Er öffnete nicht gleich die Augen, als er erwachte. Zuerst lauschte er, versuchte zu ergründen, wo er war und ob es echt war, was er fühlte und dachte. Er saß, so wie er sich in der Nacht hingesetzt hatte, es roch, wie es gerochen hatte. Nur hörte er nichts. Jetzt hob er die Lider, es war noch dunkel, doch der neue Tag war angebrochen, ein grauer Schimmer lag über dem Land. Bruch fand sich im ehemaligen Wohnzimmer der Verstorbenen wieder, in dem Sessel, in den er sich gesetzt hatte. Er drehte den Kopf nach rechts, sah zum Sofa. Sie war nicht da. Ihr Rucksack lag da, der Schlafsack, aber Schauer war weg. Er bewegte sich, spürte Schmerzen. Keine speziellen, sondern allgemeine, wie nach einem anstrengenden Tag. Er nahm die Hände hoch, betrachtete sie, ballte sie zu Fäusten, öffnete sie wieder. Schmutzig waren sie.
Bruch stand auf, ging in die Küche, sah aus dem Fenster, nichts hatte sich verändert. Sein Nacken tat weh, sein Rücken ein wenig. Die Beine waren steif. Benommen kam er sich vor. Tastete in seinem Mund nach einem Geschmack. Schmeckte Erde. Hatte er geschlafen, fragte er sich. Die ganze Nacht geschlafen? Er hatte geträumt, wusste er, und nun kamen Traumfetzen als Erinnerungen zurück. Noch einmal hob er die Hände vor seine Augen. Selbst in dieser Düsternis, dem ersten schwachen Schimmer an Morgenlicht, sah er, wie dreckig sie waren, die Fingernägel schwarz, als hätte er in der Erde gegraben. Er konnte sich nicht erinnern, sie überhaupt gebraucht zu haben. Nachdenklich drehte er seinen Kopf, bis es knackte im Genick, sah noch einmal zum Sofa.
«Nicole», fragte er, sah, wie die Wände sich bewegten, wie Segel in einer ganz schwachen Brise. Zeit für seine Tablette. Aber zuerst musste er herausfinden, ob er geschlafen hatte, oder ob geschehen war, was so lang nicht mehr geschehen war. Sie hatte gestern schon behauptet, er wäre nicht da gewesen. Wäre verschwunden in der Nacht. Da hatte er ihr nicht geglaubt, wusste nicht genau zu unterscheiden zwischen dem, was real war und was nicht, hatte die Tablette nicht genommen. So wie jetzt. Er sah wieder nach unten, hatte die Tablettendose in der Hand und wusste nicht, wie sie dahin gekommen war. Hatte er nun schon eine genommen oder nicht? Er griff in seine Jackentasche, war froh zu finden, was er glaubte eingesteckt zu haben, inzwischen war gar nichts mehr sicher. Er nahm das kleine Diktiergerät heraus, das er am Vortag in seinem Schlafzimmer so lang hatte suchen müssen. Kaum größer als ein Feuerzeug. Ein digitales Gerät mit vielen Stunden Speicherzeit. Er beendete die Aufnahme, drückte auf Abspielen. Zuerst hörte er sie den Schuttberg erklimmen, hörte Schauer fluchen, er solle warten. Dann, wie sie die Stufen hinaufgestiegen waren, wie sie sich setzten, einrichteten. Schauer sprach. Irgendwann schlief sie ein. Dann geschah ewig nichts. Es blieb lange stumm, einzig sein Atmen konnte er vernehmen. Bruch drückte auf schnelleren Vorlauf, hielt sich das Gerät ans Ohr. Als er glaubte, etwas gehört zu haben, hörte er noch einmal in normaler Geschwindigkeit. Eine Tür quietschte. Leise Schritte. Ein Schrei. Er spulte zurück. Vielleicht auch das Quietschen einer alten Tür. Aber aus weiter Entfernung. Dann wieder nichts. Lange Zeit nichts. Nur sein Atem. Leise Schritte. Seltsame Geräusche. Undefinierbar. Was hatte er getan?
Jetzt hörte er es rascheln. Jemand näherte sich von draußen. Bruch steckte das Gerät weg. Es hatte ihm nicht geholfen. Nur bewiesen, dass ein Teil von ihm anscheinend erwachte, während ein anderer schlief. Noch einmal ging er in die Küche, sah nach unten. Doch es war zu spät, jemand war schon am Haus, kletterte den Schuttberg hinauf. Er drehte sich um, wartete. Schritte waren zu hören, wurden langsamer, zögerlicher. Bruch blieb still, regte sich nicht. Er konnte sich nicht trauen. Hätte er eine Tablette genommen, müsste sie langsam Wirkung zeigen, aber vielleicht wirkte sie schon. Was würde er sonst hören und sehen?
Es wurde ganz still. Nur die Mäuse nagten im Gebälk. Dann trat Schauer in die offene Tür, die Pistole auf ihn gerichtet. Völlig verdreckt war sie, die Hose voller brauner Flecken, wie Schlamm. Die Jacke zerrissen. Der Verband auf ihrer Stirn schwarzfleckig, ihre Augen geschwollen.
«Wo warst du?», fragte Bruch.
Schauer ließ die Waffe sinken, trat in den Raum. «Wo ich war?», fragte sie zurück. «Wo ich war, fragst du? Wo warst du!»
Sie war voller Zorn. Was immer ihr geschehen war, es hatte sie an den Rande des Wahnsinns getrieben. Bruch hob die Hand.
«Wag es nicht», unterbrach sie ihn, ehe er begonnen hatte, «wag es nicht, mir irgendeinen Scheiß zu erzählen. Du hast versprochen, da zu sein, und als ich aufgewacht bin, war ich wieder allein. Du warst weg, und offensichtlich bist du ja zurückgekommen, und es hat dich einen Scheiß interessiert, wo ich war.»
«Wo warst du?»
«Du sollst still sein, ich will kein Wort von dir hören. Ich weiß nicht, was hier vor sich geht, aber ich lass mich nicht verarschen. Wo ist André?»
«André?»
«Der Russe!», schrie Schauer, senkte dann die Stimme wieder. «Er war hier, vollkommen verängstigt. Er sagte mir, das Mädchen wäre hier. Deshalb bin ich in den Keller gegangen. Jemand hat mich angegriffen, jemand hat versucht, mich einzusperren, während du …» Sie musste innehalten, um die Fassung wiederzugewinnen, «während du irgendwo warst und dich einen Scheiß für mich interessiert hast. Ich hab im Auto gepennt, und ich bin nur zurückgekommen, weil ich mein Handy im Keller verloren habe und es wieder holen will. Du kommst mit, und dann, sag ich dir, dann sind wir fertig. Und nicht nur wir miteinander. Du bist fertig, sag ich dir. Ich werde zu Simon gehen und ihn aufklären über dich. Dass du Tabletten bekommst, von irgendeiner Ärztin, die das Zeug unter der Hand vertickt. Ich hab die Tabletten untersuchen lassen, hab sie jemandem gezeigt, der sich damit auskennt. Ich weiß, was das für Dinger sind! Du bist richtig kaputt! Das sind Psychopharmaka! Das bekommt man gar nicht einfach so, die kannst du nicht kaufen! Das bekommen Leute in der Psychiatrie! Die schweren Fälle. Borderliner, Schizos, Psy-cho-pa-then, verstehst du? Kranke! Du bist nicht du! Ich weiß nicht, wie lang du die schon nimmst, aber du bekommst sie illegal! Du müsstest in Behandlung, ganz dringend! Dienst-un-fähig! Das bist du! Sieh dich doch an! Keine Ahnung, was dein Kumpel Michael darüber dachte, aber es hat ihn anscheinend das Leben gekostet. Aber mich nicht, verstehst du? Ich hab erst diese Scheißkrankheit überstanden, ich werde nicht in irgendeinem Scheißauto verbrennen oder hinterrücks erschossen, weil du nämlich in die Klapse gehst.»
Bruch spürte Leben in sich, das Herz begann zu schlagen. So durfte sie nicht reden. Sie wusste längst nicht alles, nicht über ihn und nicht über Michael, sie durfte nicht zu Simon gehen. Sie wusste nichts über die Frau mit den Tabletten. Sie wusste erst recht nichts von Simon. Er wollte es ihr erklären, doch dazu müsste er die Tablette nehmen, oder er hatte sie schon genommen, zwei zu nehmen, wäre ein ebenso großer Fehler. Einer, den er auch schon begangen hatte. «Du verstehst das nicht!», sagte er.
«Nein, du verstehst nicht!», fuhr Schauer ihn an. Jetzt nahm sie sich wieder zusammen. Atmete durch, richtete sich auf. Aber sie hatte die Pistole wieder angehoben. «Felix, du bist krank», sagte sie, überdeutlich, überlangsam. «Dir muss geholfen werden.»
«Nein», sagte er, «wir müssen ins Bestattungsinstitut fahren, wir müssen erfahren, wann Frau Gessner eingeäschert wurde. Sie starb nicht ein halbes Jahr nachdem Linda verschwunden war, sondern ganz kurz darauf.» Das hatte er überprüft. Gestern, oder an irgendeinem anderen Tag. «Wenn etwas in dem Haus geschehen ist in der Nacht, wenn jemand hier war, dann muss es jemand gewesen sein, der die alte Frau kannte, der Linda hier versteckte und vermutlich auch Celina hier versteckt. Vielleicht hat die Frau es erfahren und musste deshalb sterben. Wir müssen Jolisch finden, und wir müssen ins Krematorium.» Er verstummte. Sein Körper vibrierte. Seine Fingerspitzen kribbelten. Es wurde deutlich: Er hatte sie noch nicht genommen. Die Tablette. Er musste, musste sie nehmen, schnell, jetzt, doch gerade jetzt, für diesen Moment, fühlte es sich gut an. Leben.
Schauer starrte ihn an. Lange Zeit. «Hast du irgendwas von dem verstanden, was ich gesagt habe?»
«Ich habe alles verstanden.» Um ihre Füße stieg schwarzer Nebel auf. Sie sah es nicht, müsste nach unten sehen. Er hob die Hand wieder. «Aber du weißt nicht, was mit Michael war. Niemand weiß das.»
Schauer winkte ab. «Es ist mir egal. Komm jetzt mit in den Keller, noch einmal will ich nicht allein da hinein. Dann melden wir, dass André hier war, sollen die sich kümmern, der kann nicht weit sein. Dann fahre ich uns nach Hause.»
Kein Wort sprachen sie. Nicht eine Silbe. Sie fanden das Telefon, es lag im Dreck, zwischen den Spuren ihrer Panik, die jetzt, im trüben Tageslicht und da sie nicht mehr allein war, völlig übertrieben hysterisch wirkten. Ihre Handabdrücke sah sie, panisch wischende Finger, Schuhspuren, Hunderte, Tausende, als sei sie auf der Stelle getippelt, Rutschspuren, hierhin, dahin. Kein totes Tier, von dem sie glaubte, jemand hätte es auf sie geworfen. Bruch sagte nichts dazu. Was er dachte, war sowieso ein Rätsel, ob er sie überhaupt verstanden hatte, noch dazu. Vermutlich verdrängte er es einfach. Schmutzige Hände hatte er, sie hatte ihn nicht darauf angesprochen, aber bitte, erklär das mal einer. Soll er es selbst erklären, wenn Simon Bescheid weiß. Mithilfe seiner Lampe waren sie durch den Keller gelaufen, den ganzen Weg zurück, der ihr in der Nacht endlos vorgekommen war. Jetzt waren das natürlich bloß ein paar Meterchen. Dort, wo sie an der Mauer runtergerutscht war, hatte er etwas gesehen, hatte sich gebückt und es aufgehoben, und im Keller hatte sie nicht kapiert, was das war, aber jetzt, hier im Auto, diesen Idioten an ihrer Seite, der vermutlich schuld an der ganzen Sache war, der sie in seiner Beklopptheit fast in den Wahnsinn getrieben hatte, jetzt kapierte sie, dass er die zwei leeren Patronenhülsen gefunden hatte.
Verdammter Dreck, jetzt musste sie auch noch ein Protokoll schreiben. Wieder zwei Schuss verballert. Ins Dunkle. Ins Blaue. Stell dir vor, das Mädchen wäre da gewesen, und du hättest sie abgeknallt.
Bruch langte langsam rüber, griff in den Lenker. Schauer riss die Augen auf, sie war beim Denken nach rechts gedriftet, beinahe gegen ein parkendes Auto geschrammt.
Wo musste sie lang, überlegte sie, fragen wollte sie nicht. Sie war Polizistin, sie musste klarkommen, und immerhin wohnte sie schon fast zwei Jahre in dieser Stadt. An einer Kreuzung schaltete sich ihr inneres Navi zu, das war die Zufahrtsstraße zum Stadtzentrum, links also.
Am besten, sie würde gleich ins Präsidium fahren, egal wie alle glotzen würden. Dann war sie eben dreckig. Sie reckte den Kopf nach rechts, sah in den Spiegel. Die Verletzung war anscheinend doch geplatzt, der Verband war durchgeblutet, ein kreisrunder Fleck war zu sehen, wie die japanische Flagge. Die werden sich kaputtlachen. Kamikazekid werden die sie nennen. Harakiritante, irgend so was. Sie würde Simon alles erklären müssen, warum überhaupt die ungenehmigte Aktion. Im Prinzip Hausfriedensbruch. Warum sie sich getrennt hatten, warum sie André nicht festgesetzt hatte. Handschellen drum. Weil sie nicht zulassen konnte, dass er erstens, mit Händen auf dem Rücken versuchte, den Schuttberg herunterzuklettern, praktisch unmöglich, oder zweitens, sich jemandem ausgesetzt sah, der ihn am Ende noch mit einer Schaufel erschlug. Und wie sie rausfinden konnte, dass Bruch diese Tabletten nahm. Verletzung der Privatsphäre, Hausfriedensbruch Numero zwei, Datenschutz, Kameradenschwein, eingebildete Wessikuh, was weiß ich. Zieh es durch, mahnte sie sich, fahr heim, dusch dich, zieh saubere Klamotten an, mach einen seriösen Eindruck. Die denken sowieso schon, du spinnst.
Sie fand Bruchs Block, bog in seine Straße ein, hielt an, obwohl hinter ihr ein Kleintransporter fuhr, der nun warten musste. Sie starrte stur geradeaus, als Bruch ausstieg. Er sagte auch nichts. Prima, kannst mir gestohlen bleiben. Er warf die Tür zu, und sie fuhr los.
Sie fuhr den ganzen Ring ab, kam so wieder an eine Ampelkreuzung, wo sie zurück auf die breite Zufahrtsstraße kam. Coventrystraße. Zur Belohnung, dass Coventry als erstes Bombenopfer im Zweiten Weltkrieg herhalten musste, haben wir euch eine vierspurige Straße gewidmet, die durchs Ghetto unserer Stadt führt. Gratulation! Die hübschen Straßen im Zentrum waren leider aus. Die Ampel wurde grün, sie bog rechts ab. Genau wusste sie es auch nicht mehr, aber sie musste durch einen Tunnel, dann links, dann rechts mitten durchs Zentrum, Zwinger links, Altmarkt rechts, Frauenkirche links, dazwischen nagelneue, herrlich hässliche Investitionsgroßbauten, wunderbar ins Ensemble der DDR -Plattenbauten eingefügt, Gratulation, schönste Stadt der Welt, beklopptester Kollege ever. Sie sah in den Rückspiegel. Sie war über die letzte Kreuzung bei Gelb gefahren. Hinter ihr war der Transporter, doch danach war noch ein Auto abgebogen, folgte ihr. Dabei müsste es nach dem Transporter längst rot gewesen sein. Mercedes A-Klasse, silbern. Schauer sah noch einmal in den Spiegel, doch der Transporter verdeckte die Sicht.
Sie fuhr in den Tunnel ein, gewann ordentlich an Geschwindigkeit, wenn man hier nicht aufpasste, fuhr man leicht hundert mitten in der Stadt, da wollte man nicht geblitzt werden. Als sie aus dem Tunnel kam, wechselte der Transporter in die Rechtsabbiegerspur, gab den Blick nach hinten frei. Da hatte sich inzwischen ein weiteres Auto eingeordnet, doch dahinter fuhr der Mercedes. Musste nichts bedeuten. Doch etwas kam ihr an dem Auto merkwürdig vor, auf etwas war sie aufmerksam geworden.
Das Beste war wohl, sie fuhr einfach weiter, würde sich ja zeigen, ob das Auto ihr folgte.
Sie zwang sich, nicht in den Rückspiegel zu sehen, man musste ja wirklich drauf achten, dass man nicht genauso bekloppt wurde wie Bruch. Sie bog links ab, in Richtung Elbe, dann in Sichtweite dieser riesigen Moschee, die aber eine ehemalige Tabakfabrik war, ein Werbegag, den sich heutzutage garantiert keiner erlauben würde, wegen Political Correctness und Verletzung von Gefühlen. Jeder war heutzutage sofort verletzt, für ein Bild von einem Schnitzel bekommst du einen Hatekommentar von ’nem Veganer, bei Twitter wird es nicht angezeigt, von wegen sensibler Inhalte. Aber die, deren Gefühle wirklich verletzt sind, die sollen mal schön den Mund halten, interessiert eh keinen, sollen sich nicht so haben, strengt nur an. Sie bog rechts ab, ins Stadtzentrum hinein. Erst jetzt erlaubte sie sich wieder einen Blick in den Rückspiegel. Im ersten Moment schien der Mercedes verschwunden, hinter ihr waren drei andere Autos. Dann aber sah sie ihn doch, weiter dahinter.
Hatte auch noch nichts zu bedeuten. Eine Menge anderer Autos waren auch denselben Weg gefahren und sortierten sich auf der nächsten Rechtsabbiegerspur ein wie sie. So wie sie das bisher gesehen hatte, schafften es auch gerade mal vier Fahrzeuge bei Grün über die nächste Kreuzung, und vor ihr standen noch zwei.
Die Ampel schaltete um, und da Fußgänger über die Straße wollten, verzögerte sich alles noch mehr. Als sie abbog, wurde es schon wieder gelb, nach ihr rutschte nur noch einer durch. Dann war Schluss. Ätsch, angeschmiert, dachte sich Schauer. Zur Sicherheit sah sie noch einmal nach, doch inzwischen war ein ganzer Schwung weiterer Fahrzeuge von der anderen Seite der Kreuzung herübergekommen, und endlich ging es auch an der nächsten Kreuzung voran. Im Spiegel sah sie, dass auch diese Ampel wieder umschaltete. Damit war sie sicher, ihren Verfolger abgeschüttelt zu haben. Oder eben irgendeinen silbernen Mercedes, der gar nichts mit ihr zu tun hatte.
Nun kam sie ins Zentrum, stand an vier, fünf, sechs anderen roten Ampeln an. Passierte das große Einkaufszentrum, den Platz, wo der Weihnachtsmarkt war, und schon war sie durch, überquerte den Pirnaischen Platz. Jetzt konnte man wieder Gas geben. Das tat sie und freute sich so sehr auf die Dusche, einen Kaffee und vielleicht eine Stunde Schlaf, die sie sich gönnen würde, dass sie Mühe hatte, ruhig zu bleiben und nicht entlang des Großen Gartens voll aufs Pedal zu treten.
Eher zufällig sah sie in den linken Außenspiegel, wie der silberne Mercedes mit extrem hoher Geschwindigkeit auf der linken Spur fuhr und drei Autos hinter ihr auf die rechte Spur einfädelten.
«Was geht denn hier ab?», flüsterte Schauer. Ihr Blick fiel aufs Funkgerät. Sie konnte Hilfe rufen, auch wenn ihr Handy aus war. Doch noch war sie nicht so weit, sich ganz zur Idiotin zu machen. Erst mal sehen. Was sollte passieren am helllichten Tag? Im Notfall hatte sie die Knarre.
Sie blieb auf der Spur, wechselte erst kurz vor der Kreuzung auf die linke, weil sie auf dem Comeniusplatz abbiegen musste. Zu kurz für den Mercedes, um unauffällig die Spur zu wechseln. Noch glaubte sich der Fahrer wohl unentdeckt. Schauer musste halten, weil für ihre Spur die Ampel Rot zeigte. Die Autos in der Spur neben ihr rollten jedoch geradeaus weiter. Schauer beugte sich ein wenig nach links, drehte den Kopf nach rechts, wartete, dass der Mercedes sie passierte.
Eine Frau saß am Steuer, ihr Alter, schulterlanges brünettes Haar. Sie machte nicht den Fehler, zu ihr ins Auto zu schauen, blickte geradeaus. Das war die Frau, die sie gestern angestarrt hatte, als sie den Gerichtsvollzieher auf der Straße getroffen hatten. Drüben in der Neustadt.
Es hupte, denn sie hatten Grün. Schauer fuhr an. Was wollte diese Frau von ihr? Hatte sie etwas mit Celina zu tun? Gab es andere Gründe, ihr zu folgen? War es jemand von Sebastian? Wo war sie jetzt? Bestimmt ließ sie sich nicht so einfach abschütteln. Schauer sah in alle Rückspiegel, drehte sich um. Beim Passieren der nächsten Kreuzung sah sie den Mercedes sich von rechts nähern. Wie dringlich war es, dass die Frau eine solche Geschwindigkeit riskierte, denn sie musste gerast sein, um jetzt hier zu sein.
«Also gut», flüsterte Schauer. Eine Frau. Das musste zu schaffen sein. Und sie würde sie garantiert nicht bis zu ihrer Wohnung führen. An der nächsten Kreuzung bog sie rechts ab und gab Gas, weil sie sich noch einen kleinen Vorteil verschaffen wollte. Kam nach zwei weiteren Kreuzungen an einen Kreisverkehr, in dessen Mitte sich ein kleiner Park mit Spielplatz befand. Es war noch zu früh für spielende Kinder. Sie war ganz allein hier, das sollte genügen. Sie fuhr in die nächstbeste Parklücke, stieg aus und lief hinüber zu dem Spielplatz. Dort stellte sie sich so auf, dass der Mercedes direkt auf sie zufahren musste. Ein Wagen näherte sich, an den Lichtern glaubte sie den Mercedes zu erkennen. Er fuhr langsam, die Fahrerin suchte sie offenbar. Schauer trat einen Schritt nach vorn, wappnete sich darauf, dass der Wagen beschleunigte und auf sie zuschießen könnte. Hinter dem Rücken nahm sie nun die rechte Hand vor, in der sie Pistole hielt.
Die Fahrerin des Mercedes erkannte sie in diesem Moment, sie bremste kurz, fuhr dann vorsichtig wieder an. Während sie näher kam, wurde sie langsamer. Schauer bedeutete der Fahrerin, rechts ran zu fahren. Die Frau tat wie geheißen. Schauer wartete, sah zu, wie sie ausstieg. Eine ganz normale Frau, so alt wie sie, so groß wie sie. Sie trug Jeans, halbhohe Schuhe und eine Funktionsjacke.
«Können wir kurz sprechen?», rief sie halblaut über die Straße.
«Hier!», antwortete Schauer.
Die Frau nickte, warf die Tür zu und überquerte die Straße.
«Ich will Ihre Hände sehen!», rief Schauer.
Die Frau stutzte, dann verstand sie und zeigte ihre Hände vor. Nur um zu zeigen, dass mit ihr nicht zu spaßen war, zeigte Schauer kurz die Pistole.
«Das ist nicht nötig!», sagte die Fremde, kam nun über die Straße gelaufen. Schauer wich zurück, ließ sie nicht aus dem Blick.
«Also, was soll das?», fragte Schauer und hoffte, ihre Stimme hörte sich nicht zitterig an.
«Sind Sie Felix’ neue Kollegin?», fragte die Frau.
«Wer will das wissen?»
«Ich bin Cornelia, ich bin seine Ex-Frau. Sind Sie nun die neue Kollegin?»
«Noch!»
«Genau darüber wollte ich mit Ihnen reden! Können wir nicht in ein Auto gehen? Es ist kalt, und bestimmt regnet es gleich wieder.»
Vergiss es, wollte Schauer sagen, ich lass mich nicht mehr an der Nase herumführen. «Also gut», sagte sie aber.
«Ich habe Sie gestern zufällig gesehen, drüben in der Neustadt. Ich war eine Bekannte besuchen, da erkannte ich Felix und sah Sie. Ich habe … na ja, ich habe Ihrem Gesicht angesehen …»
«Was denn?» Sie hatten sich in den Mercedes gesetzt. Schauer hatte sich im Beifahrersitz Bruchs Ex-Frau zugewandt.
«Felix eben. Jeder, der mit ihm zu tun bekommt, hat über kurz oder lang seine Probleme mit ihm.»
«Probleme kann man das nicht nennen! Was wollen Sie von mir?»
«Ich möchte Ihnen nur sagen, er ist kein schlechter Mensch, wirklich.»
Schauer hob den Zeigefinger. «Er hat …» Es war gar nicht in Worte zu fassen.
«Ich weiß», Cornelia Bruch zog eine bedauernde Miene. «Ich weiß, was Sie meinen, ich war mit ihm verheiratet. Er war nicht immer so. Als ich ihn kennenlernte, war er anders. Ein bisschen seltsam schon manchmal, aber sonst freundlich, hilfsbereit, aufmerksam. Manchmal war er still, da ließ ich ihn in Ruhe, weil er mit seinen Gedanken woanders schien. Irgendwann ging das aber los, da wurde er immer seltsamer, fast unheimlich manchmal. Das ging so weit, dass ich es irgendwann nicht mehr aushielt.»
«Hat das was mit diesem Bartko zu tun?»
«Mit Michael? Nein, die kannten sich davor schon lang. Irgendwas war geschehen, dass Felix so wurde. Es passierte ja auch nicht von jetzt auf gleich. Es war ja schon immer so, dass er manchmal Dinge sah, die kein Mensch bemerkte. Aber das kehrte sich immer mehr um. Er wurde immer schräger, wissen Sie! Konnte stundenlang sitzen und starren. Bemerkte es nicht, wenn jemand etwas von ihm wollte. Manchmal, wenn ich ihn ansprach, sah er mich an, als müsste er erst überlegen, wer ich war. Aber er ist ein guter Mensch. Dass er so ist, dafür kann er nichts. Verstehen Sie, das wollte ich Ihnen sagen.»
Schauer ließ die Hand sinken. Sie dachte über das Gesagte nach. Cornelia sah sie an, wartete traurig lächelnd auf Reaktion.
«Und Sie denken jetzt, weil Sie mir das erzählen, mit Ihrem Hundeaugenblick, lasse ich mich beeindrucken?», sagte Schauer. «Kann ja sein, dass er ein guter Mann war! Jetzt aber ist er ein Irrer, einer, auf den man sich nicht verlassen kann, dem man nicht einen Meter weit trauen darf. Zweimal hat er mich schon sitzen lassen. Und es wird vermutet, dass er diesen Michael hat im Auto verbrennen lassen. Ich weiß, dass er Tabletten nimmt, richtige Granaten, vielleicht wissen Sie das nicht. Die knipsen ihm die Lichter aus im Kopf. So kann das nicht bleiben, ich werde ihn melden müssen. Er ist vollkommen unberechenbar.»
Mit jedem der letzten drei, vier Sätze war der Frau das Lächeln mehr und mehr vergangen. Auch ihre Haltung änderte sich, sie spannte sich an, streckte sich, wirkte größer. Jetzt klemmte sie sich mit einer flüssigen Bewegung der Rechten die Haare hinter die Ohren.
«Felix hatte kein leichtes Leben!»
«Das hatte ich auch nicht!», entfuhr es Schauer reflexartig, und schon wieder ärgerte sie sich über sich selbst. Warum konnte sie nie cool sein, immer nur ihren Impulsen folgen.
«Felix wuchs ohne Eltern auf. Sie sind wohl gestorben, als er sehr jung war. Es muss ein Unglück gewesen sein. Er kann sich nicht erinnern, es wurde nie drüber gesprochen. Geschwister hatte er keine. Zwar lebte er bei seinen Großeltern, aber sie waren sehr streng. Er redet so gut wie gar nicht über die Zeit. Vermutlich weiß er gar nichts davon, weil er alles verdrängt hat.»
«Kann ja sein», unterbrach Schauer, «kann ja alles sein, aber das ist keine Entschuldigung für sein Verhalten. Er bringt andere Menschen in Gefahr.»
«Ich weiß nicht, was geschehen ist, als Michael starb. Ich weiß nur eines, Felix hat ihn nicht einfach verbrennen lassen. Ganz sicher. Vermutlich hatte der Wagen sofort in Flammen gestanden, Felix hat gar nichts tun können. Polizisten sind wie Waschweiber, sag ich Ihnen, die tratschen und tuscheln, verbreiten Gerüchte und wissen nichts. Und wenn sie sich erst mal einen ausgepickt haben, dann lassen sie nicht sogleich von ihm ab. Felix und Michael waren erfolgreich, sie haben Ergebnisse geliefert, mehr als alle anderen zusammen. Michael war sein Freund, und er hatte sonst keine!»
«Wen wundert’s!», lachte Schauer auf und hasste sich dafür, weil es dumm und albern und peinlich war.
«Der Polizeidienst ist alles, was Felix momentan hat. Wenn man ihm das nimmt, dann weiß ich nicht, was mit ihm geschieht. Und Sie kennen nicht den echten Felix. Was Sie sehen, ist ein Mensch, der einmal Felix war. Der etwas sucht und es nicht finden kann. Mischen Sie sich da nicht ein.»
Schauer hatte sich gezwungen, den Mund zu halten, abzuwarten, was noch kam. Das war’s, fragte sie sich jetzt. Die Ex-Frau von Bruch bettelt mich an, nicht zum Chef zu gehen? Weil er keine Eltern hatte? Weil er sonst nichts hat? Mehr war da nicht?
«Sind Sie die Frau, die ihn ab und an anruft?», fragte Schauer leise.
Nein, war sie nicht, allein ihre Miene verriet deutlich, dass sie nichts davon wusste.
«Ich glaube, Sie wissen nicht alles über ihn», sagte Schauer und bemühte sich um eine leise Stimme. «Ich glaube auch, Sie haben ein falsches Bild von seiner Arbeit mit diesem Bartko.» So schnell ließ sie sich nicht unterkriegen. «Unter uns beiden, ich bin sicher, sie ließen sich bestechen. Ich habe in seinem Schlafzimmer Sachen gesehen, die eindeutig nicht in den Haushalt einer funktionierenden Person gehören.» Funktionierende Person, jetzt redete sie wie ihre Mutter. Und überhaupt, in seinem Schlafzimmer, was sollte die denken. «Da war Geld, viel Geld, nicht nur ein paar Euro. Und anderes Zeug. Koks, oder Heroin. Eine Waffe sogar. Ich will mich in nichts hineinziehen lassen. Nicht von einem solchen Psycho.»
Inzwischen hatte sich die Miene der Frau vollends verhärtet. Schauer schloss den Mund. Sie hatte ihr Pulver verschossen, nun sollte die andere sehen, wie sie damit umging.
Jetzt aber hob die Frau den Kopf. Ihr leises böses Lächeln kündigte einen Angriff an. «Mit dem Wort Psycho sollten Sie ja wohl vorsichtig umgehen.»
«Wie meinen Sie das?», fragte Schauer, wusste es selbst, wollte aber wissen, was genau die Frau wusste.
«Ich meine, dass Sie selbst vielleicht ein Psycho sind. Keine Ahnung, was in Ihrer Vergangenheit vorgefallen ist. Soweit ich aber weiß, neigen Sie zu Gewaltausbrüchen. Sie haben in Ihrer Zeit in Hamburg mehrmals bei Vernehmungen die Geduld verloren und einige Personen schwer verletzt.»
Widerliche Zuhälter, Vergewaltiger, Dealer, rotzfrech, hochnäsig. Aber woher wusste die das?
«Bei einer Hausdurchsuchung haben Sie einem Mann beide Arme gebrochen.»
Er hatte sie angegriffen.
«Sie haben einem Kollegen den Arm ausgekugelt.»
Weil er sie angefasst hatte.
«Und Sie haben hier, soweit ich weiß, einen unschuldigen Mann niedergeschlagen, vor drei Tagen erst.»
Einen Sexualstraftäter, einen Mann, der Frauen schlug und sich unterwürfig machte, sie vergewaltigte. Woher wusste sie das alles? Stand sie in Verbindung mit Bruch? Woher aber sollte er von Hamburg wissen? Simon konnte das wissen, indem er da angerufen hatte. Simon war es. Mit ihm sprach sie. Unterhielten sich vermutlich, wie eigen Felix sich in letzter Zeit benahm. Oder mehr noch. So genau, wie sie Bescheid wusste. Lief da was zwischen der Frau und Simon? Kleine rote Blitze zuckten vor ihren Augen.
«Und ich weiß, dass Sie Ihren letzten Freund krankenhausreif geschlagen haben. Sebastian Krummbach. Nasenbeinbruch, Jochbeinbruch, Schlüsselbeinbruch.»
Wie hatte er ihr das nur antun können, wie hatte er nur sagen können, dass er gelitten hätte und das nicht noch einmal aushielt, wie konnte er so etwas sagen, wo sie doch gerade gesund geworden war, wenn er sie doch angeblich liebte, denn wenn man sich liebte, dann hielt man das aus, gerade das, gerade das, wenn einer krank wurde, in guten wie in schlechten Zeiten, es sei denn, er hatte sie nicht geliebt. Das hieß aber dann, er hatte ihr etwas vorgemacht, die ganze Zeit, zwei Jahre lang, oder wenigstens einen großen Teil davon. Seinetwegen hatte sie alles aufgegeben in Hamburg. Alles. Auch wenn es nicht viel war. Vielmehr gar nichts. Denn was war da schon. Kollegen, die ihr aus dem Weg gingen. Eltern, die nichts von ihrem Beruf hielten. Eine Schwester, die anscheinend alles tat, was eine gute Tochter tat, im Büro arbeiten, heiraten, drei Kinder kriegen, oder vielleicht noch ein viertes, als ob es nicht schon genug beschissene Menschen in der Welt gab. Rote Blitze. Explosionen. Strom, der durch ihre Glieder zuckte. Sie musste sich beherrschen. Musste auf ihren Händen sitzen, um nicht der Frau ins Gesicht zu schlagen, in diese hübsche kleine Fresse, die glaubte, etwas Besonderes zu sein, weil sie mal mit diesem Psycho verheiratet war und mit seinem Chef was hatte. Wie konnte Simon davon wissen. Wie konnte diese Frau davon wissen. Sie musste mit Simon in Kontakt stehen. Sie hatten sich Informationen beschafft über sie, anders konnte es nicht sein. Sebastian hatte keine Anzeige erstattet. Hatte Simon ihr nachspionieren lassen? Aufgrund der Aussagen aus Hamburg? Und hatte Bruchs Ex-Frau darüber unterrichtet? Wo war sie hier gelandet?
«Es tut mir leid», sagte Cornelia leise. «Ich wollte Ihnen nicht wehtun.» Sie fasste Schauer an die Schulter.
Fass mich nicht an, wollte Schauer schreien, doch sie brauchte alle Kraft zur Selbstbeherrschung. Die Frau wusste nicht, wie sehr die Fackel in ihr loderte.
«Ich wollte nur sagen, jeder hat sein Päckchen zu tragen. Niemand sollte vorschnell urteilen.»
Sei still, dachte Schauer. Kann sein, dass sie auch nicht ganz on top war, aber Felix war hier der Psycho, und sie würde es der Hübschen hier schon noch zeigen.
«Alles klar», sagte sie, was auch dumm war, denn nichts war klar. Sie öffnete die Tür. «Schönen Tag noch!» Sie stieg aus.
«Wenn Sie vielleicht mal reden möchten …»
Schauer warf die Tür zu.
Sie war allein, als sie ihr Büro im Präsidium betrat. Sie hatte sich Zeit gelassen. Es war inzwischen später Vormittag. Der wolkenverhangene Himmel vom Morgen war aufgerissen und zeigte nun ein Blau, als hätte es nie drei Wochen Regen gegeben.
Die Lamellen vorm Fenster waren geschlossen, ein Zustand, an den sie sich inzwischen gewöhnt hatte. Sie schaltete kein Licht an. Sie setzte sich auf ihren Stuhl, stieß sich mit den Füßen ab, rollte samt Stuhl in die Zimmerecke. Dort griff sie nach den Stricken, mit denen man die Lamellen bediente, drehte sie auf und zerrte sie mit einem großen Schwung auseinander. Dann schob sie sich an den Tisch zurück, sah jetzt erst, was neben ihrer Tastatur lag. In diesem Moment ging die Tür auf, und Bruch kam ins Zimmer. Er schien kein bisschen erstaunt, sie zu sehen.
«Hab mit deiner Ex gesprochen!», begann Schauer unvermittelt.
Bruch verharrte kurz. Er sah ihr in die Augen. Schauer erwiderte den Blick. Es gab keinen Sieger. Bruch setzte sich an seinen Platz, drehte sich ihr zu. Doch, sie hatte gewonnen.
«Simon ist nicht untätig geblieben», sagte Bruch.
«Sie hat mir alles über dich erzählt!», überhörte Schauer ihn, so wie er immer überhörte, was sie sagte.
Bruch hielt noch einmal inne. Dann lächelte er. Kurz nur, aber er lächelte. Das war ihr auch nicht geheuer.
«Der Staatsanwalt hat eine Aussagevollmacht für den Notar erteilt. Ich war dort. Der Notar hat ausgesagt. Jolisch war da gewesen, mit Frau Gessner. Einige Wochen vor ihrem Tod. Die Frau beschrieb der Notar als gefasst, sehr ernst, aber voll geschäftsfähig. Sie hat ohne Zögern die Schenkungsurkunden unterschrieben, ist gemeinsam mit Jolisch gegangen. Ich habe aber noch etwas erfahren. Dieser Arzt, Doktor Frieling, war ebenfalls mit dabei, er erwarb am Tag der offiziellen Grundstücksübertragung ein Vorkaufsrecht für den Hof, bei Jolisch. Jolisch und Frieling, der Mann, der die Tote fand, und der Mann, der ihren Tod feststellte.»
Sie glänzte. Um sie herum strahlte etwas wie eine Aura. Das war nicht echt, wusste er, aber was war schon echt? Das Leben mit den Tabletten, oder das ohne?
«Felix», sagte sie, «was ist das?» Sie zeigte auf die zwei Patronen, die er ihr auf den Tisch neben die Tastatur gelegt hatte. Sie funkelten, als spiegelte sich nicht nur das Licht in den glänzenden Metallhülsen, sondern ganze Sterne.
«Für dein Magazin. Ich wollte dir Ärger ersparen.» Sie würde sonst Protokolle schreiben müssen. Dazu müsste sie erklären, was sie getan hatten in der Nacht. Dann müsste er erklären, wo er gewesen war, und das konnte er nicht.
«Felix, ich will die nicht. Ich will nichts von deinem Zeug haben. Und ich frage mich, hast du mir zugehört? Verstehst du, was ich sage?»
«Nein, du musst verstehen. Wir müssen Jolisch finden. Und den Arzt befragen. Der weiß mehr, als er zugibt.»
«Felix, willst du damit behaupten, der Arzt hat mit Celinas Verschwinden etwas zu tun?»
«Es ist kein Zufall, dass alles so zusammentrifft. Linda verschwindet und taucht wieder auf. Wenige Wochen später schenkt Frau Gessner Jolisch das Grundstück, und der Arzt, der später ihren Tod feststellt, erwirbt das Vorkaufsrecht für das Haus und das Grundstück, dann stirbt sie.»
«Felix, was ist mit dir? Warum sprichst du so viel, warum lächelst du?»
Schade, ihre Aura begann sich einzutrüben, wurde dunkel.
«Felix, hast du heute deine Tablette nicht genommen?»
«Doch», log er. Es ging sie nichts an.
«Felix, wir müssen André finden. Er war da letzte Nacht, das habe ich mir nicht eingebildet.» Ihr Telefon begann zu klingeln. Die Töne schrillten in seinen Ohren, viel lauter als notwendig. Sie nahm das Gespräch an, seufzte schwer. «Das geht uns doch aber gar nichts an!» Sie wartete kurz. «Warum wir, da kann jeder andere hinfahren!» Sie lauschte noch einmal. Dann nahm sie das Handy vom Ohr und legte auf. «Wir sollen hinfahren. Irgendwas ist mit den Herzfelds.»
«Lindas Eltern?»
«Felix, was ist mit dir?»
«Nichts ist mit mir.»
«Warum schickt dir diese Frau die Tabletten, was verbindet dich mit ihr?»
«Ich weiß es nicht.»
«Wie, du weißt das nicht?! Hast du nie hinterfragt, wer diese Person ist?»
«Ich habe die Befürchtung, wenn ich es tue, wendet sie sich ab.» Es war nicht gut, wenn sie solche Dinge fragte. Nicht gut für sie. Etwas war ihr geschehen, lang schon her. Ihnen beiden war etwas geschehen. Doch im Gegensatz zu ihm, der nach den Ursachen für seinen Zustand suchte, wusste sie genau, was ihr geschehen war. Sie trug es mit sich herum, wie ein böser Geist hatte es sich auf ihre Schultern gesetzt und ließ sich von ihr durch die Jahre tragen, machte sie krumm, machte ihr das Leben zur Last. Voller Zorn war sie, weil sie nicht verstand, warum gerade ihr diese schlechten Dinge geschehen waren. Sie glaubte, das wäre nicht gerecht, doch sie müsste wissen, dass das Leben nicht gerecht war.
«Hast du deine Tablette heute genommen?», fragte sie noch einmal.
Er schwieg, denn er hatte schon geantwortet, die Geräusche draußen wurden lauter, das Licht greller, alles verlor seine scharfen Kanten, die Konturen begannen sich in leuchtenden Staub aufzulösen.
«Felix, nimm eine Tablette, bitte. Sonst gehe ich nirgendwo mehr hin mit dir.»
Bruch erstarrte, das Leuchten explodierte in einer weißen Supernova, erlosch im nächsten Augenblick. Hinterließ Bitternis, wie eisiger Wind nach einem letzten schönen Sommertag.
«Felix. Bitte!» Schauer war aufgestanden. «Nimm diese Tablette, sonst muss ich zu Simon gehen und ihm erklären, warum ich mit dir nichts mehr zu tun haben will. Ich habe gesehen, was du in deinem Schlafzimmer hast. Da war Geld, und eine Waffe, und weißes Pulver in Tüten, keine Ahnung, Puderzucker wird es nicht gewesen sein. Nimm jetzt diese verdammte Tablette, denn du machst mir Angst, du wirkst, als würdest du gleich explodieren. Bestimmt bist du schon drei Stunden überfällig, hab ich recht?»
«Nimm du die Patronen!», erwiderte er.
Schauer sah nach unten auf den Tisch. Dann nahm sie ihre Waffe, holte das Magazin heraus. Sie nahm erst eine Patrone, drückte sie ins Magazin, dann die zweite. Dann schob sie das Magazin ins Griffstück. Jetzt sah sie ihn auffordernd an.
Bruch nahm die Schachtel aus seiner Jackentasche. Er schüttete eine Tablette heraus. Widerstrebend hob er sie zum Mund. Es war gut, wusste er, er durfte nicht verlieren, was er hier hatte. Aber was hatte er denn? Er steckte die Tablette in den Mund. Sammelte Speichel. Schluckte sie.
Ein Teil der Bereitschaftspolizei war noch vor Ort, doch die Männer und Frauen langweilten sich, um Jolischs Grundstück hatte sich die Lage längst beruhigt. Die aufgebrachte Menge, die Jolisch hatte lynchen oder wenigstens halb totschlagen wollen, hatte sich schon am gestrigen Abend verzogen, nur ein paar waren geblieben oder wiedergekommen. Der alte Mann war noch immer nicht wiederaufgetaucht, sagte Püschel aus, der hier immer noch das Kommando führte. Es hatte weder gestern Abend noch in der Nacht irgendwelche Veränderungen gegeben. Vermutlich würde nichts mehr passieren, zum Wochenende hatten sie Besseres zu tun, als auf das Auftauchen des alten Mannes zu warten. Den eigentlichen Ärger hätte es bei Familie Herzfeld gegeben. Aber auch das war schon verraucht. Im Übrigen würde der Einsatz an diesem Tag noch beendet, hatten sie erfahren. Ab dann beschränkte sich die Suche auf die nationale Fahndung und das, was sie beide ablieferten, Schauer und er.
Bruch wandte sich schon ab, da hatte Püschel noch gar nicht zu Ende gesprochen. Die Welt verlor ihren Glanz. Nichts schimmerte mehr, sondern war wieder in zähen Leim getaucht. Die Stimmen der Menschen verzerrten, wie in einem billigen Kassettenspieler. Von der Energie, die ihn vor wenigen Minuten noch erfüllt hatte, die versprach, nie wieder schlafen zu müssen, die versprach, unbesiegbar zu sein, war nichts mehr als eine trübe Erinnerung geblieben.
Schauer folgte ihm zum Haus der Herzfelds. Sie beschwerte sich nicht. Wie sollte sie auch, sie war es, die ihn gezwungen hatte, die Tablette zu nehmen.
Das Haus, sonst in einem mutlosen Beige, war voller Schlamm, zwei Fensterscheiben waren eingeworfen. Blumentöpfe vor der Eingangstür waren umgestoßen, zwei waren zerbrochen. Der Briefkasten war eingebeult. An der Eingangstür waren Fußabtritte zu erkennen, jemand hatte versucht, sie einzutreten.
Bruch trat an die Tür, klingelte. Es dauerte, doch endlich öffnete Frau Herzfeld.
«Wer war das?», fragte er.
«Das ist egal. Es ist nicht schlimm.» Sie wollte die Tür schließen.
Bruch schüttelte den Kopf. «Wer!»
«Es ist egal. Irgendwelche Randalierer. Es ist nicht schlimm. Der Schlamm trocknet irgendwann, der Briefkasten hat zwanzig Euro gekostet. Ich will keine Anzeige erstatten, nichts, lassen Sie uns nur in Ruhe!»
Bruch drehte sich um, ignorierte Schauers fragende Miene. Sinnlos, dass er überhaupt gefragt hatte. Er lief los, und Schauer folgte ihm, ohne jeden Kommentar.
Beim Haus der Familie Kühn angelangt, klingelte er und ließ die Klingel nicht los, bis jemand öffnete.
«Ja, ja doch», sagte Frau Kühn.
«Warum haben Sie das getan?», fragte er. Schauer staunte, wie er so sicher sein konnte.
«Es hat mich einfach überkommen.» Sie leugnete es nicht mal. Bruchs starre Augen ließen das nicht zu. Es fühlte sich an, als ob es ein Fehler gewesen wäre, ihm diese Tablette reinzuzwingen. Er nahm es ihr übel. Und nun bekam sie sogar noch ein schlechtes Gewissen deshalb. Aber war es ihr Fehler, dass er ein Scheißwaisenkind war? War es nicht, und trotzdem fühlte sie sich schlecht. Die Worte seiner Ex schienen erst jetzt richtig Wirkung zu entfalten. Danke, super, hatte sie gerade noch gebraucht.
«Die Verzweiflung, einfach so.» Frau Kühn zuckte mit den Achseln. «Ich werde den Schaden bezahlen. Mich entschuldigen.»
Hinter der Frau tauchte Sarah auf, Celinas kleine Schwester, sie griff nach der Hand ihrer Mutter, starrte Bruch an.
«Warum die Herzfelds?», fragte Bruch.
«Es hat mich halt überkommen. Weil sie Linda nicht untersuchen ließen, weil sie nicht zulassen, dass man sie verhört. Aber es war ein Fehler, es muss ja nichts miteinander zu tun haben. Und wer weiß, vielleicht würde ich genauso handeln wie die, wenn Celina wieder da wäre.»
«Warum heute Morgen?» Bruch kannte plötzlich keine Gnade, seine Augen waren wie Stahl.
«Einfach so, weil der alte Jolisch nicht daheim ist, weil alle sagen, er hätte sie entführt und versteckt. Weil die Kinder erzählen, dass Celina mit Linda mal da gewesen wäre», mit einer knappen Bewegung deutete sie in Richtung des Hofes. «Ich dachte nur, wenn es so wäre, dass Jolisch sie damals mitgenommen hatte, dann hätte sie das sagen müssen. Dann wäre Celina jetzt hier.»
«Sie sagen nicht die Wahrheit», sagte Bruch.
Was sollte daran nicht die Wahrheit sein, fragte sich Schauer. Das kleine Mädchen sah Bruch an, war wahrscheinlich fasziniert davon, dass er nicht blinzelte.
«Was weißt du?», wandte sich Bruch an das Kind.
Frau Kühn zog sie sofort hinter sich. «Sie weiß gar nichts, sie ist noch klein!»
«Sie ist schon ein Schulkind», sagte er. «Warum soll sie nichts wissen.»
«Ich weiß nicht, was Sie von uns wollen!», sagte Frau Kühn.
Bruch trat näher. «Da ist mehr.» Er hockte sich hin, winkte Sarah mit dem Finger zu sich.
Gegen den Willen ihrer Mutter kam sie aus deren Deckung, stellte sich in die Tür, Bruch gegenüber, die Hand ihrer Mutter noch in ihrer. «Was weißt du.»
«Felix», mahnte Schauer. Das war ihr nicht geheuer.
«Hören Sie, das ist doch verrückt», keuchte Frau Kühn. «Ich werde mich beschweren, über Sie beide. Sie haben nur Ärger gemacht. Und erreicht haben Sie gar nichts. Alle haben Angst hier vor Ihnen.»
Angst, vor ihm, fragte sich Schauer, oder uns beiden? Bruch, sein Gesicht genau auf der Höhe Sarahs, ging nicht darauf ein. Er starrte das Mädchen an, sah ihr direkt in die Augen.
«Warum ist deine Mama so wütend?», fragte er.
«Wegen Linda», flüsterte das Mädchen heiser.
«Es ist genug!» Frau Kühn zerrte das Mädchen heftig zurück. «Ich zeig Sie an, Sie sind ja verrückt!» Damit warf sie die Tür zu.
Bruch richtete sich auf. Für eine Zeitlang stand er da, bewegte sich nicht, blickte ins Leere. Schauer zwang sich, nichts zu sagen, nichts zu fragen. Es tat ganz gut, einfach in dieser Position der Beobachterin zu bleiben, stellte sie fest. Bruch tun zu lassen. Sich von der Pflicht zu entbinden. So konnte sie sich durch die Zeit retten, bis sie wieder versetzt wurde. Konnte ihr egal sein, was in seinem Schlafzimmer war, oder in dem anderen Zimmer. Egal, warum er war, wie er war.
«Gehen wir Jolisch suchen», sagte er.
Ein junger Polizist stellte sich ihnen in den Weg, als sie das Tor zum Grundstück des Alten erreichten.
«Sie können hier nicht durch.»
Auch das wollte Schauer abwarten, zwar hatte sie ihren Dienstausweis in der Hand, doch steckte diese noch in ihrer Jackentasche. Ehe es zu einer Auseinandersetzung mit Bruch kommen konnte, wurde der Uniformierte von einem Polizeibus aus weggepfiffen, der ein wenig abseits stand. Bruch schien auch in diesen Kreisen bekannt.
Der junge Uniformierte hob wissend das Kinn. Ach, das ist der Typ, brachte seine Miene zum Ausdruck. Mit einem fast hochnäsigen Lächeln ließ er sie durch. Kommst dir auch ganz prächtig vor, dachte Schauer grimmig, im Vorbeigehen versuchte sie ihn mit der linken Schulter zu rammen.
«Ganz ruhig», sagte er leise, doch sie hörte es, blieb stehen, drehte sich um.
«Was?»
Vom Bus ertönte noch einmal ein Pfiff, der ältere Wachtmeister sah den jungen drohend an, hob beide Hände ein wenig an, die Handflächen nach oben gedreht, ließ sie wieder fallen. Was soll das, hieß das wohl, was hab ich dir gesagt.
Schauer schenkte dem jungen Polizisten ein Lächeln, komm erst mal in mein Alter, dachte sie, als er betreten den Kopf senkte. Dann folgte sie Bruch, der schon zehn Meter weiter war.
Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert, dachte sie weiter. Kein schlechter Ansatz. Wenn man schon so keinen Respekt bekam, als Neue, als Frau, als Wessi, dann eben auf diese Art und Weise. Als die Kollegin des Irren. Die andere Irre.
«Er war nicht hier in dieser Nacht», sagte Bruch, der in die Fenster gesehen hatte. «Es hat sich nichts verändert», fügte er hinzu.
Vielleicht tut es wirklich gut, wenn ich nichts sage, staunte Schauer, versteckte ihr Kinn im Jackenkragen. Es war kalt.
Bruch lief ums Haus, zum Anbau hin, versuchte dort ins Fenster zu sehen. Er ging zur Tür, klinkte. Sie war verschlossen. Er sah sie an, als überlegte er, sie einzutreten. Wenn ihr Chef Bruch all diese Eigenheiten zugestand, galt das am Ende auch für sie? Sie folgte Bruch ums Haus, wo es einen Hintereingang gab. Der war aber auch abgeschlossen. So wie auch die Garage verschlossen war. Blieben der Schuppen und die Scheune. Aber wenn man Jolisch gestern schon nicht angetroffen hatte, warum sollte er jetzt irgendwo sein. Sie brauchten einen Durchsuchungsbescheid.
Der Schuppen war nicht verschlossen, sein Inneres war eine chaotische Ansammlung von Werkzeugen, Geräten, alten Gartenmöbeln und Dingen, die einfach abgestellt wurden. Nur ein schmaler Pfad führte durch das messieartige Wirrwarr, bis hinten durch, wo durch ein winziges trübes Fenster ein wenig Licht in den Raum fiel. Spinnweben hingen von der Decke, es roch nach Teerpappe und Schimmel. Sie wartete in der Tür, während Bruch in dem wohnzimmergroßen Raum herumstöberte. Was er suchte, wusste sie nicht, Jolisch jedenfalls würde sich dort drinnen kaum versteckt halten. Nach einigen Augenblicken kam Bruch wieder heraus und lief wortlos an ihr vorbei zur Scheune. Die hölzernen Stirnseiten des Gebäudes waren schwarz von Alter und Nässe. Die Längswände aus Fachwerk waren verfallen, der Putz bröselte ab oder blühte aus. Das große Tor war nur angelehnt. Drinnen war es sehr finster, Licht fiel nur durch die wenigen Ritzen der Stirnwände. Bruch zog das Tor so weit auf, wie es möglich war, betrat das Innere, blieb nach wenigen Schritten in der Tenne stehen. Auch hier stand altes Gerät, das fast wie mittelalterlich wirkendes Kriegswerkzeug erschien, mit Spießen und Keulen. Der Boden war aus Ziegelstein, überall lagen Reste alten Heus, grau und spröde.
Schauer folgte ihm, blieb neben ihm stehen, wartete fast neugierig, was als Nächstes geschah. Würde er rufen? Auf der schmalen Holzleiter in den Dachboden klettern? Kalt war es hier, wie in einem Kühlschrank. Sie schüttelte sich. Erschöpfung und Müdigkeit forderten jetzt ihren Tribut.
Bruch setzte sich wieder in Bewegung, schob sich seitlich an einem Anhänger vorbei, blickte suchend in die einzelnen Abteile. Schauer blieb, wo sie war, auch wenn sie inzwischen zitterte. Mit kleinen Bewegungen versuchte sie sich zu wärmen, drehte die Schultern, rieb die Schulterblätter an ihrer Kleidung, wackelte mit den Zehen.
«Hier», sagte Bruch. «Wir brauchen Licht.»
Schauer ging zu ihm hin, wich einem Gerät mit hoch aufragenden eisernen Zinken aus, nahm ihr aufgeladenes Handy heraus und schaltete die Lampe an. Bruch stand fast in der hintersten Ecke der Scheune. Dort lag Jolisch.
Er lag auf dem Rücken, seine Augen waren weit aufgerissen, aber so verdreht, dass die Pupillen fast komplett unter den oberen Lidern verschwunden waren. Sein Mund stand offen, anscheinend hatte er seine Zunge verschluckt. Seine Arme waren angewinkelt, beide Unterarme in der Luft, die Finger wie im Krampf verzerrt.
Schauer hockte sich hin, weil Bruch es nicht tat, tastete am Handgelenk nach einem Puls, dann am Hals. Der Mann war kalt und steif, lag seit einigen Stunden so. Vielleicht seit dem frühen Abend. Schauer sah zu Bruch hinauf, leuchtete ihn ein wenig an, worauf er unwillig seinen Kopf zur Seite drehte. Schauer sagte nichts, leuchtete den Toten wieder an, betrachtete ihn, ohne ihn zu berühren. Beugte sich über ihn, leuchtete ihm in den Mund. Verblüfft zuckte sie zurück, denn ein Metalldorn hatte sich ihm offenbar durch den Hinterkopf in den Rachen gebohrt. Sie leuchtete an dem Mann herab, erkannte jetzt einen Holzstiel, auf dem er lag und von dem nur die letzten zwanzig Zentimeter unter einem Bein hervorlugten.
«Ob wir ihn anheben können?», fragte sie.
Bruch antwortete nicht, er ging wie sie in die Hocke, fasste den Toten an der Schulter, hob sie ein wenig an. Schauer leuchtete und musste schlucken, ehe sie sprach.
«Das ist ein Grubber. Oder Egge oder wie man das nennt.» Die drei Zacken des Gartengerätes hatten sich bis zum Anschlag in den Hinterkopf des Mannes gebohrt. Dadurch, dass der Leichnam mit seinem Gewicht noch auf dem Stiel lag, während Bruch die Schulter hielt, rutschten die Zinken nun langsam heraus.
«Lass ihn wieder runter.» Sie durften nichts verändern.
Bruch legte den Leichnam wieder ab. Er sah nach oben. Schauer folgte seinem Blick. Auch hier gab es einen Zugang zum Dachboden. Und wie auch am Eingang führte eine steile Leiter hinauf.
«Ist er abgestürzt, auf dieses Ding gefallen?», spekulierte Schauer.
«Es müsste mit den Zacken aufwärts hier gelegen haben.»
«Aber warum nicht, wenn er rücklings von der Leiter fiel? Vielleicht war das Ding an die Leiter angelehnt.»
Bruch beugte sich über das Gesicht des Toten. «Ich brauche Licht.» Schauer nahm ihr Handy, leuchtete ihm. Bruch berührte die Nase des Toten, bewegte sie.
«Sie ist gebrochen. Er wurde von hinten erschlagen, stürzte auf das Gesicht. Der Täter drehte ihn auf den Rücken, wollte prüfen, ob er wirklich tot ist.»
«Mit drei Zinken im Gehirn?», fragte Schauer skeptisch. «Ich rufe an, soll der Gerichtsmediziner urteilen.»
Es war eine Gerichtsmedizinerin. Sah aus wie eine Bürokraft, überlegte Schauer bei ihrem Anblick. Wenn man sie sah, konnten einem alle möglichen Berufe einfallen. Schreibkraft, Speditionskauffrau, Buchhalterin, Sekretärin. Sie mochte an die fünfzig sein, trug einen weißen Kittel über ihrer zivilen Kleidung. Die Frisur war altmodisch – halblang, hochgeföhnt, mit Haarspray verfestigt. Sie grüßte Bruch kühl, doch genauso kühl grüßte sie auch Schauer. Sie betrat die inzwischen hell ausgeleuchtete Scheune, setzte ihre Brille auf, die an einer Kette vor ihrer Brust hing. Die Spurensicherung hatte schon ihre erste Runde durch.
«Darf er bewegt werden?», fragte sie. Rundweg war ihr Name, Frau Doktor. Sie zog Latexhandschuhe über ihre Hände.
«Ja!», rief Klemm, Chef der Spurensicherung aus einer anderen Ecke der Scheune. «Aber auf dem angezeigten Pfad bleiben.»
Doktor Rundweg hockte sich nieder, die Knie fest beisammen, seitlich gedreht, betrachtete den Leichnam, die Nase fiel ihr sofort ins Auge. Sie betrachtete die Finger des Toten, hielt eine Lupe an seine Fingernägel.
«Umdrehen, bitte.» Sie stand auf. Bruch machte sich sofort ans Werk. So ist das also, dachte Schauer. Man muss nur richtige Anweisungen geben. Sie bückte sich, um ihm zu helfen. Gemeinsam drehten sie den Toten auf die linke Seite.
«Ganz umdrehen», befahl Rundweg, so legten sie Jolisch auf den Bauch. Schauer hielt den Stiel des Grubbers fest, sodass er nun auf dem Rücken der Leiche lag.
Rundweg hockte sich wieder hin. Sie fasste nach dem Stiel, bewegte ihn ganz vorsichtig, betrachtete genau die Stellen, an denen die Zinken in den Schädel eingedrungen waren. Das Geräusch, das entstand, war leise, aber widerwärtig.
«Er wurde von hinten erschlagen. Die Zinken drangen durch die Schädeldecke ins Hirn. Der war tot, ehe er auf den Boden schlug. Ich vermute, er fiel aufs Gesicht, Frakturen am Nasen- und linken Jochbein. Der Täter drehte ihn um. Dadurch hebelte er den Stiel nach unten, die Zinken bewegten sich, vielleicht haben sie sich sogar ein Stück verbogen. Ich vermute, der eigentliche Eindringwinkel war etwa so.» Sie hob den Stiel an, bis er zum Gesäß des Toten etwa einen Meter Abstand hatte. «Ab hier lässt er sich nicht weiter nach oben bewegen. Muss ich genauer untersuchen.»
«Dann muss der Täter dicht hinter dem Opfer gestanden haben», merkte Bruch leise an.
«Oder von kleinerer Statur gewesen sein. Vermutlich.» Rundweg erhob sich, nahm die Brille ab. «Ich sag nur, was ich sehe. Sobald es möglich ist, muss er zu mir in den Sektionssaal.» Sie sah Bruch an. «Und sonst, wie geht es?», fragte sie streng.
«Muss», sagte Bruch.
Schauer betrachtete die beiden misstrauisch. Diese Kühle war so übertrieben, dass sie gespielt wirkte. Nun wandte sich Rundweg an sie.
«Sie sind die Neue? Nicole Schauer? Eingelebt?»
«Ich …» Schauer hob die Hand, zeigte auf nichts und alles. «Geht so.»
«Sie sind nicht zimperlich, oder?», fragte Rundweg, deutete mit kurzem Nicken auf den Toten.
«Nee, nich. Hab schon ganz paar Kalte gehabt.»
Frau Rundweg schnaubte ein kurzes hartes Lachen. «Gut, gefällt mir. Bis demnächst!»
«Vorschläge?», meinte Simon. Zu dritt saßen sie in Püschels Einsatzwagen. Hauptkommissar Püschel selbst lehnte in der Tür. «Ihre Leute waren doch hier, die ganze Zeit.»
Püschel schüttelte den Kopf. «Vorn am Tor stand nur ein Streifenwagen. Im Schichtbetrieb. Die haben sich alle zwei Stunden abgelöst. Die sollten nur verhindern, dass sich in der Nacht eine Menschenansammlung bildet. Was rings ums Grundstück geschah, darüber hatten sie keine Kontrolle. War ja auch ganz ruhig.»
Simon hob einen Zettel an. «Jolisch muss nach erster Untersuchung schon am frühen Abend tot gewesen sein, gegen sieben, plus minus eine Stunde, sagt Rundweg.»
Das bewies, Jolisch konnte heute Nacht nicht die Person im Keller gewesen sein. Schauer sah zu Bruch. Er schien in Gedanken ganz woanders, starrte an Püschel vorbei aus der Tür.
«Zwei Vorschläge», bot Schauer an. «André Talwa, Doktor Frieling.»
«Yvonne und Udo Kühn», fügte Bruch hinzu, doch es hörte sich an, als glaubte er selbst nicht daran. Er starrte noch immer in die Ferne.
Er hatte nicht unrecht. «Sie könnten die Scheune nach Celina durchsucht haben, wurden von ihm überrascht. Eine Affekthandlung», überlegte Schauer laut.
«Warum Frieling?», fragte Simon.
Schauer antwortete. «Angenommen, Jolisch und er haben Frau Gessner beseitigt, um an das Grundstück zu kommen, dann musste Frieling inzwischen damit rechnen, dass Jolisch sich irgendwie verrät.»
«Aber er würde vermutlich sein Vorkaufsrecht verlieren», hielt Simon dagegen.
«Das mochte es ihm wert gewesen sein, nicht wegen Beihilfe zum Mord ins Gefängnis zu gehen.»
«Jolischs Sohn könnte es gewesen sein», mischte Bruch sich wieder ein, «aus demselben Grund. Er wusste, er würde das Grundstück erben. Käufer würden schnell gefunden sein. Vielleicht braucht er dringend Geld. Man müsste das untersuchen.»
«Also gut», Simon nickte. «Und Talwa? Warum der?»
«Keine Ahnung, kam mir so in den Sinn.» Schauer zuckte mit den Schultern, sah wieder Bruch an. Der reagierte darauf nicht. Er hatte André nicht gesehen. Sie aber schon. Was, wenn André eigenmächtig nach Celina suchte, um seine Unschuld zu beweisen, und dabei von Jolisch überrascht wurde?
Wer nun aber alle überraschte, war Bruch. «Es war Linda.»
Gleichsam drehten sich ihm drei Gesichter zu. Bruch registrierte das zwar, blieb eine Erklärung aber schuldig.
Da, bitte schön, dachte sich Schauer halb belustigt, halb triumphierend, da habt ihre euren Kollegen, der ein bisschen eigen ist.
«Können Sie Ihrer These irgendwelche Belege beisteuern, Herr Kollege?», war es schließlich Püschel, der zuerst die Geduld verlor.
Bruch schüttelte den Kopf.
Püschel sah zuerst zu Simon, dann zu Schauer. Er wusste von Bruchs Macken vermutlich nur vom Hörensagen, nun durfte er sie live erleben.
«Felix!», mahnte Simon, der nun inzwischen sich und die ganze Abteilung bloßgestellt sah, schließlich war Bruch einer seiner Männer, weiß Gott wie oft von ihm gedeckt bei irgendwelchen Machenschaften.
«Celinas Mutter sind heute Morgen die Sicherungen durchgebrannt, sie hat das Haus der Herzfelds mit Dreck und Steinen beworfen. Sie ist wegen Linda böse, sagt Sarah, die kleine Schwester von Celina.»
«Weil sie nicht sagen wollen, was damals geschah. Weil sie Linda nicht zum Psychologen ließen», sah Schauer sich gezwungen zu erklären. Wie es aussah, drohte Bruch in eine Täter-Opfer-Umkehr zu verfallen, dem musste sie gleich Einhalt gebieten. Dafür erntete sie jedoch von Simon eine Geste, die ihr sofort das Blut in den Kopf schießen ließ, er winkte sie mit einer läppischen Handbewegung weg, wie man ein lästiges Kind zum Schweigen bringt.
«Das ist es nicht», sagte Bruch. «Linda kann dazu gar nichts sagen, sie war damals gar nicht weg.»
«Nicht?», fragte Simon leise.
«Vielleicht war sie kurz weg, einen Tag, eine Nacht. Dann aber kehrte sie zurück, oder ihre Eltern fanden sie. So wie Maxim Kühn wieder daheim war, und seine Eltern haben es nicht zugeben wollen.»
«Und äh … wie … wieso?» Püschel wusste gar nicht so recht, was er fragen sollte.
Schauer hingegen musste sich eingestehen, der Gedanke war nicht schlecht. In ihren Schläfen und im Hals pulsierte noch der Zorn gegen Simon. Der sollte sich noch einmal erlauben, sie so wegzukuschen. Dann konnte er sich ein paar Wochen lang den Hintern mit der Linken abwischen.
«Familie Herzfeld setzte damals alle Hebel in Bewegung. Noch am selben Abend informierten sie die Presse, hetzten im Internet Leute auf, beschwerten sich über die Polizei.»
«Allerdings», pflichtete Püschel bei.
«Es kam zu Übergriffen, auch gegen Jolisch. Im Dorf brach innerhalb weniger Stunden Unfrieden aus, der bis heute anhält.»
«Sie meinen, die Herzfelds konnten nicht gestehen, dass all diese Panik und der verursachte Stress für die Katz waren, weil Linda längst wieder zu Hause war? Deshalb verbieten sie Linda, darüber zu sprechen. Deshalb können sie jetzt nichts dazu beitragen und schotten sich ab.»
Bruch sagte nichts, das hieß also ja. Und es war nicht einmal von der Hand zu weisen. Ganz schön peinlich, erst die Pferde scheu zu machen und dann zugeben zu müssen, dass die Göre einfach nur mal abgehauen war.
«Na ja, und weiter?», fragte Simon. «Das erklärt nicht, warum sie mit Celinas Verschwinden etwas zu tun hat.»
«Damit und mit Jolischs Tod», ergänzte Bruch. Dann übte er sich wieder in Schweigen.
«Herrgott, Felix, kannst du mal Klartext reden?», platzte Simon.
«Linda ist böse», sagte Bruch, und ein paar Augenblicke lang fürchtete Schauer, dabei bliebe es, doch offenbar sortierte er seine Gedanken. Sie fand es tröstlich, dass offenbar so viel Vernunft in ihm steckte, zu überlegen, auf welche Art und Weise er sich gleich zum Deppen machen wollte.
«Diese Legende, dass Frau Gessner eine Hexe war, dass es noch immer spukt in dem Haus, das kommt von Linda. Sie ist es, die spukt. Maxim, Celinas Bruder, ist hysterisch geworden, als ich ihm kleine Zweige und Laub ins Zimmer gelegt habe. Linda terrorisiert die Kinder in der Umgebung mit diesem Hexenzauber, deshalb lässt man sie in Ruhe. Sie war Frau Gessner oft besuchen, sie kennt sich in dem alten Hof aus. Ich traue dem Kind zu, sich nachts aus dem Haus zu schleichen, um als Geist Unheil zu stiften. Vielleicht hat sie ein Versteck dort. Vielleicht zwang sie Celina, ihr dorthin zu folgen. Und ich glaube, dass sie für den Tod der alten Frau verantwortlich ist.»
«Warum?», fragte Simon. «Ich meine, warum soll sie das getan haben?»
«Einfach, um es auszuprobieren.»
«Deiner Meinung nach soll sie Jolisch erschlagen haben? Ein Kind? Eine Zwölfjährige? Warum?»
«Vielleicht wusste Jolisch etwas davon. Vielleicht pflegten sie eine ganz andere Beziehung. Vielleicht war sie bei Jolisch, als sie damals verschwunden war. Und will sich rächen. Ich habe einen Haargummi gefunden, bei ihm am Grundstück. Er gehörte eigentlich Celina, doch ihre Mutter sagte aus, Linda hätte die Haargummis gestohlen. Linda musste fürchten, Jolisch bringt uns auf ihre Fährte.»
«Und du denkst, sie hat Celina zum Hof gelockt und was? Auch umgebracht?»
Bruch nickte knapp.
«Weil sie böse ist?», fragte Simon, um sich noch einmal zu vergewissern. Jetzt war nämlich er es, der sich zum Deppen machte, wenn sie diese These weiterverfolgten.
Doch Schauer musste sich eingestehen, so absurd alles klang, es deckte sich mit den Ereignissen. Auch dass André in der Nacht ein Mädchen gesehen hatte. Auch mit ihrem Erlebnis im Keller. Es deckte sich mit dem Verhalten der Leute ringsum. Maxims Panik, dem Gerede der Mädchen. Selbst der Einschlagswinkel des Grubbers deutete darauf hin, dass eine kleinere Person zugeschlagen haben musste, wenn Jolisch aufrecht gestanden hatte. Wer weiß, welche Erziehungsansätze die Herzfelds pflegten. Wer wusste schon, wie so ein Kindergehirn tickte. Einfach nur um zu sehen, wie das war, hatten Kinder schon andere Kinder umgebracht. Vielleicht wussten die Herzfelds all das auch und ließen deshalb niemanden an die Tochter heran.
«Leute, das können wir niemandem weismachen», sagte Simon, doch sein Tonfall verriet, dass er Bruchs These ebenfalls nicht abgeneigt war. «Der Staatsanwalt muss eine Vernehmung Lindas erzwingen», überlegte er weiter. «Aber wie, wir haben keinerlei Indizien, oder? Nur Gerüchte. Keine Spuren. Auch nicht in der Scheune.»
Schauer wappnete sich mit einem Räuspern. «Noch keine, die Untersuchungen dauern noch an», sagte sie. Diesmal nahm Simon ihre Info an, nickte knapp. «Wir müssen ihr Umfeld beleuchten. Jeden befragen, der mit ihr zu tun hat, die Kinder vor allem», fuhr sie fort.
«Wir werden nur noch weitere Gerüchte hören», sagte Bruch.
«Und falls sie Celina nicht umgebracht, sondern nur eingesperrt hat irgendwo, kommt es inzwischen auf jede Minute an», murmelte Simon. «Wenigstens könnten wir in Hinsicht auf diese These die Akten von vor zwei Jahren aus anderem Blickwinkel betrachten.»
«Es hieß damals schon, sie sei seltsam», sagte Püschel von seinem Platz an der Tür aus. «Ich habe in den Akten gelesen. Die Nachbarskinder sagten aus, Linda starrte sie durchs Fenster oft an, vor ihrem Verschwinden wohlgemerkt, würde beim Spielen gelegentlich gewalttätig werden, ohne dass dies aber wirklich belegt wäre. Es hieß, in der Schule stiftete sie oft Streit, hetzte Mitschüler gegeneinander auf. Ein Kind aus dem direkten Nachbarhaus, das mit seiner Familie wieder verzogen ist, behauptete, Linda hätte erst ihr Meerschweinchen und später seines umgebracht. Tatsächlich waren beide Tiere tot. Ihres etwa eine Woche vorher. Als Linda damals verschwand, befragte man Frau Gessner, sie sagte, sie würde Linda kennen, halte sie aber für ein böses Kind, weil sie die Enten mit Steinen bewarf. Sie hatte ihr verboten, sie weiterhin zu besuchen.»
So genau hatten sie die Akten nicht studiert, weder sie selbst noch Bruch, musste Schauer insgeheim zugeben. Nur dass Linda komisch war, hatte sie den Akten entnommen, doch wer sollte nicht komisch sein, wenn man zwei Wochen verschwunden war. Dabei hatte sie aber den logischen Fehler begangen, zu glauben, dass damit nach ihrem Verschwinden vor zwei Jahren gemeint war, nicht ihr Verhalten davor.
«Warum sagen Sie das denn jetzt erst?», fragte Simon ein wenig pikiert.
Püschel kratzte sich am Hals. «Weil mich niemand danach gefragt hat. Auch ich habe zu Beginn der Suche nach Celina angefragt, ob Linda befragt werden darf, und habe mehrfach negativen Bescheid bekommen, unter anderem auch aus Ihrem Büro, Herr Hauptkommissar.»
Aus Ihrem Büro hieß von Simon selbst. Dem war das jetzt blöd, logisch, Schauer freute sich, mal nicht die Einzige zu sein, die sich blöd vorkam. Er rieb sich den Stiernacken.
Bruch sah auf sein Handy nach der Uhrzeit. «Es ist fast vier, sie ist daheim. Wir könnten jetzt hingehen und sie abholen.»
«Felix, das kann ich nicht machen. Das gibt Probleme.»
«Niemand muss es erfahren. Nehmen wir alle mit, die ganze Familie.»
«Hör auf, du weißt, das geht nicht!», fuhr Simon auf und ließ Bruch ganz unbeeindruckt.
«Es geht um Leben und Tod. Sie wollen sicherlich nicht Schuld an Celinas Tod haben, nur weil Sie Linda nicht vernehmen lassen wollen», insistierte er, doch im Tonfall eines Navigationsgerätes, das befahl zu wenden.
«Quatsch mich nicht voll, Felix. Das Fernsehen steht noch da, die warten doch nur, dass so was geschieht.»
Nun hatte sie genug. Schauer erhob sich. «Schluss mit dem Gerede. Wir gehen zu den Kühns und fragen die. Wenn Frau Kühn einen Verdacht gegen Linda hat, soll sie ihn äußern. Sollte es so sein, konfrontieren wir die Herzfelds damit. Sehen wir, was geschieht. Mehr als uns die Tür vor der Nase zuschlagen können sie nicht.»
«Sie hat recht», sagte Bruch und stand auf.
«Leute, das könnt ihr nicht machen», wehrte Simon sich ziemlich schwach, und Schauer fand plötzlich Gelegenheit, sich für seine überhebliche Geste zu revanchieren, indem sie ihn auf dieselbe Art zu Schweigen brachte.
Schauer schritt schnell voran. Bruch folgte ihr. Er bemerkte, wie sich hinter den Gardinen der Häuser Gestalten bewegten. Man beobachtete sie neugierig. Dass beim alten Jolisch etwas geschehen war, wussten vermutlich inzwischen alle. Dass ein Leichenwagen vorgefahren war, auch. Der letzte verbliebene Übertragungswagen stand unten vor der Siedlung, die Mannschaft saß drinnen, nachdem sie den Abtransport des Sargs aufgenommen hatten, langweilten sie sich inzwischen wieder zu Tode. Es war gespenstisch still. Keine Kinder spielten draußen. Die besorgten Bürger hatten noch anderswo Besorgungen zu machen.
Frau Kühn öffnete, zeigte keine Überraschung, hatte sie sicherlich schon kommen sehen. Grau war sie im Gesicht. Ihre Augen waren trüb.
Schauer machte es kurz. «Wir müssen Sie zu Linda Herzfeld befragen.»
Frau Kühn schlug die Augen nieder, atmete durch. «Gehen wir rein.»
Sie ging vor, blieb in der Mitte des Wohnzimmers stehen, den Kopf gesenkt, als erwartete sie eine Bestrafung.
«Was ist mit Linda?», fragte Schauer direkt.
Frau Kühn hob den Kopf. «Sie ist kein gutes Kind.»
«Können Sie das konkretisieren?»
«Sie schikaniert, nutzt andere aus, macht ihnen Angst. Selbst als Erwachsener fühlt man sich unwohl in ihrer Gegenwart. Die ist einfach …» Sie sprach es nicht aus. «Maxim!», rief sie jedoch unvermittelt. «Komm mal!»
Der Junge trampelte die Treppe hinab, blieb auf den letzten Stufen stehen, als er die Polizisten sah.
«Was hat Linda gemacht, sag’s ihnen!»
Maxim wurde ganz weiß im Gesicht. «Aber Mom», stammelte er.
«Sie hat ihm einen Schlüpfer in den Ranzen getan, mit Blut drin, Sie wissen schon.»
«Warum?»
«Weiß ich doch nicht», schnappte Frau Kühn, «warum, Maxim?»
Der Junge hob die Schultern. «Ich hab sie geärgert in der Schule. Ein bisschen nur.»
«Du weißt sicher, dass sie das war?», fragte Schauer.
«Sie hat gedroht zu sagen, er hätte sie vergewaltigt!», platzte Frau Kühn heraus. «Woher hat die das? Da war sie noch elf. Eine Elfjährige. Wie kommt die auf so was? Wer weiß, was da vorgeht in dem Haus! Von den Nachbarn hatte sie das Meerschweinchen umgebracht. Und von Trobischs den Hasen. Und einmal fand man im Gebüsch ein Nest mit kleinen Küken, denen waren die Köpfe abgeschnitten.»
«Wissen Sie das genau? Dass sie es war?»
«Jeder hier weiß das. Ich sag Ihnen, die hat Celina behandelt wie eine Sklavin. Das haben wir nicht gleich bemerkt, aber so war es. Celina hat ihr alles Mögliche geschenkt oder von ihrem Taschengeld gekauft. Ist ihr nachgerannt wie ein Hund. Wir haben sogar schon überlegt, Celina auf eine andere Schule wechseln zu lassen, den Kontakt dann komplett zu verbieten. Aber das ist doch lächerlich, wegen einem Kind, dachten wir auch. Hätten wir es nur getan!»
«Sie glauben, Linda hat mit Celinas Verschwinden zu tun? Warum haben Sie diesen Verdacht nicht gleich geäußert?»
«Jetzt glauben wir das. Zuerst dachten wir, Celina wäre wirklich nur weggelaufen. Aber inzwischen sind wir sicher, das war Linda. Die war immer schon neidisch auf Celina.»
«Worauf?»
«Auf uns! Weil ihre Eltern völlig plemplem sind», ereiferte sich die Frau.
«Aber warum sagen Sie das jetzt erst? Hundertmal haben wir Sie nach Hinweisen gefragt.»
«Wer soll denn so was glauben? Hätten Sie uns das geglaubt?», schrie Frau Kühn. «Und die Linda, das sag ich Ihnen, die war damals nicht weg, die wurde vielleicht von ihrem Vater gefickt, aber weg war die nicht.»
«Mama!», rief Maxim entsetzt.
«Ist doch wahr!», verteidigte sich die Frau, dann schlug sie die Hände vors Gesicht. Plötzlich riss sie sie wieder runter. «Was ist beim Jolisch passiert?»
Schauer sah Bruch an. Das war der Kühn schon zu lang für eine Antwort.
«Der ist tot, oder, hab ich recht? Ist er tot? Das war die, sag ich Ihnen!»
Maxim kam die letzten Stufen herab. «Mama, das kannst du doch gar nicht beweisen!»
«Wer weiß, was du mir noch alles nicht erzählt hast!», fuhr sie ihn an. «Stimmt’s, da ist noch mehr, oder? Hab ich recht?» Sie ging auf ihn los. «Hab ich recht? Sag’s, was ist noch, was erzählt ihr denn immer? Sag’s den Polizisten!»
Maxim hob die Schultern, noch mal und noch mal, es war ihm zu peinlich, es auszusprechen. «Die Kinder sagen es. Ich sag’s nur weiter. Also die sagen, die wär ’ne Hexe. Die hat’s von der Alten gelernt. Und manche sagen, der Geist von der Alten ist in sie übergegangen.»
«Komm», sagte Bruch. Ihm schien es wohl genug. Schauer folgte ihm.
Beim Haus der Herzfelds gab es Bewegung. Frau Herzfeld hatte das Auto aus der Garage gefahren, einen VW Transporter. Die Heckklappe stand offen. Luisa saß schon angeschnallt im Kindersitz.
Beim Anblick der beiden Polizisten blieb Frau Herzfeld stehen. «Was wollen Sie denn schon wieder?» Sie gab sich nicht mal den Anschein, nett zu sein.
«Reden!», sagte Schauer.
«Keine Zeit jetzt, wir wollen Einkaufen fahren.»
Schauer trat ihr entgegen. «Das hat Zeit!»
Luisa klopfte an die Scheibe, winkte Bruch lustig mit einem Fingerchen zu.
«Sie haben hier gar nichts zu bestimmen!» Frau Herzfeld wandte sich ab. «Wenn Sie was wollen, kommen Sie in zwei Stunden wieder! Heiko! Kommst du», rief sie laut und wütend. Luisa klopfte wieder an die Scheibe. Ihre Augen glühten vor heimlichem Vergnügen, sie grinste breit, legte den Kopf in den Nacken. Bruch blinzelte ihr mit einem Auge zu. Sie lachte und versuchte es nachzuahmen, doch es wollte ihr nicht gelingen. Immer wieder kniff sie beide Augen zu.
Schauer gab sich nicht geschlagen. Sie lief der Frau nach. «Es ist noch genug Zeit zum Einkaufen, die Läden haben bis zweiundzwanzig Uhr offen, sogar am Samstag, andere Dinge sind wichtiger. Wo ist Linda gerade? Warum lassen Sie sie nicht mit uns sprechen?»
«Kollegin», sagte Bruch, Schauer drehte sich nach ihm um, «sollen sie doch einkaufen, kommen wir eben später wieder», sagte er.
«Hä, aber sag mal …»
«Wir haben weder eine Vorladung noch sonst eine Berechtigung. Sollen sie den Einkauf hinter sich bringen. Wir kommen in zwei Stunden wieder.»
«Sie hören es doch!», tönte Katja Herzfeld. «Heiko, komm jetzt!», rief sie ins Haus, und Bruch zwinkerte Schauer zu, wie er Luisa zugezwinkert hatte. Ob Schauer nun verstand oder nicht, sie ließ von Frau Herzfeld ab, marschierte wortlos an ihm vorbei. Er folgte ihr zuerst langsam, dann beschleunigte er. Nach zwanzig Metern hatte er sie eingeholt, hinter ihnen klappten die Autotüren zu.
«Schnell zum Auto, aber unauffällig. Linda war im Auto, hat sich versteckt.»
«Hab’s schon verstanden», sagte Schauer, «wusste gar nicht, dass du so verschwörerisch zwinkern kannst, hast wohl ein Upgrade bekommen?»
Der Bus der Herzfelds überholte sie, als sie die Ausfahrt der Siedlung gerade erreicht hatten. Er bog ab, in Richtung Stadtzentrum.
«Los!», rief Schauer und begann zu rennen, zu ihrem Auto waren es noch wenigstens hundert Meter.
«Was ist?», rief Simon ihnen zu, der noch immer unten bei Püschel stand.
«Herzfelds dampfen ab, mit Linda, wir folgen ihnen. Wollen wir mal sehen, wo sie hinfahren!», rief Schauer ihm im vollen Lauf zu. Sie riss die Fahrertür auf. Bruch war es recht. Er setzte sich auf den Beifahrersitz.
«Nicht zu nah», mahnte er.
«Ich weiß», zischte sie, «ich mach das nicht zum ersten Mal.»
Bruch lehnte sich zurück. Sie hatten den dunkelgrauen Bus bald wiedergefunden. Schauer folgte ihm mit einigem Abstand, vier Fahrzeuge befanden sich zwischen ihnen. Heiko Herzfeld fuhr, steuerte den Bus auf den Autobahnzubringer, bog rechts ab in Richtung Stadt. Aufgrund des Verkehrs gerieten noch einige Autos mehr zwischen sie und den Bus.
«Wo fahren sie hin?», fragte Schauer, gab unvermittelt Gas, als ihr eine Lücke groß genug erschien, ordnete sich in den Verkehr ein.
Bruch hatte es gesehen. «Auf die Autobahn, Richtung Prag.» Das war gut für den Moment, so ging ihnen der Bus nicht verloren. Sie waren schneller, der BMW war gut motorisiert.
Auf der Autobahn scherte Scheuer nach links aus. Es war ziemlich viel los, diejenigen, die in der Stadt nur einkauften oder arbeiteten, zog es wieder heim, nach Pirna oder ins Osterzgebirge. Trotzdem geriet ihr der Bus auf der rechten Spur bald wieder ins Bild, fuhr nicht zu schnell, hundertzwanzig etwa.
«Ob sie sich verstecken wollen?», spekulierte Schauer, ordnete sich wieder rechts ein, mit gut hundert Meter Abstand.
Für einen kurzen Moment schloss er die Augen, fand sich im Wagen mit Michael wieder. Willst du aussteigen. Er hatte aussteigen wollen. Doch nur Michael war es gelungen. Es gab keinen Grund, darüber nachzudenken. Lag es daran, dass an diesem Tag die Welt geglüht hatte wie nach einem Kometeneinschlag, dass ihm die Augen geblendet waren, die Ohren betäubt, der Geschmack von Goldstaub in seinem Mund, wie Kokain hoch zehn. Er hatte keine Erinnerung daran, wie er aus dem Wagen geschleudert worden war, nur dass er plötzlich inmitten des Maisfeldes gestanden hatte, vor ihm eine breite Schneise, die der Wagen hinterlassen hatte. An deren Ende eine schwarze Rauchwolke, die fett und träge in den Himmel aufstieg.
So lang hatte er nicht mehr daran gedacht. Im Prinzip, seitdem es passiert war, nicht. Die Monate dazwischen waren irgendwie vergangen. Verbraucht eher. Kein Tag, der sich irgendwie in seinem Gedächtnis markiert hätte. Selbst die Untersuchungen, die Vernehmungen, die immer gleichen Fragen, wie konnte das geschehen? Wie ist es passiert? Konntest du nichts tun? Warum hast du nicht? Er hätte unter Schock gestanden, sagten sie später. Er war erstarrt, wer weiß schon, wie man reagiert in diesem Moment. Leicht zu behaupten, man hätte anders gehandelt.
Was wirklich geschehen war, wusste er nicht. Er wusste nicht, wie er bis zu der Stelle gelangt war, an der er zu sich gekommen war. Minuten mussten vergangen sein. Der Wagen war inzwischen völlig ausgebrannt. Mittlerweile hatten andere Fahrzeuge angehalten. Augenzeugen, die aussagten, er hätte dagestanden und gestarrt.
«Träumst du?», fragte Schauer.
Nein, er träumte nicht, doch einiges löste sich in ihm. Diese Tabletten, die er bekam, damit er sich nicht erinnerte, damit er still blieb, damit er keine Gefühle hatte. Er nahm sie im Glauben, man würde ihm helfen. Doch wie halfen sie ihm? Indem sie ihm halfen, nicht aufzufallen? Zu welchem Zweck?
«Felix!», mahnte Schauer. «Was glaubst du, wo sie hinwollen? Wir haben Heidenau passiert, und soweit ich weiß, kommen nicht mehr viele Ausfahrten bis Tschechien.»
Was er glaubte, war egal. Sie würden es sehen. Was würde geschehen, wenn er einige Tage die Tabletten nicht nahm? Nur zum Test. Er würde in eine Welt zurückkehren, die ihm auch nicht gefallen hatte, die ihm in den letzten Jahren mehr und mehr zum Feind geworden war. Launisch würde er sein. Unberechenbar, wie manche sagten. Selbst nicht wissend, was er eigentlich wollte. Doch darüber hinaus: Würde er sich wieder erinnern? Aber wollte er das, war es nicht das, was ihn so verrückt gemacht hatte? Bruch hob den Kopf, richtete seine Augen auf die Fahrbahn. Dann sah er nach links, weil er eine Sekunde lang geglaubt hatte, Michael säße am Steuer und fragte ihn, ob er aussteigen wollte. Und nun fiel ihm ein, was er in der letzten Nacht getan hatte.
«Haben sie uns bemerkt?», fragte er.
«Glaub nicht.»
«Aber werden sie nicht schneller?»
Schauer schnaufte leicht beleidigt. «Kann sein.»
«Wir können das Bundespolizeirevier in Breitenau zur Verstärkung anrufen. Liegt auf der Strecke, direkt an die Autobahn angebunden. Danach kommt nur noch eine Ausfahrtschleife, danach die Grenze.»
«Sollen die die Autobahn sperren, oder was meinst du? Die wollen doch nicht nach Tschechien abhauen?»
«Dort wären sie zumindest erst mal sicher vor einem Zugriff. Ehe wir die tschechischen Behörden eingeschaltet haben, sind die in Österreich oder in der Slowakei.»
«Die würden doch aber ihrem Kind keinen Mord durchgehen lassen, oder?»
Was sie nur immer fragte und fragte. Warum nicht, warum sollten Eltern ihr Kind nicht vor dem Zugriff der Polizei schützen? «Ich rufe an.» Bruch nahm sein Handy heraus, wählte die Zentrale an.
Schauer fluchte plötzlich. «Die haben uns doch bemerkt.»
Der Bus beschleunigte plötzlich sehr, scherte auf die linke Spur aus. Schauer tat es ihm gleich, gab Gas, überholte einen Pkw und zwei Transporter. Der Bus weiter vorn setzte an, eine ganze Reihe hintereinanderfahrender Lkw zu überholen. Sie hatten den sechsten überholt, als Schauer den letzten erreichte.
Bruch erkannte den Trick. «Der will die nächste raus», warnte er Schauer, erhaschte einen Blick auf ein Schild. «Nur noch tausend Meter bis zur nächsten Ausfahrt.»
Schauer widersprach nicht, bremste ziemlich stark ab, zog hinter dem letzten Laster nach rechts, dann auf die Standspur. Tatsächlich sahen sie den Bus zwischen zwei Lastern durch die Lücke schießen und die Ausfahrt Bad Gottleuba nehmen. «Was denn nun?», fragte sie. «Wenn wir die wie irre verfolgen, bauen die noch einen Unfall, da sitzen zwei Kinder drin.»
Bruch antwortete nicht. Verlieren durften sie den Bus aber auch nicht. Herzfeld sollten seine Kinder wert sein, nicht bis zum Letzten zu gehen.
Schauer fragte nicht weiter, sie fuhr angespannt konzentriert. Noch immer waren zwei Autos zwischen ihnen und dem VW Bus der Herzfelds. Der Bus fuhr schnell, hier war Landstraße, kurvig jedoch, bergig. Nach einer ersten Kreuzung ging es steil bergab, der Bus beschleunigte, verschwand in der nächsten Kurve aus ihrem Blick. Sie mussten zurückbleiben, da der Fahrer vor ihnen zu vorsichtig fuhr. Als im Gegenverkehr eine größere Lücke entstand, überholte Schauer, beschleunigte immer weiter, bis zur nächsten Kurve, wurde dort vom Gefälle so überrascht, dass sie beinahe das Lenkrad verriss.
«Mensch, sag doch, dass es da so steil ist», schimpfte sie auf den Schreck, gab aber wieder Gas. «Wo wollen die denn hin?»
«Altenberg, da ist ein Grenzübergang, oder Richtung Moldau. Da ist der Tschechenmarkt.»
«Heißt der so, oder bist du Rassist?»
«Die nennen ihn selbst so.»
«Das war ein Witz. Hab übrigens nicht vergessen, dass du mich wieder hast sitzen lassen letzte Nacht! Herrgott!» Sie riss am Steuer, brachte das Auto auf quietschenden Reifen um die nächste Kurve. «Du sollst sagen, wenn eine Kurve kommt. Ist ja wie auf einer scheiß Achterbahn hier. Bei uns, weißte, da geht’s meistens nur geradeaus, alles flach, da weißte beim Frühstück, wer zum Mittag kommt. Da vorn sind die, oder?»
Bruch sah sie auch, sie hatten großen Vorsprung, hier war man sehr im Vorteil, wenn man sich ein wenig auskannte. Er kannte sich hier nicht aus, konnte ihr nicht helfen.
«Funke jetzt die Zentrale an. Die sollen alle ausrücken lassen, die Straßen zumachen. Dass die uns abhängen wollen, ist doch Grund genug, sie erst mal hopszunehmen.»
Dank des Verkehrs hatte sie vom Vorsprung etwas abbauen können. Der Bus hing hinter einem Transporter fest. Trotzdem war der Abstand groß. Die Antwort aus der Zentrale ließ auf sich warten. Dass es hier in dieser Gegend viele Polizisten gab, wagte sie aber zu bezweifeln, es hing wohl eher an ihr, den Bus zu stoppen.
Ein wenig hatte sie sich inzwischen an die Gegend gewöhnt, hier konnte man nicht einfach durchbrettern. Man musste schon sehen, wohin man fuhr, sonst machte man hier ganz schnell den Michael. Dass der Bus von der Straße abkam und sich überschlug, wollte sie jedoch auch nicht riskieren.
«Guck, da vorn. Das ging ja doch fix.» In der Ferne auf einer Anhöhe vor einer Ortschaft sah sie Blaulicht blinken. Zwei Streifenwagen blockierten die Straße. Der Bus musste zwangsläufig dort durch, es sei denn, er wendete. Tatsächlich bremste er im nächsten Moment, hielt den Verkehr auf. Unvermittelt bog er rechts in den Wald ab, obwohl es dort keine Kreuzung zu geben schien. Sie benötigte vielleicht fünfzehn Sekunden, um die Stelle zu erreichen, hielt an. Ein unbefestigter Weg führte in den Wald, wie ein finsterer Tunnel wirkte er. Sie fragte gar nicht erst, bog selbst ein. Sie fuhr nicht sehr schnell, sah sich um, bremste vor jeder Hügelkuppe. Bruch war ihr keine Hilfe, er saß nur stumm da. Solange sie aber auf keine Abzweigung stießen, war auch der Bus auf diesen Weg angewiesen, und ob sich Herzfeld hier gut auskannte, war auch eher zu bezweifeln. Jetzt ging es scharf nach rechts und steil hinunter. Es rumpelte heftig, die Stoßdämpfer des BMW waren gefordert, als sie über steinigen Grund rollten.
«Wo ist der denn hin?», fragte Schauer eher sich selbst, es waren keine Lichter zu erkennen. Als Nächstes führte der Weg links um einen Fels herum, der Wald wurde dichter, und das Gefühl, sich hier verirrt zu haben, wuchs erstaunlich schnell zu etwas Handfestem heran. Wenn sie nur nicht in eine Schlucht fielen. Als sie den Felsen passiert hatte, wurde der Pfad so eng und abschüssig, dass er für ein Auto eigentlich unpassierbar war, wenn es kein Geländewagen war.
Schauer hielt an. «Die können doch nicht verschwunden sein», wunderte sie sich. «Nie im Leben ist der hier runter.»
Jetzt hörte sie ein grelles Quietschen, sah in den Rückspiegel, bemerkte eine Bewegung. Herzfeld hatte den Bus hinter dem Felsen rückwärts ins Dickicht gefahren, das laute Quietschen war wohl das Geräusch eines ordentlichen Lackschadens. Jetzt entfernte sich der Bus ohne Licht zurück in Richtung der Straße.
«Jetzt reicht’s», knirschte Schauer, legte den Rückwärtsgang ein. Sie fuhr nicht in dieselbe Lücke im Gebüsch, wollte nicht auch noch ein Auto zerlegen in ihrer ersten Woche. Sie fuhr rückwärts, wieder an dem Felsen vorbei, sah über ihre Schulter durchs Rückfenster. Dann lenkte sie den Wagen in eine Lücke zwischen zwei Bäumen, rammte den Vorwärtsgang rein und preschte vor. «Schalt die Signalgeber an und mach die Lampe aufs Dach!»
Bruch beugte sich vor, drückte die Schalter, nahm dann das Blaulicht aus der Halterung, öffnete das Fenster und stellte es auf das Dach. Dann musste er sich am Türgriff festhalten, wie sie leicht belustigt feststellte, denn sie nahm die nächsten Kuppen und Kurven, ohne zu bremsen. Rallyefahrerin hätte sie werden sollen, überlegte sie, hörte, wie Steine gegen das Bodenblech prasselten und Zweige die Karosserie peitschten. Die Scheinwerfer aufgeblendet, hatte sie gute Sicht, den Bus aber sah sie noch nicht. Sie mussten nur darauf achten, in welche Richtung er fuhr, wenn er den Wald verließ. Vermutlich links, weg von der Straßensperre.
Jetzt erkannte sie die Straße an den Scheinwerfern der Fahrzeuge, in Richtung Altenberg bewegten sie sich langsam, von der Polizeikontrolle gebremst, in die andere Richtung rollte der Verkehr flüssiger. Schon wurde es wieder dunkel. Diese Jahreszeit war echt zum Kotzen.
«Da vorn links», sagte Bruch.
«Weiß ich», knurrte sie.
«Ich sollte Bescheid sagen.»
Vermutlich hatte er doch Angst. Sollte er ruhig haben.
Der Bus bog links ab, hatte gerade noch fünfzig Meter Vorsprung.
Sie schoss aus dem Wald und musste voll auf die Bremse treten, denn ausgerechnet in dem Moment schob sich ein Kleinwagen vor sie und versperrte den Weg. Der Fahrer, ein älterer Mann, kapierte gar nicht, was rechts von ihm auf dem Waldweg vor sich ging. Trotz der quäkenden Sirene und des Blaulichts in den Scheinwerfern und auf dem Dach starrte er weiter nach vorne. Schauer haute auf die Hupe. Das Auto hinter dem Alten versuchte zurückzustoßen, um Platz zu machen, doch es vergingen endlose Sekunden.
«Herrgott, seid ihr denn alle dämlich hier», hörte Schauer sich fluchen, lenkte durch die entstandene Lücke. Dann hatte sie freie Bahn.
Inzwischen war der Bus schon wieder so weit von ihnen entfernt, dass sie gerade noch die Lichter sehen konnten, die Herzfeld angeschaltet hatte. Jetzt war Schauers Ehrgeiz endgültig entfacht, von einer Familienkarre würde sie sich nicht abhängen lassen. Sie beschleunigte auf hundert, hundertzwanzig, hundertvierzig, holte auf, vor ihnen wichen die Fahrzeuge an den Straßenrand aus. Im Rückspiegel sah sie weiteres Blaulicht, das ihnen folgte.
«Was hast du vor?», fragte Bruch in seiner unnachahmlich teilnahmslosen Art.
Das wusste sie auch noch nicht, vielleicht dem Bus folgen, bis ihm der Sprit oder die Lust ausging, verhindern, dass er nach Tschechien abhaute. Rammen würde sie ihn jedenfalls nicht. Für die nächste lang gezogene Kurve ließ sie das Gaspedal nur kurz los, musste aber feststellen, dass die Kurve sich immer weiter schloss. Doch jetzt konnte sie nicht mehr bremsen, ohne dass das Heck ausbrechen würde. Verbissen hielt sie das Lenkrad fest, wurde von der Fliehkraft gegen die Fahrertür gepresst. Kaum öffnete sich die Kurve, gab sie wieder Gas. Nun war der Bus ganz nahe, so schnell in der Kurve zu fahren, war ihm unmöglich. Sie blendete die Scheinwerfer voll auf, sah, dass die Herzfelds vorn im Auto miteinander stritten. Die nächste Kurve ging linksherum, Schauer scherte aus, damit Herzfeld sah, dass es keinen Sinn mehr ergab zu flüchten. Der Streifenwagen hinter ihr kam heran, stieß in die dadurch geöffnete Lücke, hielt sich dicht hinter dem Bus. So hatte sie sich das nicht gedacht … Der Bus aber bog plötzlich rechts ab, auf eine schmale Nebenstraße, die nur gepflastert war. Schauer riss den Lenker herum, zog die Handbremse. Auf der nassen Straße drehte sich der BMW , während der Streifenwagen mit stehenden Reifen ein Stück geradeaus über die Kreuzung schoss. Schauer fuhr wieder an, hatte den Bus schnell eingeholt, folgte ihm, bis auch der Streifenwagen wieder aufgeschlossen hatte. Dann gab sie Vollgas, verließ die Straße und überholte den Bus auf der Wiese links neben der Straße. Der BMW drohte auszubrechen, die Räder drehten durch, doch sie hatten so viel Geschwindigkeitsüberschuss, dass sie am Bus vorbeikamen. Schauer lenkte rechts, auf die Straße zurück. Nun brach das Heck aus. Sie musste bremsen, und der Wagen kam quer zur Straße zum Stehen. Der VW Bus kam auf sie zu, neigte sich nach vorn, als Herzfeld bremste, rutschte übers Pflaster direkt auf Bruch zu und kam keinen Meter neben der Beifahrertür zum Stehen. Bruch hatte nicht einmal gezuckt.
Der Streifenwagen fuhr so dicht auf den Bus auf, dass diesem nun kein Fluchtweg mehr blieb. Schauer und Bruch stiegen aus. Frau Herzfeld riss ihre Tür auf, stürmte auf Schauer los.
«Sie sind wohl von allen guten Geistern verlassen», kreischte sie, weinte vor Wut und Angst. Schauer stellte einen Fuß leicht nach hinten, wappnete sich gegen einen ersten Angriff. Tatsächlich ging die Frau auf sie los, schlug wild wie ein zänkisches Mädchen mit offenen Händen, versuchte ihr ins Haar zu greifen. Schauer hielt sie mit ausgestreckten Armen von sich.
«Felix?», fragte sie fordernd, in der Annahme, er stünde nur dumm da. Doch tatsächlich war Bruch schon da, um die Frau festzuhalten. Er griff ihre Oberarme, bog sie hinter den Rücken, sie kreischte übertrieben laut.
«Lassen Sie meine Frau los!», brüllte Herzfeld und sprang aus dem Wagen. Schauer lief auf der anderen Seite um den BMW , um nun ihrerseits Bruch zu schützen, schon kamen die beiden Polizisten aus dem Streifenwagen angerannt.
«Einer muss aufpassen, dass das große Mädchen nicht ausreißt!», rief Schauer und konnte gerade noch einem wilden Schwinger von Herzfeld ausweichen. Einer der Uniformierten griff nach seinem Arm, doch mit dem Mut der Verzweiflung riss Herzfeld sich los, um seine Frau zu verteidigen, die zwar strampelte und stampfte, sich aus Bruchs festem Griff aber nicht befreien konnte. Jetzt griffen Schauer und der Polizist nach je einem Arm, doch wieder riss Herzfeld sich los, verpasste Schauer mit dem Handrücken einen Schlag auf die Nase, der sie buchstäblich Sterne sehen sah. Der Schmerz blendete für einen Moment alle Gefühle aus. Nur einem gab er Platz.
Schauer trat Herzfeld ins linke Knie, dass er einknickte, und hieb ihm seinem Sturz entgegen, die rechte Faust ins Gesicht. Sofort war der Mann bewusstlos, fiel wie ein Sack zu Boden. Frau Herzfeld schrie hysterisch, brach dann ihrerseits zusammen, hing in Bruchs Griff, heulte hysterisch.
Der Uniformierte kniete sich neben den Bewusstlosen, tastete nach dem Puls, fühlte ihm das Kinn ab. Haltlos baumelte Herzfelds Kopf.
«Das war so nicht geplant!», sagte Schauer leise.
«Schon gut», sagte der Polizist.
«Wirklich, ich wollte ihn so hart nicht treffen.»
«Ist gut», sagte der Mann, doch nichts war gut, hörte sie seiner Stimme an. Nun erst realisierte sie, dass beide Mädchen ganz stumm im Auto gesessen hatten, während hier fünf Erwachsene miteinander kämpften.