«Ist das denn wichtig?», fragte Jolisch. Sie hatten ihn im Garten angetroffen, trotz des nasskalten Wetters hängte er Bettwäsche auf einer Leine auf. Er wirkte ungepflegt.
Bruch wusste, er war alt, und in seinem Haus hatte es nicht besonders gut ausgesehen. Das Geschirr schlecht abgewaschen, die Fensterscheiben fleckig, Staub auf den Schränken, Spinnweben in den Ecken. Doch er hatte sich bei ihrem ersten Besuch rasiert, sich halbwegs ordentliche Kleidung herausgesucht. Jetzt sah es aus, als wäre das nur Fassade gewesen. Ein künstlich hergestellter Zustand. Ob Schauer das auch bemerkte? Auch schien er nicht mehr ganz so engagiert, das vermisste Kind zu suchen, seine Antworten waren knapp, er redete kaum von sich aus.
«Eigentlich nicht, aber als wir fragten, wem der Hof gehörte, sagten Sie, der alten Frau Gessner», sagte Schauer, die das Gespräch führte.
«Das ist doch nur die Macht der Gewohnheit. Er gehörte ihr eben immer.»
Er lud sie auch nicht nach drinnen ein.
«Wie kam es denn zu der Schenkung?», fragte Schauer.
Jolisch nahm den Wäschekorb auf. «Das ist doch Privatsache, oder?»
Schauer wiegte den Kopf, lächelte freundlich. Das konnte sie gut, bemerkte Bruch. Sie hatte vor langer Zeit schon gelernt, das ganze Elend unter einem fast echten Lächeln zu verbergen, sodass es Leute nicht sahen, die nicht geübt darin waren. Nur hielt es nicht lang. «Wir könnten es zu unserer Sache machen.»
Hatte sie vielleicht doch etwas gewittert. Hatte sie die Flecken in der Bettwäsche gesehen. Kaum merklich, wie die Ränder eines Kaffeeflecks, aber doch sichtbar für jemanden, der noch gute Augen hatte. Blut gerann schnell, da bleiben solche Ränder, auch wenn man die Wäsche gleich wusch.
«Gehen wir ins Haus», sagte Jolisch nun doch, deutete mit dem Kinn in Richtung der Straße. Dort standen zwei Männer und ein Stück abseits, mit den Händen in den Manteltaschen, die Wondrak vom Fernsehen.
«Elisabeth kam zu mir, vor zwei Jahren», begann Jolisch, nachdem sie das Haus betreten hatten. Er stellte den Korb achtlos ab, schnaufte bei der Bewegung, begann ganz leicht zu humpeln, als er in die Küche ging. Das tat er sonst nicht. Unterbewusst wollte er deutlich machen, wie ihn das alles belastete, welchen Ärger sie ihm bereiteten.
«Sie sagte, es gäbe ein großes Problem für sie. Sie hatte Schulden, eine Menge sogar. Konnte nicht einmal mehr die Grundsteuer bezahlen. In den Jahren, in denen sie allein da wohnte, hatte sie keinerlei Einkommen.»
«Und darum schenkt sie Ihnen das Grundstück?», fragte Schauer. In der Küche war es wärmer. Auf dem Tisch stand ein Teller mit kleinen angerichteten Broten. Es mussten zwei Scheiben gewesen sein, jede geviertelt, drei dieser Viertelchen fehlten. Die Wurst auf den restlichen war schon verwelkt. Jolisch nahm den Teller beiläufig und schmiss die Brote in den Mülleimer, dann stellte er den Teller in die Spüle, wo schon viel Geschirr stand.
«Sie stand kurz vor einer Zwangsenteignung.»
«Sicher? Enteignung?»
«Dann eben Versteigerung.» Jolisch wurde richtig ungehalten. Aus dem netten Opa von nebenan konnte schnell ein garstiger Rentner werden.
«Aber wäre das nicht gut gewesen? Das muss doch eine Menge wert sein. Dann wäre sie die Schulden los, könnte sich für den Rest ihres Lebens einen Platz in einem hübschen Heim suchen.»
«Genau das wollte sie ja nicht», knurrte Jolisch, wobei sein Groll nun eher der Gesellschaft galt als ihnen persönlich. «Sie wollte nicht in einem Heim vegetieren. Sie wollte den Rest ihres Lebens auf sich gestellt sein, unabhängig. Sie hat ihr Leben lang nichts anderes getan, als sich selbst zu versorgen.»
«Na, das hat ja prima geklappt, oder? Wie lang nach der Schenkung? Ein halbes Jahr?»
«Was wollen Sie denn damit sagen?» Jolisch streckte sich zu voller Größe. Jetzt erst wurde deutlich, was er einst dargestellt haben musste. Ein großer kräftiger Mann, fast zwei Meter mit breiten Schultern.
Und Schauer, die anscheinend gar nichts damit hatte sagen wollen, außer dass die Alte sich offenbar nicht gut selbst versorgen konnte, wurde aufmerksam.
Bruch, der seit dem frühen Morgen in sich hineingelauscht hatte, spürte indessen, dass in der Nacht in dem Haus etwas mit ihm passiert sein musste. Nichts Offensichtliches. Etwas Subtiles. Etwas, das einen Teil der Wirkung der Tabletten absorbierte.
Schauer fragte unterdessen weiter. «Wenn sie kein Geld hatte, wie besorgte sie sich denn das Nötigste? Toilettenpapier? Brot? Das hat sie doch nicht selbst gebacken, oder?»
«Sie züchtete Enten und verkaufte sie hier im Dorf.»
«Und Sie? Hatten Sie das Geld, Grundsteuer zu bezahlen? Und die Schenkungssteuer? Das kann ja nicht ganz unerheblich sein, oder?»
Jolisch sah Schauer einen Moment lang an. «Also, ich weiß jetzt wirklich nicht, warum ich Ihnen das alles sagen muss. Sie suchen doch nach dem Mädchen, und soweit ich weiß, wurde sie noch nicht gefunden. Und im Radio sagten sie, es gäbe einen Kinderhändlerring.»
«Herr Jolisch, für wen waren die Schnittchen?»
«Für mich, mir war nicht wohl gestern Abend, deshalb hab ich nur drei gegessen.»
«Herr Jolisch, würden Sie mich und meinen Kollegen mal durch Ihr Haus führen?»
«Hören Sie, das muss ich nicht. Hab ich Ihnen nicht erzählt, was los war, als das andere Kind weg war? Die Leute, die hier einfach reingekommen sind?»
«Ja, das waren Leute, wir sind aber die Polizei.»
«Trotzdem, nein, das Kind ist nicht hier. Sie war nie hier. Genau wie das andere Mädchen. Sie haben keinen Grund. Warum gehen Sie nicht in all die anderen Häuser? Warum werden die nicht durchsucht?»
Schauer ging darauf nicht ein, sah Bruch an. Der nickte ihr unmerklich zu, woraufhin sie ihr Telefon herausholte.
«Was haben Sie letzte Nacht gemacht», wendete sich jetzt Bruch an den Alten.
«Wie meinen Sie das? Geschlafen habe ich. Hören Sie mal.» Jolisch trat nun ein wenig näher, so als müssten sie als Männer sich verbünden gegen die hysterische Frau. «Sie werden nichts finden, wenn Sie jetzt das Haus durchsuchen. Ich hab mit dem verschwundenen Mädchen nichts zu tun. Warum auch, ich bin ein alter Mann. Und das mit dem Grundstück, das hat damit nichts zu tun. Das soll hier auch gar nicht so breitgetreten werden. Es gibt hier Leute, die sind ganz wild auf das Grundstück. Die werden nicht lockerlassen, bis ich es ihnen verkaufe.»
«Dann verkaufen Sie es doch!», bemerkte Schauer, die noch darauf wartete, dass ihr Anruf angenommen wurde.
«Das ist aber … das geht so nicht. Ich will es nicht verkaufen.»
«Aber warum?», fragte Schauer. «Es verursacht doch sonst nur Kosten, und zum Investieren haben Sie bestimmt nicht das Geld.»
«Das geht Sie alles nichts an!», fuhr Jolisch auf.
«Haben Sie das Geld?», fragte Bruch. «Konnten Sie die Steuern bezahlen.»
«Mein Sohn hat das geregelt.»
«Ihr Sohn?», fragte Schauer, dann endlich kam ihr Gespräch durch. «Ja, Schauer hier …» Sie verließ die Küche.
«Mein Sohn hat das bezahlt», antwortete Jolisch nun Bruch, «Er hat gesagt, er übernimmt das und auch alle anderen Kosten.»
«Er wird es erben.»
Jolisch hob die Schultern, lächelte. «So ist es nun mal, ich mach mir da nichts vor.»
«Sie fanden Frau Gessner?», fragte Bruch.
«Ich besuchte sie einmal die Woche, ich wollte ihr etwas vorbeibringen. Ölsardinen. Butter. Ich machte Besorgungen für sie.»
«Und Sie fanden sie.»
«Ja, sie lag da, hatte sich Frühstück angerichtet und war einfach umgefallen.»
Schauer kam aus dem Flur zurück. «Wie gingen Sie vor? Haben Sie das der Polizei gemeldet?»
Jolisch gefiel es nicht, dass sie sich wieder einmischte. «Ich ging nach Hause und rief einen Arzt.»
«Welchen Arzt?»
«Frieling. Der Arzt hier im Ort. Er kam zum Hof, untersuchte sie, stellte den Totenschein aus.»
«Gehen Sie gelegentlich in den alten Hof, nach dem Rechten sehen?»
«Ab und an», gab Jolisch zu.
«Auch in der Nacht?»
Jolisch kniff die Lippen zusammen. Dann schüttelte er den Kopf.
«Weil es spukt?»
Jetzt winkte er ab. «Das erzählen die Leute, und mir ist das ganz recht, so bleiben sie wenigstens weg.»
Simon war gekommen. Als er aus dem Wagen stieg, fragte Schauer sich, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war, oder ob er sich einfach nur blicken lassen wollte.
«Wie geht es voran?», fragte er, deutete auf Jolischs Haus.
«Bisher noch nichts», gab Schauer zu. Drei oder vier Stunden dauerte die Aktion jetzt schon. Sie suchten gar nicht mehr nach dem Kind, nur noch nach Anzeichen dafür, dass es sich hier aufgehalten haben könnte.
«Denken Sie, er hat etwas damit zu tun?»
«Ich denke, es ist vertretbar, dass wir nachsehen.»
Simon hob das Kinn, sah dann nach links, wo sich am Zaun zum Grundstück Leute versammelt hatten. Sie waren stumm, standen nur.
«Wenn wir mit dem Haus fertig sind, müssen wir den Bauernhof noch einmal gründlich durchsuchen.»
«Der wurde schon durchsucht. Zwanzig Mann waren da drin. Inzwischen wird tatsächlich in Erwägung gezogen, hinsichtlich Kinderpornografie zu ermitteln. Wir haben schon erste Kontakte zum BKA geknüpft, die haben dort ein paar Experten, der kürzlich einen Ring ausgehoben haben.»
«Im Ernst, weil die Frau im Fernsehen das gesagt hat? Das ist frei erfunden!» Schauer sah Simon verblüfft an. Das war wirklich Magie. Aus buchstäblich nichts wurde etwas gemacht. So lösten Fußballzeitschriften die Entlassung eines Trainers aus. Eine einzige Schlagzeile, und wupps war der Mann drei Wochen später seinen Job los. Aber das hier war kein Spiel.
«Das ist sinnlos!»
«Das ist nicht abwegig.» Simon sah sich um, ob jemand zuhörte. «Ob dem jetzt das Grundstück gehört, ist wirklich nicht relevant. Wir haben schon einen Schwerverletzten. Berger wurden Rippen gebrochen, er hat einen Milzriss und verklagt jetzt uns. Wenn wir hier abziehen, rücken die Leute hier dem Jolisch auf den Pelz. Man hätte es subtiler angehen müssen.»
Jetzt geht’s los, dachte Schauer. Jetzt wird es wieder politisch. Überall dasselbe. «Subtiler? Das Kind ist den vierten Tag weg. Angenommen, sie befindet sich in seiner Gewalt? Sie müsste ja gefesselt sein oder irgendwo eingesperrt. Mal angenommen, der missbraucht sie jeden Abend, da kommt es dann wohl auf den einen oder anderen Tag nicht an?»
«Hören Sie, Schauer, Sie wissen, so denke ich nicht. Und ich weiß, Sie sind bei dem Thema ein bisschen empfindlich.»
«Ein bisschen empfindlich?», wiederholte Schauer.
«Na ja.» Simon verzog das Gesicht.
Was weiß er? Hat er mit ihrem ehemaligen Chef in Hamburg telefoniert, sich Informationen geholt. Ja, die Schauer, die ist ein bisschen empfindlich, unentspannt könnte man sagen, poliert auch mal einem die Fresse, wenn die ihre Tage hat, hahaha. Oder wusste er von Sebastian? Ihrem kleinen Disput, der leider ein wenig eskaliert war. Simon bereute bestimmt seinen Vorstoß, er wusste nicht so richtig, wo er hingucken sollte. Hinter ihnen entstand Bewegung. Ein paar Leute kamen vorbei.
«Was ist mit dem Russen?», nutzte Simon die Gelegenheit.
«André Talwa, Russlanddeutscher. Der ist halt abgehauen, es wird nach ihm gesucht. Sein Kumpel Hermann Wenke sitzt in U-Haft und stellt sich dumm, oder ist dumm.»
«Trauen Sie ihm zu, ihm und André, dass sie das Mädchen vergewaltigt und sogar umgebracht haben?»
«Das oder irgendein anderes Szenario, vielleicht hatten sie es vor, aber das Mädchen flüchtete und kam dabei ums Leben. Die sind zwar lustig, und scheinen sogar sympathisch, aber die haben ein vollkommen unnormales Verhältnis zu Sex und Gewalt. Denen wird zu Hause Gewalt vorgelebt, und ihre gemeinsame Freundin Maria vermittelt ihnen einen extrem lockeren Umgang mit dem weiblichen Geschlecht. Außerdem sind sie gewöhnt, sich das zu besorgen, was sie haben wollen. Ich kann mir gut ausmalen, wie eine solche Situation schnell eskaliert.»
Simon nickte, wusste erst mal nichts weiter zu fragen. «Und wie kommen Sie klar inzwischen?» Etwas Besseres war ihm wohl nicht eingefallen.
Schauer sah ihn an, sah dann hinüber zu Bruch, der die Außengrenzen des Grundstücks ablief, suchend zu Boden blickte. «Na ja. Mit ein bisschen schwierig haben Sie stark untertrieben, oder?»
«Ein bisschen schwierig habe ich nie gesagt. Eigen habe ich gesagt.» Simon lächelte schief. «Die großen Suchaktionen laufen bald aus. Wir haben im näheren und mittelbaren Umkreis jeden Stein umgedreht, so werden wir es auch mit der Presse kommunizieren. Wir werden ebenfalls sagen, dass wir natürlich auch dem Verdacht der Kinderpornografie nachgehen, damit alle zufrieden sind. Das Gerücht kursiert ja ohnehin schon. Den Bauernhof klappern wir noch einmal ab, dann ist Schluss. Wir müssen das nähere Umfeld Celinas im Detail untersuchen. So wie ich das verstanden habe, ist ihr großer Bruder auch ausgerissen? Vor Ihnen.»
«Maxim hängt gelegentlich mit André und den anderen ab. Entweder weiß er was, oder er fürchtet, unnötigen Ärger zu bekommen. Uns wäre viel lieber, wir könnten Linda Herzfeld ganz genau unter die Lupe nehmen. Sie könnte wissen, was los ist. Aber das wissen Sie ja schon.»
«Wie stellen Sie sich das denn vor?»
Er wollte nur Zeit schinden, um dann zu sagen, dass sie Linda nicht befragen dürfen. «Keine Ahnung, psychologische Betreuung? Vielleicht kann man unter Beobachtung gezielt ihre Traumata auslösen. Irgendwie die Mauer knacken.»
«Auslösen?»
«Was weiß ich, bin ja kein Facharzt. Aber ich sehe schon, es hat eh keinen Zweck!»
«Ohne Zustimmung ihrer Eltern können wir gar nichts.» Er schien es ernsthaft zu bedauern.
Schauer sah, wie Püschel aus dem Haus kam, Bruch rief. Die Männer trafen sich auf halbem Wege im Grundstück. Püschel redete, Bruch sah ihn unbewegt an. Dann konnte er sich zu einem knappen Nicken herablassen.
Simon sah es auch, seufzte gleich noch mal. «Man hat es wirklich nicht leicht mit dem.»
Wenn du wüsstest, dachte sich Schauer, dass der Tabletten frisst, jeden Tag. Bruch kam zu ihnen. Er bedachte Simon keines Blickes.
«Nichts», sagte er. Ohne auf irgendeine Reaktion zu warten, drehte er ab und lief zum BMW .
«Na ja, schönen Tag, erst mal», Simon hob noch einmal den Kopf zum Gruß, «bis später.»
«Könntest du dir das mal abgewöhnen, mich jedes Mal einfach so stehen zu lassen?», fragte Schauer, als sie beim Wagen angelangt war. Sie hatte ihn absichtlich nicht geöffnet, damit Bruch draußen stehen bleiben musste.
Bruch zog die Rechte aus der Jackentasche, hielt sie ihr ein Stück entgegen, verstohlen, wie ein Dealer, der seinen Stoff preisgab, und genauso öffnete er auch die Faust.
«Hast du das hier gefunden?», fragte Schauer.
Bruch nickte. «Hinter dem Zaun.»
«Dort, wo er zuletzt stand?» Jolisch hatte das Haus verlassen, als die Kollegen zur Hausdurchsuchung anrückten. In gelben Gummistiefeln, seiner blauen Arbeitshose und der uralten grauen Wattejacke hatte er sich auf seinem Grundstück zu schaffen gemacht, es überquert, sich dann am anderen Ende an den Zaun gelehnt, das Geschehen beobachtet, als wäre er ein Außenstehender. Bis vor wenigen Minuten hatte er dagestanden, war grußlos ins Haus zurückgekehrt, nachdem alle Polizisten es wieder verlassen hatten.
«Kann ich?», fragte Schauer. Bruch öffnete die Faust noch ein wenig mehr. Sie nahm den Haargummi an sich. Es war ein Gummi, von fliederfarbenem Stoff umhüllt, in welches feine golden glänzende Fäden eingewoben waren. Haargummis wie diese gab es in jeder Drogerie zu Hunderten.
«Es beweist noch gar nichts. Er könnte nur zufällig an der Stelle gestanden haben.»
Bruch nickte.
«Die Mädchen selbst könnten es dort verloren haben. Beim Spielen.»
Bruch nickte wieder.
«Es muss nicht von ihr sein. Selbst wenn ihre Eltern es vermeintlich wiedererkennen.»
«Wir müssen es ihnen zeigen», sagte Bruch.
«Aber Simon willst du davon nicht unterrichten?» Ach, was fragte sie. «Wollen wir die zweihundert Meter laufen?» Sie sah Bruch an, nach zwei Sekunden winkte sie ab und öffnete den Wagen per Fernbedienung.
Sie kamen nicht fort. Die Wondrak trat ans Auto, ihr Kameramann stellte sich davor. Allein das ließ Schauers Puls hochschnellen. Verblüfft sah sie nach unten, denn Bruchs Hand hatte ihren Unterarm berührt. Wie konnte man mit diesem Typen nur klarkommen. Sie ließ die Scheibe herunter.
«Was ist mit dem alten Mann?», fragte die Reporterin.
«Buchstäblich nichts, wir prüfen nur alle Möglichkeiten.»
«Ihm gehört der Bauernhof. Die alte Frau, die dort wohnte, schenkte ihm den Hof, samt Grundstück. Wird er deshalb noch einmal durchsucht?»
«Soll ich Ihnen die Wahrheit sagen, oder irgendetwas erfinden?», fragte Schauer.
Claudia Wondrak sah ihr fest in die Augen. Sie war eine schöne Frau, schmal geschnittenes Gesicht, lange dunkle Haare unter der Regenkapuze, dunkle Pupillen, wirkte aber gestresst. Beim Fernsehen zu arbeiten, war bestimmt auch kein Spaß. Die Konkurrenz war hart, die Termine straff, der Druck zu liefern vermutlich noch größer als bei der Polizei. Noch dazu musste sie sich den ganzen Tag hier die Beine in den Bauch stehen und hoffen, dass irgendetwas passierte.
«Das Kind ist nicht da, das wurde überprüft. Es geschieht nur, um die Öffentlichkeit ruhigzustellen», log Schauer. Woher die Frau das alles schon wusste. Sie schien wirklich gut informiert. Schauer sah nach rechts, wo Bruch saß und einfach nach vorn starrte. «Das können Sie auch gern im Fernsehen so sagen, dass der alte Mann nicht verdächtig ist. Wenn Sie Ihren Kameramann jetzt bitten, beiseite zu gehen!», wandte sich Schauer wieder an die Frau.
Wondrak nickte, und der Mann trat beiseite. Schauer fuhr an.
«Wussten Sie, dass die Mädchen Frau Gessner vor ihrem Tod gelegentlich besuchten?», hörte sie die Wondrak noch sagen.
Schauer bremste ab, fuhr die drei Meter zurück. «Bitte?»
«Die Eltern haben davon erfahren», fuhr Wondrak fort, «und es verboten, weil das Haus einsturzgefährdet ist und sie fürchteten, die Kinder könnten in den Ententeich fallen. Früher war auch Herr Jolisch noch öfter bei der Gessner, und es heißt, sie hätten so etwas wie eine Besuchsehe geführt. Das muss allerdings nichts bedeuten.» Frau Wondrak trat zurück.
«Woher wissen Sie das alles?», fragte Schauer.
Die Fernsehfrau hob die Schultern und lächelte. Irgendwie sah es fast traurig aus. «Die Leute mögen der Presse vielleicht mehr erzählen als der Polizei. Oder es liegt daran, wie man sie fragt.»
«Danke!», sagte Schauer, trotzdem man den letzten Satz durchaus als kleinen Affront verstehen konnte.
Das Haus der Kühns lag still. Die Jalousien waren heruntergelassen. Schauer stellte den Wagen direkt davor ab, beide stiegen sie aus. Schauer klingelte. Bruch sah nach oben, doch die anfängliche Hoffnung, durch den starken nächtlichen Wind befeuert, entpuppte sich als falsch. Wie eine dicke graue Decke waren die Wolken, ließen keine Sonnenstrahlen durch, nur diffuses weißes Licht, das überall und nirgends war.
Simon musste etwas zu Schauer gesagt haben, das eine wirkliche körperliche Reaktion an ihr ausgelöst hatte. Sie hatte sich als Kind nicht nur verlaufen mit ihrem Pferd. Etwas war geschehen damals. Das trug sie mit sich herum. Das beeinflusste ihr ganzes Leben, ohne dass sie es wirklich wusste.
Frau Kühn öffnete. Sie fragte nichts, grüßte nicht, wirkte nur vollkommen erschöpft.
«Ist Maxim zurück?», fragte Schauer zuerst.
Frau Kühn schüttelte nur den Kopf.
«Sie machen sich nicht wirklich Sorgen, oder?», fragte Schauer.
Frau Kühn sah auf, wirkte ein wenig, als erwachte sie. «Doch, natürlich», sagte sie. «Aber der ist ja wegen Ihnen weggelaufen. Der wird sich irgendwo aufhalten, vielleicht bei einem Freund.»
«Das haben Sie aber noch nicht überprüfen können?»
Frau Kühn sah Schauer schon wieder an, als müsste sie über eine Antwort nachdenken. «Nein, wir denken, er meldet sich bald, dann geben wir Ihnen Bescheid.» Nun wurde sie munterer. «Sagen Sie, das stimmt doch nicht, das mit dem Kinderpornoring, oder?»
«Nein, natürlich nicht, das hat die Frau im Fernsehen erfunden.»
Frau Kühn nickte. «Die war aber damals schon da, als Linda weg war, und hat dasselbe erzählt. Vielleicht ist ja was dran. Haben Sie nicht jemand, der das überprüft? Man kann doch Filme finden im Internet.»
Schauer sah Bruch an. Da war es. Da war aus einer Fiktion endgültig Realität geworden. Der Kreis hatte sich geschlossen. «Wir prüfen es.»
«Aber Sie sagten doch gerade, dass es frei erfunden ist.»
«Wir müssen es prüfen, weil die Frau im Fernsehen es gesagt hat. Und für die vom Fernsehen gibt es nichts Besseres, als an die alte Story anzuknüpfen. Das beweist ihnen ihre Lebensberechtigung. Die Herzfelds sagten doch, dass mit Linda nichts dergleichen passiert sei.» Schauer warf ihm noch einen Blick zu, diesmal vorwurfsvoll. Weil er nichts davon erzählt hatte, dass die Wondrak damals auch schon dabei gewesen war. Aber sie hatte ihn nicht gefragt.
Frau Kühn schüttelte den Kopf. «Nein, die sagten, dass es genug wäre, dass man Linda nicht noch mehr belasten sollte. Die halten eh nicht viel von der Schulmedizin. Gehen lieber zum Heilpraktiker. Ganz genauso sehen die das auch mit psychologischen Sachen. Weshalb sind Sie eigentlich da? Wegen Maxim?»
«Können wir kurz rein?»
Frau Kühn nickte und ließ sie eintreten.
«Gehört das Ihrer Tochter?», fragte Schauer, kaum dass sie im Flur standen, und zeigte den Haargummi.
Frau Kühn zögerte. «Wo ist der her?»
«Das ist erst mal egal.»
«Ist der aus dem Haus vom Jolisch? Da waren Sie doch die ganze Zeit.»
«Ist der von Ihrer Tochter? Oder hatte sie zumindest so einen?»
Frau Kühn nahm den Haargummi jetzt. «Ja, aber ich meine, der war schon länger weg.»
«Wissen Sie das so genau, die gibt’s doch zu Tausenden. Werden meist im Set verkauft.»
Frau Kühn nickte. Hob die Schultern. Möglicherweise überlegte sie, welche Antwort besser wäre, einfach nur für sie, für ihre Psyche. Dass es das Haargummi ihrer Tochter war oder nicht. «Wir hatten mal so ein Set. Mit dem eingewebten Goldfaden. Celina bekam es vor längerer Zeit. Sie hat es Linda geschenkt, sagte sie einmal. Wir glauben, Linda hat es ihr einfach weggenommen.»
«Warum sollte Celina dann für Linda lügen, wenn es ihre waren?»
«Weil sie …» Frau Kühn setzte den Satz in Gedanken fort. Ihr Gesicht verzog sich, als hätte sie auf etwas Unangenehmes gebissen. «Sie fürchtete wahrscheinlich, wir könnten eine Szene machen und sie könnte Linda als Freundin verlieren.»
Das war nicht, was sie zuerst hatte sagen wollen. Es war gut, wenn Schauer das Fragen übernahm, dann konnte er die Leute genauer beobachten.
«Stimmt es, dass die Kinder bei Frau Gessner waren, als die noch lebte? Auf dem alten Bauernhof?»
«Dort ist Celina aber nicht, oder?»
«Frau Kühn, nein, wir haben alles durchsucht. Aber es wäre interessant zu wissen. Waren sie also da?»
«Ja, das ist aber schon lange her. Die sind ein bisschen durch die Gegend gezogen, noch mit anderen Kindern. Die Schüllers da drüben waren zum Beispiel dabei. Für die war das interessant, wegen der Enten und Kaninchen. Wir haben es aber verboten. Das war uns zu unsicher. Und die Alte war uns auch nicht geheuer. Ich meine, die lebte da ganz allein, fast wie im Mittelalter. Ohne Strom und Wasser, mit Kerzen. Der Jolisch brachte ihr wohl immer was vorbei. Man könnte meinen, die hätten mal was miteinander gehabt, vor vierzig Jahren oder so, da lebten ihr Mann und seine Frau aber noch. Ein paar Leute aus dem Dorf erzählten das. Aber geht uns ja nichts an, und wie gesagt, Celina durfte da schon lang nicht mehr hin.»
«Sie durfte nicht, aber tat sie es vielleicht doch?», fragte Schauer.
Frau Kühn wiegte den Kopf, wollte verneinen, doch sicher schien sie nicht.
«Es ist wichtig! Und deshalb wollen wir Maxim sprechen. Vielleicht weiß er das, vielleicht will er deshalb nichts sagen!»
Frau Kühn machte eine klägliche Miene. Sie könnte einem leidtun, wenn man jemand war, dem etwas leidtun konnte. Gedankenverloren sah sie zum Keller.
«Ich frag ihn, wenn er wiederauftaucht.»
«Wissen Sie, es geht nicht darum, ihn zu bestrafen, es geht darum, Ihre Tochter zu finden. Angenommen, die Kinder waren da, mit den Jugendlichen aus Prohlis, Maxim war dabei und Celina, die kannten sich alle, so viel wissen wir. Angenommen …»
Bruch nahm sein Telefon heraus, schrieb eine Nachricht, versendete sie.
«… Ihre Tochter stürzt ab in dem Haus, verletzt sich schwer …», sprach Schauer weiter.
«Hören Sie auf damit!», fuhr Frau Kühn sie an. Schauers Handy piepte. Sie holte es heraus.
«… die bekommen alle Panik, anstatt die Polizei zu rufen oder den Rettungsdienst, schaffen sie ihre Tochter weg. Die Jugendlichen …» Schauer las die Nachricht, zögerte, ließ sich aber weiter nichts anmerken. «Die Jugendlichen setzen Maxim unter Druck, dass er ja nichts verraten soll. Deshalb rennt er weg.»
«Bitte hören Sie auf, ich glaub das nicht. Das würde Maxim nie tun. Der würde das sagen.»
«Na gut, also gut. Sagen Sie … also ich weiß, wir waren da schon dreimal drin, aber können wir Celinas Zimmer noch mal sehen?»
Frau Kühn atmete tief durch, hob dann die Schultern und ließ sie schwer fallen. «Von mir aus.» Sie setzte sich in Bewegung, stieg die hölzernen Treppenstufen hinauf in die erste Etage. «Es ist noch so, wie es war», sagte sie über die Schulter. «Und wenn es nun Celinas Haargummi wäre, also in dem Falle von Linda verloren, wäre das wichtig?»
«Wissen wir auch nicht, Frau Kühn, aber uns ist jede kleine Spur wichtig. Könnte zwar sein, Ihre Tochter hat sich in den Zug gesetzt und wird irgendwo aufgegriffen, in Paris oder was weiß ich. Aber sonst dürfen wir nichts übersehen.»
«Sie meinen, weil sie diese eine Fernsehserie so gern sieht?»
«Ja, zum Beispiel.»
Jetzt waren sie oben angelangt, gingen an Maxims Zimmer vorbei, betraten Celinas Zimmer. Bruch hatte gesehen, wie Schauer an ihrem Handy etwas tat, während sie der Kühn gefolgt war. Jetzt endlich klingelte sein Telefon.
«Ich muss rangehen», entschuldigte Bruch sich, wich in den Flur zurück, während Schauer und Kühn das Zimmer des Mädchens betraten.
«Bruch», sagte er laut, schloss die Tür zu Celinas Zimmer. Leise ging er die zwei Meter zurück, öffnete die Tür zu Maxims Zimmer. Es war dunkel, weil die Jalousie fast ganz geschlossen war. Der PC war aus. Bruch trat ins Zimmer, fasste sich in die Jackentasche, nahm zwischen seine Finger, was sich an kleinen Zweigen noch in der Tasche befand, streute es als kleines Häufchen auf Maxims Schreibtischecke, sodass man es sah, wenn man das Zimmer betrat. Dann ging er schnell zurück in den Flur, schloss die Tür.
Als er in Celinas Zimmer trat, bemühte Schauer sich gerade, Frau Kühn zu trösten. Sie saß am Schreibtisch ihrer Tochter, vornübergebeugt, das Gesicht in die Hände gepresst, ihre Schultern zuckten. Schauer gab ihm ein Zeichen, er sollte draußen warten. Das war ihm nur recht. Er verließ das Zimmer, ging wieder hinunter und verließ das Haus.
Das Bild der Frau vor Augen, versuchte er sich auszumalen, wie man sich in einer solchen Situation fühlen müsste. Es wollte ihm nicht gelingen. Nichts gelang wie früher, trotzdem er die Tabletten nahm. Und wie so oft fragte er sich dann, ob es denn wirklich sinnvoll war, sie zu nehmen, sich in diesen Zustand zu versetzen. Ein Zustand, der ihn spüren ließ, wie das Leben verstrich, ohne jeden Widerhall, ohne Resonanz, ohne Erinnerungen, wie jeder Tag dem nächsten glich und dem davor. Was bedeutete dieses Leben, wenn es auf diese Art unterdrückt wurde, wenn man durch den Nebel stieg, geschmackloses Essen aß, einem eine fast nackte Frau vollkommen kalt ließ, auch ein verschwundenes Kind, wenn man sich nicht einmal fürchtete im Dunkeln.
Aber er wusste es besser. Er wusste, was geschah, wenn er die Tabletten nicht nehmen würde. Und er wusste nicht, was geschehen sollte, hätte er keine mehr. Die Frau, von der er sie bekam, war älter als er. Was, wenn sie das Interesse verlor, wenn sie ihm die Tabletten nicht mehr zukommen ließ, wenn sie gar starb?
Schauer kam raus. Er hatte übers Warten die Zeit vergessen. Nass war er, stellte er fest, fror aber nicht.
Schauer war wütend. «Was lässt du mich einfach allein? Ich hab nur andeuten wollen, dass du draußen warten sollst. Im Flur! Ich bin doch nicht die Tröstetante für die! Und was hast du eigentlich gemacht?» Sie wollte zum Auto, doch Bruch hielt sie am Jackenärmel.
«Warte.» Er zog sie hinter den Schuppen, wo man sie aus dem Haus heraus nicht sehen konnte.
«Was soll denn das? Was hast du gemacht? Und vor allem deine Nachrichten, könntest du weniger kryptisch sein?» Sie holte ihr Handy heraus. «Muss in Ms Zimmer, ist im Haus », las sie vor.
«Du hast es doch verstanden.»
«Aber dass sein Zimmer im Haus ist …» Schauer verstummte. «Du meinst, Maxim ist im Haus? Glaubst du echt? Warum sollte sie uns darüber belügen? Und war er in seinem Zimmer?»
Bruch schüttelte den Kopf. Es strengte ihn dermaßen an, diese vielen Fragen. Diese unnötigen Worte und Handlungen, als besteige er jede Stunde einen steilen Berg, der nichts bot außer Kälte und Nebel, keine Aussicht, keine Erholung. Dass die Menschen nicht selbst merkten, wie sie sich damit erschöpften und auslaugten, im Gegenteil glaubten sie sogar, das wäre das Leben.
«Und jetzt?», fragte Schauer. «Wollen wir hier warten, dass er rauskommt?»
«Irgendwas wird passieren.»
«Weißt du, ich hab hier das Gefühl, wir verplempern Zeit mit sinnlosem Krimskrams», sagte Schauer leise. Sie hatte gerade auf die Uhr gesehen. Eine Viertelstunde standen sie schon. Nichts war passiert. Was auch immer Bruch sich erhoffte. Der stand wie immer starr, es regnete wieder, Wasser lief ihm buchstäblich in den Kragen. Zwar konnte sie aus diesem Winkel niemand sehen, die Sicht zum Nachbarhaus war durch eine Hecke aus Zypressen versperrt, aber wenn sie hier einer sah, musste er doch denken, die rauchten hier heimlich, oder sonst was.
Auch ihr lief die Brühe in den Hals, sobald sie mal die Schultern lockerließ, und ihr machte es was aus. Sie fröstelte, und sie hatte regelrechte Sehnsucht nach ihrem Bett daheim.
Ein kehliger Schrei aus dem Haus der Kühns ließ sie aufschrecken. Es war nur ein kurzer Schrei gewesen, sofort unterdrückt, und es war keine Frau, die geschrien hatte.
«Jetzt war er in seinem Zimmer», sagte Bruch. «Gehen wir klingeln.»
«Was hast du gemacht?»
«Hab ihm Zeichen hinterlassen.»
«Du meinst von dem Zeug, das ich im Haar hatte?»
Er nickte knapp. An der Tür ließ er ihr wieder den Vortritt. Sie klingelte. Es dauerte einige Sekunden, dann öffnete Frau Kühn.
«Ist noch was?», fragte sie und versuchte zu tun, als wäre nichts.
«Warum lügen Sie uns an. Das ist strafbar, wissen Sie.»
Frau Kühn versuchte gar nicht mehr zu tun, als verstünde sie nicht, sie war zu erschöpft. Sie trat zurück, gab den Weg ins Haus frei. «Er kam gestern Abend wieder, und wir wollten nicht … wir wollten einfach keinen weiteren Ärger. Er hat nichts mit Celinas Verschwinden zu tun, er schwört es.»
«Er hasst seine Schwester!», wagte Schauer zu behaupten und wusste, wovon sie sprach.
«Ach das …», wollte Frau Kühn auffahren, doch verstummte sie wieder. «Es stimmt schon, sie mögen sich gerade nicht besonders, aber so weit geht das doch nicht, dass er sich wünscht …» Sie verstummte wieder.
«Wo ist er jetzt?»
«Er hat geschrien und sich im Bad eingeschlossen. Vielleicht ist sein Computer kaputt. Da dreht er richtig durch, wenn mal was nicht funktioniert. Dieses Fortnite ist das Letzte, das macht die Kinder richtig irre, sag ich Ihnen. Das müsste verboten werden.»
«Wir gehen hoch und reden mit ihm. Wir nehmen ihn nicht mit, keine Sorge!»
«Maxim?» Schauer klopfte oben an die Badtür. «Was ist, warum hast du geschrien?»
«Gehen Sie weg!», krächzte der Junge. «Ich weiß nicht, wo sie ist, wirklich!»
Er hatte Angst, richtige Panik, aber wovor?
«Maxim, warum schließt du dich ein? Wegen der Zweige? Die haben wir auf deinen Tisch getan!»
Der Junge blieb stumm. Lange Zeit. «Wirklich?», fragte er dann leise.
«Mach mal auf! Wir haben in dem Bauernhof übernachtet. Da waren auch diese Zweige. Lagen plötzlich da. Mach doch mal auf, wir wollen nur wissen, was da los ist!»
«Meinen Sie den Dreck?», fragte seine Mutter, die auch hochgekommen war und einen Blick in sein Zimmer geworfen hatte. «Das hatten wir mal im Briefkasten, ach, und auf der Küchenanrichte lag das auch mal. Das weiß ich noch. Maxim war daraufhin ganz schlecht, der musste sogar brechen gehen.»
«Auf der Küchenanrichte lag es?»
«Ja, ist noch gar nicht lang her. Ich hab gefragt, wer das war, und keiner wollte es gewesen sein. Damals dachte ich, das wäre vielleicht von meinem Mann, der macht manchmal Sachen, von denen er glaubt, sie wären witzig.»
Schauer klopfte noch mal an die Tür. «Maxim, mach jetzt auf.»
Endlich gab der Junge nach und öffnete. Er war kreidebleich im Gesicht, nur seine Augen waren rot. Er hatte ganz offensichtlich geweint. Ungewöhnlich für einen so großen Jungen. Er ging zur Toilette, setzte sich auf den geschlossenen Deckel, lehnte sich zurück, schloss die Augen.
«Red mal jetzt Tacheles, was ist mit dem Zeug hier? Warum rastest du aus, deswegen?» Es war ihr schon unheimlich. Irgendwas musste ja hier vorgehen.
Maxim zögerte, öffnete die Augen. «Versprichst du, Vati nichts zu erzählen?», fragte er seine Mutter.
«Na ja, kommt drauf an», sagte sie.
«Das ist alles meine Schuld», sagte Maxim leise. Schauer spannte sich an, versuchte sich für das Schlimmste zu wappnen. «Wir waren in dem Bauernhof. Mit den Typen aus der Schule, auch dem Russen. Das hat sich irgendwie ergeben. Im Sommer schon. Das erste Mal in den Ferien. Ich kannte die aus der Schule, und wir trafen uns an einem See, wo wir heimlich badeten.»
«Hab ich es doch gewusst», murmelte Frau Kühn.
«Da waren die aus der Schule. Eine große Clique. Die machten sich immer lustig über uns. Weil wir angeblich Dorfkinder sind. Dabei sind die die Penner. Na ja, ich wollte …» Er hob die Schultern.
«Du hast versucht, sie zu beeindrucken», half Schauer. Maria wahrscheinlich.
«Ich hab von dem Bauernhof erzählt, dass es da spukt. Weil da ’ne Hexe gewohnt hat.»
«Eine Hexe?», fragte Schauer und hoffte, ihr Tonfall wäre nicht allzu skeptisch. «Frau Gessner?»
«Weiß nicht, wie die hieß. Das haben die Leute aus dem Dorf erzählt. Das haben die schon gesagt, als die noch gelebt hat.»
«Was haben die denn erzählt?»
«Na das, dass die kleine Kinder frisst und so ein Zeug. Dass manchmal nachts ein kleines Licht übers Feld zieht und dass es manchmal heult in der Nacht. Der Jolisch hat gesagt, wir sollten lieber wegbleiben, wenn uns unser Seelenheil lieb wär. Ich hab das erzählt, weil ich cool sein wollte. Da kam einer auf die Idee, mal dahin zu gehen. Irgendwann haben wir das gemacht. Und am Anfang war das auch ganz cool. Spannend. Da drinnen stehen ja Maschinen, und eine kleine Wohnung war da, wo die Alte gewohnt hat. Und hinten war ja alles eingebrochen. Das war schon so kaputt, wo die noch gelebt hat. Und da ging das schon los.»
«Was denn genau?»
«Komisches Zeug, was passiert ist.»
«Solche Zweige?»
«Tote Tiere auf der Terrasse!»
«Das stimmt!», merkte seine Mutter auf. «Als hätten wir eine Katze! Eine Maus einmal, sogar mal eine kleine Schlange.»
«’ne Blindschleiche!», verbesserte der Junge. «Und manchmal war in meinem Zimmer was.»
«In deinem Zimmer?», fragte Frau Kühn entsetzt.
Maxim nickte. «Da lag mal ein toter Vogel. Und Zweige. Größere. Lagen so übereinander gekreuzt auf dem Fußboden.»
«War da deine Schwester schon mit dabei, bei den ersten Streifzügen im Sommer?», fragte Schauer.
«Nee, das wollte ich ja auch gar nicht. Die kam später dazu, als die mich mal mit denen gesehen hat. Mit Oskar und so.»
«Und Maddox, hat sie sich in den verknallt?»
«Wie bitte!?» Das Entsetzen seiner Mutter nahm kein Ende.
Für Maxim war es nicht wichtig, er winkte ab. «Jedenfalls sagt irgendwann einer, vor paar Wochen oder so, er wettet, es traut sich niemand, in der Nacht dazubleiben. Da war es aber schon Herbst oder so, und nachts ist es da drinnen null lustig.»
Null. Da hatte er recht. «War da Celina mit dabei?»
«Nein, nur ich und die anderen Jungs. Oskar, Maddox, Hermann und der Russe.»
«Und Maria», schlussfolgerte Schauer, denn ohne sie hätte Maxim da nicht mitgemacht.
«War das, wo wir dachten du übernachtest bei Paul?», fragte Frau Kühn. Ihr Beisein wirkte sich inzwischen als wirklich kontraproduktiv aus. Mit ihren Fragen lenkte sie immer wieder ab.
Maxim sparte sich die Mühe zu antworten. «Das war schlimm, sag ich Ihnen. Keiner wollte es zugeben, aber irgendwann hatten wir so Panik, dass wir rausgerannt sind. Der Russe hat uns verrückt gemacht. Der glaubt an den Scheiß, der sagt, man muss freundlich sein zu Geistern und sich nicht in ihr Revier einmischen, sonst hat man immerzu Ärger. Jedes Mal, wenn es geknackt hat oder gequietscht, hat er gesagt, seht ihr, wir sind nicht allein. Maria hat sich immerzu lustig gemacht über ihn, hat gelacht. Die hat sogar ins Haus gepisst. Da ist André extrem wütend geworden. Hat gesagt, ’ner Hexe kannste nicht ins Haus pissen, auch wennse tot ist. Und dann hat sie plötzlich ihren Scheiß bekommen, hat sie gesagt, obwohls gar nicht an der Zeit war.»
«Ihren Scheiß?», fragte Schauer. «Sie hat ihre Tage bekommen?»
Maxim hob die Schultern. Entweder war es ihm zu peinlich, oder er wusste gar nicht, wie dieser Scheiß wirklich hieß, weil er in Biologie nicht aufgepasst hatte.
«Na ja, sie war dann nicht mehr lustig. Und dann hat sie gesagt, sie hätte wen gesehen und André auch. Da sind wir alle rausgerannt. Am nächsten Tag haben alle getan, als wären sie cool. Und die haben gesagt, die machen das noch mal, dann aber mit Taschenlampen und so, und sie wollen filmen und so.»
«Du wolltest aber nicht noch mal?»
Maxim schüttelte den Kopf. Er war bedient, für immer vermutlich. Und Maria hatte sich wohl für ihn als Flop erwiesen. Zwar schien sie freizügig, aber nicht für jeden pickeligen Jüngling mit fettiger Stirn.
«Seitdem gab es noch Vorfälle?»
Maxim nickte. «In meinem Schulrucksack war Scheiße, von irgendeinem Tier. Marder, hat Paul gesagt. Weil Marder immer bei seinem Vater ins Auto steigen und auf den Gehweg scheißen.»
«Aber Paul hat das nicht in deinen Rucksack getan?»
«Nee», Maxim schien sich sicher.
«Also gut, wann kam Celina ins Spiel?»
«Das hab ich nicht mehr so mitbekommen. Ich wollte mit denen nix mehr zu tun haben. Aber in der Schule hat sich Celina immer so an die rangemacht. Dabei sind die drei Jahre älter als die, oder vier.»
Und nicht ungefährlich, fügte Schauer in Gedanken hinzu. Was auch immer in dem Bauernhof sein soll, diese Gruppe Jugendliche schien gefährlicher.
«Hältst du es für möglich, dass die Jungen sich mit Celina trafen? Dass sie sie irgendwie ausnutzten?»
Maxim sah auf, sah zu seiner Mutter hin. Ihm war unwohl mit der Antwort. Seine Schwester war erst zwölf. Er war der große Bruder. Und es war durchaus möglich, dass er seiner Funktion als Beschützer nicht nachgekommen war.
«Nun sag schon!», fuhr Frau Kühn ihn an.
«Ja, kann sein. Der Maddox tut zwar, als würde sie ihn übelst nerven. Aber einmal hab ich gesehen, hinten, wo alle rauchen auf dem Schulhof, da standen die, und da hat er sie gezwickt.»
«Wie denn gezwickt?», fragte seine Mutter ungehalten.
«Na, die Titte. Sie hat gekichert und geschrien, es tut weh, aber sie ist geblieben, und er hat es gleich noch mal gemacht, und die anderen haben sich drüber lustig gemacht.»
Schauer sah zu Bruch. Der gab sich wieder ungerührt. Sie nahm ihr Handy heraus. «Ich lass die alle hochnehmen. Maddox, Maria, Oskar», sagte sie, damit Bruch es wusste und damit Frau Kühn sah, dass gehandelt wurde.
Frau Kühn neben ihr schnaufte, während sie auf das Freizeichen wartete. Buchholz ging ans Telefon. «Schauer hier», sagte sie, während Frau Kühn zu Maxim ging.
«Es müssen sofort Leute zur Gamigstraße …»
In dem Moment verpasste Frau Kühn ihrem Sohn eine so heftige Ohrfeige, dass er fast von der Toilette fiel. «Sie ist zwölf!», kreischte sie, dass ihr die Stimme überschlug. «Zwölf, verstehst du! Warum erzählst du uns das nicht!»
Ehe sie noch einmal zuschlagen konnte, hatte Bruch zugefasst. Wutentbrannt, fast von Sinnen starrte die Kühn ihn an, ein stummer Kampf entspann sich, nur ihre Rechte gegen seine. Er gewann, ohne sich mühen zu müssen.
«Frau Kühn, bitte!» Schauer hatte das Handy sinken lassen. Maxim hielt sich die Wange, die feuerrot wurde, doch er schien sich seiner Schuld und seiner Feigheit bewusst.
«Ich hatte Angst, echt», flüsterte er.
«Du hast Angst?», fuhr Frau Kühn herum, und diesmal musste Bruch richtig zufassen, damit sie nicht auf Maxim losging. Der wich ihr nur ein wenig aus, indem er seinen Oberkörper zur Seite beugte. Immer noch schien ihm seine Mutter weniger gefährlich als alles andere.
«Ich hab Angst, ich will mit dem Scheißding nichts mehr zu tun haben. Und alle haben Angst, alle hier, können Sie fragen.»
«Aber was hat das mit Celina und dem Jungen zu tun?», fragte Schauer, sie hob das Handy zum Ohr, weil sie Buchholz rufen hörte. «Geht gleich weiter!»
Maxim wusste es nicht so recht. «Ich glaube, das hat alles damit zu tun.»
«Verstehe ich nicht.»
«Alles hier. Kein Kind geht mehr raus. Zumindest nicht allein. Die Erwachsenen im Dorf streiten. Man soll sich nicht einmischen.»
«Wer sagt das?»
«Sie.»
«Sie?»
Maxim zögerte, senkte den Kopf. Es ging etwas in ihm vor.
«Hat das jemand zu dir gesagt? Wer? Maxim, wer?»
«Das darf ich nicht sagen.»