicht eingegangen. Sofern es die Kühns nicht verschwiegen hatten.
«Wir verschwenden Zeit», sagte Bruch, als hätte er wieder einmal ihre Gedanken gelesen.
Die Kollegen meldeten sich über Funk. «Entweder hat er uns bemerkt, oder er geht nur jemand besuchen. Wir dachten, er hätte das Mädchen vielleicht irgendwo in der Gartensparte versteckt. Seht ihr ihn? Kommen.»
«Ja, wir sehen ihn, Ende.» Bruch hängte das Gerät wieder ein, lehnte sich zurück, sah wort- und regungslos nach draußen.
Schauer betrachtete Berger, wie er lief, mit großen Schritten, die Hände in den Taschen, die Schultern hochgezogen. Er kam aus der Gartensparte, kam direkt auf sie zu, ins Wohngebiet hinein. Berger hätte gar nicht die Möglichkeit, ein entführtes Kind hierher zu bringen und zu verstecken. Eigentlich auch bloß so ein armer Idiot. War garantiert in so einer Gegend aufgewachsen. Den Eltern vollkommen egal. Wer weiß, wie oft er seinen Alten hatte die Mutter verdreschen sehen. Er musste ja glauben, es wäre normal. Besser war, man dachte nicht immerzu über so etwas nach.
Ein Wagen fuhr an ihnen vorbei. Ein schwarzer Audi. Schauer sah zu, wie er das Ende der Straße erreichte, anhielt. Tja, ist halt eine Sackgasse, dachte sie. Doch anstatt den Wagen zu wenden, stellte der Fahrer das Auto ab, stieg aus, wie auch der Beifahrer. Beides Männer, recht jung, höchstens dreißig. Sie schienen recht sportlich, und anhand der Frisuren, der Schuhe und Klamotten konnte man sie leicht der Hooliganszene zuordnen. Oder zumindest würden sie es selbst tun. Ob die echten Hooligans damit einverstanden wären, war zu bezweifeln. Doch auch diese Szene hatte sich aufgelöst, war schwammig geworden, die Übergänge verwaschen. In Hamburg hatte sie früher des Öfteren Vergnügen mit dieser Gattung Mensch gehabt. Sogar mit Dresdnern, die ihrer heiß geliebten Dynamo zu jedem Spiel folgten. Diese hier aber hatten nicht vor, zu einem Spiel zu gehen. Sie sahen sich um, ob sie auch nicht beobachtet wurden, übersahen aber die Polizisten im Auto. Nun öffnete der eine den Kofferraum, der andere bückte sich hinein und nahm etwas heraus. Es waren zwei Baseballschläger.
«Die haben es auf den Berger abgesehen!», stellte Schauer fest und schnappte sich das Funkgerät. «Wo seid ihr? Der Berger bekommt Besuch von zwei Männern mit Baseballschlägern!» Schon waren die Typen auf zwanzig Meter an Berger heran.
«Wir sind auf dem Weg zurück zum Auto, wir dachten, ihr übernehmt ihn!»
Schauer fluchte, warf das Gerät aufs Armaturenbrett und wollte aussteigen.
Bruch hielt sie am Arm zurück.
«Wenn wir ihm helfen, weiß er, dass er von uns beobachtet wird!»
«Willst du, dass er totgeschlagen wird?»
«Willst du Celina finden?»
«Du hast doch selbst gesagt, er hat sie nicht, es ist Zeitverschwendung!»
«Ich habe gesagt, es ist Zeitverschwendung. Er geht jemanden besuchen, seine Mutter vielleicht, ich habe nicht gesagt, dass er Celina nicht entführt haben könnte.»
Schauer sah nach vorn. Die beiden Männer waren Berger ein Stück entgegengegangen, hatten sich nun rechts und links des Weges aufgestellt. Berger schien so sehr mit sich beschäftigt, dass er sie nicht als Gefahr registrierte. Erst als er schon zwischen ihnen stand, wurde ihm seine Lage bewusst. Schauer riss sich wütend los und stieg aus. «Hey!», schrie sie, ihr Ruf blieb ungehört.
Berger wich zurück, hob die Hände, als ergäbe er sich. Dann wirbelte er herum und wollte losrennen. Einer der Typen hatte damit gerechnet und schlug ihm den Baseballschläger gegen das Knie. Berger schrie und stürzte zu Boden, nun holten beide Männer aus und schlugen auf ihn ein.
«Hey!», schrie Schauer, rannte los und wusste, sie würde nicht rechtzeitig da sein, um ihm noch helfen zu können, wenn den einer am Schädel traf. Deshalb zog sie ihre Pistole und schoss zweimal steil in die Luft. «Sofort aufhören!», schrie sie. Toll dachte sie, toll. Mein zweiter Tag. Einem aufs Maul gehauen, Platzwunde am Kopf, auf den Arsch gefallen, zweimal geschossen.
Die beiden Schläger sahen sich erschrocken um. Der eine reagierte schnell, rannte augenblicklich davon, der andere folgte ihm ein paar Meter, doch dann wurde ihm bewusst, dass sein Audi noch dastand. Er bremste ab. «Eh, komm zurück!», rief er seinem flüchtenden Kameraden noch hinterher.
«Stehen bleiben!», schrie Schauer, sah sich kurz um. Endlich bequemte sich Bruch ebenfalls aus dem Auto.
Doch nun bekam sie Hilfe von der anderen Seite, die zwei Kollegen waren zu Fuß zurückgekehrt. «Stehen bleiben!», befahlen sie, hatten ihre Waffen gezogen. Es waren ein Mann und eine Frau. Den anderen Hooligan hatte sein Gewissen ereilt. In gewisser Weise imponierte Schauer diese Loyalität. Würde der Audi-Besitzer die Aussage verweigern, keine Namen nennen, wäre er aus der Sache so gut wie raus gewesen. Was dagegen hatte sie? Einen Typen zur Seite, der sich zu schade war, ihr auch nur die geringste Hilfe zu leisten, und der angeblich seinen Kollegen hatte im Auto verbrennen lassen.
Inzwischen hatte sie den Audi-Fahrer erreicht. Der hatte den Baseballschläger fallen lassen. Er gab sich jetzt lässig, feixte sogar. Schauer hielt die Waffe nicht mehr auf ihn, sondern zum Boden gerichtet. Der zweite Hooligan war zurückgekehrt. Sein Gesicht war ganz rot. Er war sich seiner Sache nicht ganz so sicher. «Bleiben Sie da!», mahnte Schauer, ging in die Knie, um sich Berger zu besehen, der regungslos am Boden lag. Er blutete aus einer großen Wunde am Kopf. Als sie seinen Leib abtastete, stöhnte er auf.
«Bruch, einen Rettungswagen!», rief Schauer. Nun waren die zwei anderen Polizisten herangekommen. Die Kollegin kniete sich neben Schauer. Sie war sehr jung, hatte ihr blondes Haar zu einem Zopf gebunden.
«Haben Sie geschossen?», fragte sie leise.
«Ja», Schauer suchte nach den richtigen Worten. Sie waren nicht in Amerika, hier in Deutschland brauchte es gute Gründe zu schießen. «Die hätten den sonst totgeschlagen.»
«Das war unser Fehler!», flüsterte die Kollegin. «Der Audi ist die ganze Zeit um uns herum gewesen. Die müssen dem Berger schon in Bannewitz aufgelauert haben. Hoffmann, Susi. Oberkommissarin.» Sie reichte Schauer die Hand. «Das ist Hauptkommissar Durig.» Schauer nickte dem Kollegen zu. Er war älter als sie, nicht unsportlich, doch mit einem ordentlichen Bauch und ergrauenden Haaren. Er nickte zurück.
Der Audi-Besitzer meldete sich jetzt zu Wort. «Wie soll es denn jetzt weitergehen? Ich bin schon klatschnass!» Bestimmt wollte er besonders lässig erscheinen und mochte schon einige Erfahrung im Umgang mit der Polizei gemacht haben. Seine Miene verriet jedenfalls, was er von dem Berufsstand im Allgemeinen hielt.
«Schön langsam, Herr Wiegand», mahnte Hauptkommissar Durig. Der Angesprochene war von der Nennung seines Namens so verblüfft, dass ihm die Sprache wegblieb. «Das gibt eine schöne Anzeige wegen schwerer Körperverletzung und versuchtem Totschlag, da ist nichts mehr von wegen Selbstverteidigung», fuhr Durig fort, der offenbar schon eine gemeinsame Vorgeschichte mit dem Mann teilte.
«Schön sachte, Meister», versuchte Wiegand seine Souveränität wiederherzustellen.
«Warum hältst du nicht einfach die Fresse», fuhr der zweite Hooligan ihn jedoch an und bereute nun bestimmt, zurückgekehrt zu sein.
Bruch kam dazu. «Der Rettungswagen kommt», meldete er. Hoffmann richtete sich auf, grüßte Bruch mit knappem Nicken. Durig tat es ihr gleich. Die kannten den und hatten sich ihre Meinungen gebildet, das war Fakt. Berger begann sich zu regen.
«Sie wissen schon, was das für einer ist!», stieß Wiegand nun hervor. «Das ist ein Kinderficker! Solche Leute gehören aufgehängt!»
Durig hob den Finger. «Das können Sie dem Richter erzählen, dann weiß er, dass Sie vorsätzlich gehandelt haben, mit Tötungsabsicht. Sie kommen jetzt mit, ans Auto stellen, abstützen, Beine breit. Sie wissen ja, wie das geht!»