In Bruchs Plattenbauviertel war nichts mehr los. Es war lange nach Mitternacht, bitterkalt außerdem. Jeder normale Mensch hielt sich jetzt daheim auf.
Schauer stellte ihr Auto direkt vor Bruchs Hauseingang ab, sprang aus dem Wagen, lief zur Tür und klingelte. Bruch reagierte nicht. Sie klingelte noch einmal und noch ein drittes Mal, dabei ließ sie den Daumen auf dem Knopf.
Das Sprechgerät knackte. «Verschwinde, sonst ich rufe die Bullen!», herrschte eine Männerstimme, konnte Bruchs Nachbar sein, dem ihr Geklingel nicht gefiel.
«Ich bin die Bullen!», erwiderte Schauer. «Geh wieder ins Bett!» Sie ging ein Stück weg vom Haus, sah nach oben, doch alles war finster. Sie nahm das Handy heraus, wählte seine Nummer. Es klingelte zwar, doch Bruch ging nicht ans Telefon. Nun war sie hier und wusste nicht weiter. Dabei hatte sie sich auf der Herfahrt schon alles zurechtgelegt. In ihrem Geiste hatte sie alle möglichen Szenen durchgespielt. Jetzt drohte ihr Elan zu verpuffen.
Sie könnte ins Haus einbrechen und in seine Wohnung. Sie konnte nachsehen, ob er da war, was sich in diesem Zimmer befand. Doch das war nur Zeitschinderei. Eigentlich wusste sie, wo er war. «Gottverdammte … verfluchte … kack …», schrie sie in den Himmel.
«Ruhe da unten!», brüllte jemand vom Balkon.
«Geh rein und mach die verdammte Tür zu!», erwiderte sie, zog die Pistole und richtete sie auf die Gestalt auf dem Balkon, die sofort nach unten abtauchte. Dann sprang sie in den Wagen und startete den Motor.
Schon der Anblick der düsteren Gebäude, wie sie über dem Hügel erschienen, löste Übelkeit in ihr aus. Aber nun war sie fest entschlossen, sich nicht noch einmal ins Bockshorn jagen zu lassen. Heute nicht. Sie stellte den Wagen direkt vor dem großen Tor ab, und ehe sie es sich anders überlegte, ging sie zu der Eingangstür, die einen Spaltweit offen stand, betrat den Hof, in dem die verrosteten Überreste der Maschinen wie urzeitliche Pflanzenfresser in den Brennnesseln weideten. Mit der Pistole in Vorhalte schob sie sich an ihnen vorbei, betrat das Haus über den rechten Eingang, dort, wo sich der Versammlungsraum befand. Sie tastete sich zur Treppe, stieg sie hoch in die erste Etage, wollte zur Wohnung der Alten. Noch war genügend Adrenalin in ihrem Körper, allen Gefahren zu trotzen. Doch etwas hielt sie auf, ein Gefühl wohl, oder ein Geräusch, eher von ihrem Unterbewusstsein registriert, als dass sie es gehört hätte. Sie blieb stehen, warf einen Blick in das Eckbüro. Da stand jemand am Fenster.
«Felix?», fragte sie, hob die Pistole, richtete sie auf die Gestalt.
«Früher geschah es oft, dass ich in der Nacht aufgestanden bin.»
«Du meinst, du schlafwandelst?»
Bruch ließ sich Zeit mit der Antwort. Er schien durch den Spalt zwischen zwei Brettern aus dem Fenster zu sehen. «So in der Art.»
«Toll», rettete Schauer sich wiederholt in den Sarkasmus, wie sie es oft tat, wenn es ihr zu viel wurde. «Nicht nur, dass du Psychopath bist und ein Schizo, eine Persönlichkeitsstörung hast du auch noch. Mit welchem Felix rede ich denn grad, dem völlig irren oder dem total bekloppten?»
Bruch antwortete nicht, bewegte sich auch nicht.
Schauer trat an ihn heran. «Ich muss dich mal was fragen. Gerade klang es mir noch logisch, jetzt scheint es mir zu dumm. Aber kann es sein, dass du letzte Nacht auf dem Friedhof da hinten warst und die Urne der Alten ausgegraben hast?» Es mochten zweihundert Meter sein, übers Feld, in Richtung der Kirche. So lang, wie er verschwunden war, sollte es kein Problem gewesen sein, auch noch nach dem Grab zu suchen und das Loch auszuheben.
Bruch zögerte, aber er atmete tief ein, dann nickte er. «Offenbar habe ich das.»
Schauer trat noch näher, wagte es noch immer nicht, die Waffe runterzunehmen. «Was guckst du denn da eigentlich?», fragte sie.
Bruch nickte in Richtung des Fensters. Schauer trat nun neben ihn, warf selber einen Blick durch den Spalt. Ein Licht flimmerte am anderen Ende des Dorfes. Langsam schien es größer zu werden.
«Sag mal, kann es sein, dass es da brennt?»
Bruch nickte.
«Der Doktor?», fragte Schauer.
«Ich denke, ja!»
Schauer sah Bruch an, wartete auf weitere Reaktion. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus. «Na los, was stehst du noch!», fuhr sie ihn an und rannte los.
Doktor Frielings Haus brannte noch nicht völlig, als sie es wenige Minuten später mit dem Auto erreichten, von einem Anbau, einer ehemaligen Scheune, hatten die Flammen aber längst aufs Wohnhaus übergegriffen, und bisher schien noch niemand davon etwas mitbekommen zu haben. In den Nachbarhäusern waren alle Fenster dunkel.
Schauer hatte die Feuerwehr schon gerufen. Gerade ging die Sirene an, welche die freiwilligen Feuerwehrleute zusammenrief. Ehe die alle da waren, konnte noch einige Zeit vergehen.
Bruch war aus dem Wagen gestiegen, zur Haustür gelaufen, klingelte, während Schauer an die Tür klopfte. Die Hitze war kaum noch auszuhalten. Die Scheune nebenan brach unvermittelt in sich zusammen. Eine Funkengarbe sprühte auf, wurde vom Wind weit getrieben. Inzwischen gingen ringsum im alten Dorfteil die Lichter an.
«Wir müssen rein», schrie Schauer gegen das Feuerbrausen an. Bruch trat zurück, holte aus und drosch mit dem Fuß gegen das Schloss, nach dem zweiten Tritt brach es, die Tür schwang auf. Es entstand ein Fauchen, vom einströmenden Sauerstoff genährt schlugen Flammen hoch.
«Herr Frieling!», brüllte Schauer ins Haus, musste das Gesicht mit den Armen vor dem Hitzeschwall schützen, wich dann zurück, weil es kaum auszuhalten war. Sie konnte eine Treppe erkennen, die hinaufführte, oben loderte es rot, schwarzer Rauch wölbte sich unter der Decke.
«Ist da jemand drin?», fragte sie einen Nachbarn, der im Schlafanzug angerannt kam.
«Ja, der Doktor und seine Frau!», rief der. «Kommen Sie mit, hier links ist ein Schlauch!»
«Felix!», rief Schauer. «Die sind noch drin!»
Bruch nickte und verschwand im nächsten Moment im Haus. Wie vom Donner gerührt blieb Schauer stehen. War der gerade ins Feuer gerannt?, fragte sie sich fassungslos.
«Kommen Sie. Helfen Sie mit dem Schlauch!», rief der Nachbar. Inzwischen waren noch weitere Anwohner hinzugekommen, aus weiter Ferne näherte sich eine Sirene. Schauer half, den Schlauch abzuwickeln, zerrte ihn zum Haus, aber es kam kein Wasser.
«Der hat schon abgedreht, wegen Frost!», rief jemand, und Schauer ließ den Schlauch fallen. Vollkommen nicht in der Lage, irgendetwas zu tun oder klar zu denken, starrte sie auf den Eingang des brennenden Hauses. Von links näherte sich blinkendes Blaulicht, wie in Zeitlupe erschien es ihr, dass der Wagen bremste, die Feuerwehrleute absprangen, die Schläuche ausrollten. Dann erschien hustend und würgend Doktor Frieling im Schlafanzug, der buchstäblich qualmte, er hielt sich nur zwei, drei Schritte noch auf den Beinen, stürzte dann. Endlose Sekunden später erschien Bruch, der die bewusstlose Frau des Doktors an den Händen aus dem Haus zerrte. Sofort sprangen Leute hinzu, halfen ihm mit der Frau. Bruch hustete und machte dabei den Eindruck, als wäre es ihm eine vollkommen lästige und unnötige Anstrengung. Taumelnd wich er zur Seite aus, winkte unwirsch eine Frau weg, die ihm zu Hilfe geeilt war, schüttelte den Kopf. Schauer lief ihm nach, hinein in eine dunklere Ecke, während das Haus inzwischen hell in Flammen stand, vom Dachstuhl schon bedenkliches Knacken und Bersten erklang.
Er hatte sich hingehockt, lehnte an einer Wand, hustete, versuchte es zu unterdrücken.
«Du musst dich untersuchen lassen, deine Lunge ist bestimmt voll Rauch», sagte sie, weil ihr nichts Besseres einfiel. Bruch nickte, hustete, winkte ab.
«Wolltest du mir irgendwas beweisen?», fragte sie.
Bruch streckte den Arm aus, und sie kapierte nicht gleich, dass sie ihm hochhelfen sollte. Dann reichte sie ihm die Hand und zerrte ihn auf die Füße.
«Was jetzt? Soll ich mal ’nen Sani holen?»
Bruch schüttelte den Kopf, zeigte hinters Haus. «Da, sieh», brachte er hervor, bevor ihn ein weiterer Hustenanfall übermannte. Schauer schaute, doch der helle Lichtschein des brennenden Hauses machte es kaum möglich, irgendetwas anderes zu sehen.
«Auf dem Feld», keuchte Bruch. Er nahm sie beim Arm, zerrte sie weiter weg, ins Dunkle hinein, zeigte über den Garten der Frielings auf den großen Acker, der sich dahinter erstreckte. Dort, schon recht weit entfernt, bewegte sich ein ganz winziges Licht.
Schauer keuchte und war vollkommen außer Atem. Sie hatte den Weg absolut unterschätzt. Allein überhaupt zum Feldrand zu gelangen, hatte sie einen Sprint von zweihundert Metern und eine ganze Menge Puste gekostet. Auf dem Feld kam sie nur schlecht voran. Zwar hatte der Frost die Erde gefrieren lassen, doch stolperte sie beim Rennen über lose Brocken, konnte keinen vernünftigen Schritt tun auf diesem unebenen Grund. Zweimal schon war sie gestürzt, hatte sich die Unterarme geprellt und die Schienbeine eingeschlagen. Und dreckig war sie bestimmt schon wieder. Die würden schön zu lachen haben, dachte sie. Am besten wäre, sie könnte in einer Furche laufen, doch das Feld war genau quer zur Laufrichtung gepflügt, also musste sie ihren Hindernislauf fortsetzen, wenn sie den kürzesten Weg zu dem sich langsam bewegenden Licht nehmen wollte. Nun war sie so weit, sie musste kurz innehalten, stützte sich auf die Knie, pumpte, schluckte, richtete sich auf, keuchte mit gebleckten Zähnen. Sie drehte sich zu Bruch um, den sie husten hörte und nur erkannte, weil er mit dem Feuerschein im Rücken lief, ansonsten war es auf diesem Acker stockfinster.
«Na los!», spornte Schauer sich an. Sie musste dieses kleine Licht erreichen, ehe es hinter dem Feldrain verschwand, oder vielleicht war es auch ein Wäldchen oder eine alte Mauer, in dieser Scheißdunkelheit konnte das kein Aas erkennen.
Endlich hatte sie das Gefühl, näher zu kommen. Sie war völlig durchgeschwitzt, der Schweiß lief ihr unter der Kleidung den Rücken hinab, wurde kalt, ekelte sie an. Noch einmal drehte sie sich nach Bruch um. Er war zu weit entfernt, konnte kaum folgen. Sie musste also erst mal selber klarkommen.
Nun war sie so nahe, dass sie aufhören konnte zu rennen. Im Schritttempo folgte sie dem kleinen flackernden Licht, das nun gelegentlich verschwand und wieder auftauchte. Eine kleine Gestalt war zu erkennen.
«Es hat keinen Zweck mehr», schniefte Schauer, hatte dazu erst mal ein wenig Luft holen müssen.
«Stehen bleiben! Polizei!», befahl sie lauter.
Die Gestalt blieb tatsächlich stehen, drehte sich zu ihr um. Eine alte Frau. «Kommen Sie nicht näher», krächzte sie, und auch wenn Schauer es sich nicht eingestehen wollte, es wäre schon geiler, wenn Bruch endlich herankäme.
Schauer hob die Hand. «Schluss jetzt, Frau Gessner, keinen Blödsinn mehr.»
«Ich wollte nur meine Ruhe, verstehen Sie, einfach nur meine Ruhe. Kann ein Mensch nicht seine Ruhe haben auf seine alten Tage», fauchte die Frau. Sie trug eine Petroleumlampe. «Und Sie verschwinden jetzt, sonst werd ich Ihnen zeigen, was es heißt, sich mit mir anzulegen.»
«Frau Gessner, es reicht jetzt mit dem Bullshit, wo ist Celina?»
«Ich weiß gar nicht, von wem Sie sprechen! Gehen Sie jetzt! Fort, ab!»
Schauer trat näher, sie musste handeln, zum Quatschen hatten sie später noch Zeit. Die alte Frau wich zurück, warf die Lampe in Schauers Richtung. Schauer konnte leicht ausweichen, das Glas zersplitterte, das Licht ging aus.
«Pass auf!», keuchte Bruch einige Meter hinter ihr.
Bissl spät, die Warnung, wollte Schauer sagen, da bewegte sich die Alte, und etwas zischte durch die Luft. Schauer konnte gerade noch zurückspringen und den Bauch einziehen.
«Jetzt reicht’s mir aber, Mensch!», fluchte sie, als sie die Sichel in der Hand der Alten erkannte. Ehe die Frau sich neu sortieren konnte, sprang Schauer vor und hieb der Alten die Faust ins Gesicht.
«Was war in der Urne?», fragte Schauer.
«Dreck.»
Bruch war nach einigen Minuten aus dem Rettungswagen gekommen, in den sie ihn genötigt hatte. Man hatte sich darauf geeinigt, dass er morgen seine Lunge untersuchen lassen sollte. Schauer war sich ziemlich sicher, dass Bruch es nicht tun würde. Nun standen sie in der Nähe des noch glühenden Hauses, da war es schön warm.
Frau Gessner wurde in einem anderen Wagen behandelt. Ihr Gesicht war ziemlich ramponiert. Das war aber nicht das Schlimmste. Sie schwieg, sprach kein Wort mehr, starrte nur böse. Sie sollte ihnen jedoch sagen, wo sie Celina versteckt hielt. Um nicht untätig zu sein, hatten sie erneut Leute bestellt, die den Bauernhof ein viertes Mal auf den Kopf stellen sollten.
Frieling, der in eine Silberfoliendecke gehüllt auf einem Stein vor seinem abgebrannten Haus saß, hatte ihnen inzwischen gestanden, den Totenschein der Alten vorsätzlich gefälscht zu haben. Frau Gessner, vom Gerichtsvollzieher unter Druck gesetzt, die Zwangsräumung vor Augen, hatte gehofft, so die letzten Jahre ihres Lebens ihre Ruhe zu haben. Sie lebte weiterhin auf dem Hof, oder irgendwo in der Nähe. Wo genau, wussten Frieling und auch Jolisch jedoch nicht. Der Lohn ihrer Dienste war, dass Jolisch das Grundstück erhielt und es dann, nach einer gewissen Karenzzeit, günstig an Frieling verkaufte, damit es nicht allzu verdächtig erschien. Indessen versorgten die beiden Männer die alte Frau mit dem Nötigsten. Frieling durch Geldspenden, Jolisch, indem er alle Besorgungen erledigte. Ein Bekannter von Frieling, der in einem Krematorium arbeitete, fingierte die Einäscherung, füllte die Urne mit Kehrresten, hatte dafür fünftausend Euro bekommen.
Dass die Alte noch so lang leben würde, hätten sie gar nicht gedacht, Frau Gessner selbst hatte nicht daran geglaubt, sagte Frieling aus. Ein paar Monate hatte sie sich noch gegeben, krank war sie gewesen, abgemagert. Dass sie einen Hang zur Spinnerei hatte, wusste Frieling zu bestätigen. So kochte sie Kräuter zusammen, murmelte gern alberne Verse vor sich her und hatte es so über die Jahre vom Ruf einer putzigen Alten zu dem einer eigenartigen Hexe gebracht. Sie unterstrich das durch gelegentliche Streiche, die sie spielte: Schmierereien am Fenster, Dreck in den Briefkästen und Hexengekicher. Wenn Leute in der Nacht ein kleines Lichtlein übers Feld schweben sahen, dann war es die Gessner, die Jolisch besuchte.
«Ab wann hast du es geahnt?», fragte Schauer.
Bruch überlegte lang. «Als Linda diese altmodischen Worte verwendet hat. Nimmer und Äuglein. Aber vielleicht ahnte ich es schon eher.»
«Musst du ja, sonst hättest du die Urne nicht ausgegraben.» Schauer schüttelte den Kopf, Bruch war ihr wirklich nicht geheuer. «Ich habe es wirklich erst vorhin kapiert. Als du mir das Licht auf dem Feld gezeigt hast.» Beinahe hätte die Alte sie mit der Sichel aufgeschlitzt. Das Ding war scharf wie eine Rasierklinge, hatten sie festgestellt. Das wäre eine ordentliche Sauerei auf dem Feld geworden und schade um die ganze Krebsbehandlung. «Wie willst du das mit der Urne eigentlich erklären? Das gibt eine Anzeige wegen Störung der Totenruhe.»
«Keiner weiß, dass ich sie habe», sagte Bruch.
Sie wusste davon. Aber es gab keinen Grund, ihn jetzt darauf hinzuweisen. Er schien gesprächig, auch wenn er sie dabei nicht ansah. Die Nacht war nicht seine Zeit. Da tickte sein Hirn anders, oder die Tabletten zeigten keine Wirkung mehr. Sie wollte sich die Gelegenheit nicht nehmen lassen.
«Was ist in dem verschlossenen Zimmer bei dir daheim?»
«Es ist das Zimmer meiner Tochter. Ich darf sie nicht mehr sehen. Im Moment.»
Schauer schloss die Augen und fluchte stumm in sich hinein. Was musste sie ihre Nase auch immer in anderer Angelegenheiten stecken. «Hat deine Ex das bestimmt?»
Bruch schüttelte knapp den Kopf. «Ich selbst habe das bestimmt.»
«Aber …» Schauer verstummte. Jetzt holte sie noch einmal Schwung. «Aber vermisst sie dich nicht? Ihren Vater?»
«Es ist besser so. Besser, sie vermisst mich, so wie sich mich kannte, als dass ich eines Tages etwas tue, das sie nicht versteht.»
«Geht das schon lang so?»
«Drei Jahre. Vorher hat sie mich besucht, jedes zweite Wochenende. Fünf Jahre lang.»
«Drei, fünf, das sind acht Jahre, wie alt ist sie?»
«Zwölf. Sie war vier, als Cornelia sich von mir trennte.»
«Für eine so lange Zeit scheint sie aber noch sehr besorgt um dich. Immerhin hat sie mich verfolgt und bat mich, Rücksicht zu nehmen.»
Bruch nickte knapp.
«Und sag mal.» Schauer sah sich vorsichtshalber noch einmal um. «Diese andere Knarre, das Geld und das ganze andere Zeug. Woher ist das?»
«Ich habe es aus Michaels Wohnung geholt, nachdem er starb. Er hatte da ein Versteck. Seine Frau sollte es nicht finden.»
«Hast du das gemacht, um seinen Ruf zu schützen, oder dich?» Eine ganz andere Ahnung beschlich sie. Eine Idee, die etwas mit Simon zu tun hatte, mit Bruchs Ex-Frau und der näheren Vergangenheit dieser ganzen Abteilung. Besser war, sie behielt dies erst mal für sich.
«Ich muss mich nicht schützen.»
«Weil es jemand anderes tut? Dieser jemand, der dir die Tabletten schickt?»
Bruch nickte wieder. Hob dann aber die Schultern. Ganz sicher schien er nicht.
«Du weißt nicht, ob es dieselbe Person ist?»
«Nein, warum sie es tut.»
Schauer schürzte die Lippen. Das war ziemlich durchgeknallt alles. Fast war sie geneigt, ihm auf die Schulter zu hauen und zu sagen, willkommen im Klub. Doch so was machte man bei Bruch nur, um sich eine Abfuhr zu holen. Keine falschen Hoffnungen. Inzwischen war ihr seine Gesprächigkeit auch nicht geheuer. Es hatte ihm nicht gutgetan, zwei, inzwischen sogar drei Nächte kaum, vielleicht auch überhaupt nicht zu schlafen.
«Felix, wenn ich die Nummer zurückriefe, die dich anruft, wo käme ich da raus?»
Bruch antwortete nicht gleich, und es schien, als fochten in ihm zwei Dämonen einen Kampf aus. Vielleicht war es wirklich keine gute Idee, sich da einzumischen.
«Beim Polizeiärztlichen Dienst», sagte er nun. «Mehr brauchst du nicht zu wissen!»
Schauer schloss die Augen einen Moment. Da hatte sie angerufen, seinetwegen, hatte gedroht, ihn zu melden, sich über seinen bedenklichen Geisteszustand zu äußern, um ihn zu zwingen, die Tablette zu nehmen. Himmel, in welchen Sumpf war sie da geraten, was ging da vor sich? Und musste es nicht sogar bedeuten, er hatte die Tablette letztendlich nicht genommen, um sich zu schützen, sondern sie. Es war besser, sie schwieg ab jetzt, hielt sich raus, ehe erst jemand auf sie aufmerksam wurde, mit dem sie sich besser nicht anlegen sollte. Und doch musste sie nachhaken.
«Deine Ex meinte, du wärst lange Zeit ganz normal gewesen. Zumindest so, was man landläufig für normal hält.» Von Korruption und anderen Dienstvergehen mal abgesehen, die es vermutlich zur Genüge gegeben hat, anders konnte sie sich das alles nicht erklären. «Und dann wärst du ihr langsam entglitten. Wärst komisch geworden.»
«Ich glaube, ich bin nicht komisch geworden. Sondern aus dem Zustand eines Scheindaseins in mein eigentliches Dasein zurückgekehrt.»
Zustand, Scheindasein, eigentliches Dasein, wiederholte Schauer in Gedanken. «Warum?»
«Ich habe ein Paket bekommen.»
«Ein Paket? War da was drin? Was Besonderes?»
«Etwas war drin, das …» Bruch verstummte, versank in sekundenlanges Schweigen, raffte sich dann plötzlich auf. «Fahren wir zum Bauernhof.»
Man hatte großes Gerät aufgefahren. Scheinwerfer wurden ins Haus geschleppt, ein Generator tuckerte auf einem Laster. Mehr als zwanzig Polizisten durchkämmten das Gebäude mit Hunden und starken Lampen, hatten die Maßgabe, keinen Winkel auszulassen, nach Hohlräumen zu suchen, nach losen Brettern, doppelten Böden, versteckten Türen.
Bruch betrachtete den ganzen Aufwand, sah die Gesichter der Leute, in denen sich widerspiegelte, was er dachte. Das Gebäude war dreimal schon durchsucht worden.
Es war ein Fehler gewesen, die alte Frau aufzuhalten. Sie hätten ihr folgen sollen. Doch Schauer wollte er keinen Vorwurf machen, denn dumm war Frau Gessner nicht. Ganz im Gegenteil. Sie hatte ganz deutlich gemacht, dass sie nichts sagen würde, ehe man ihr die Freiheit ließ. Das Leben eines Kindes gegen ihres, das schon weit über achtzig Jahre währte. Rüstig war sie, in der Lage, sich um sich selbst zu kümmern. Sie hätte es gesehen, wären sie ihr nur gefolgt. Sie hätte sie auf die falsche Fährte gelockt, ihr Versteck hätte sie nicht verraten. Schauer hatte nichts falsch gemacht. Simon hatte das THW um ein Georadar gebeten, mit dem man nach Hohlräumen suchen wollte. In einigen Stunden sollte es eintreffen.
«Wo gehst du hin?», fragte Schauer ihn.
Er hatte ihr zu viel erzählt. Ganz gegen seinen Willen. Es war, als versuchte jemand Fremdes die Macht über ihn zu erlangen. Das war er selbst, wusste er auch, doch das machte es nicht weniger real. Er sah die Dunkelheit aufsteigen, und diese wollte sich nicht mehr unterdrücken lassen. Ein solch kurzes Gespräch hatte mehr hervorgeholt, als er es für möglich geglaubt hatte. Das Paket war ihm in den Sinn gekommen, seit Langem wieder. Einfach so erschienen. Vom Postmann gebracht, ohne Absender. Groß wie ein Schuhkarton. Hab gar nichts bestellt, hatte er zu Conny gesagt, es war an ihn adressiert. Er hatte es geöffnet, hatte hineingesehen. Und obwohl er nicht einmal verstanden hatte, was er da sah, waren in dieser Sekunde die vermeintlich festen Wände seines bisherigen Lebens wie billige Kulissen umgefallen, hatte eine Pflanze zu keimen begonnen, eine schwarze Pflanze in ihm, ein Parasit, ein Zerfresser. Wie ein Geschwür war es herangewachsen, hatte Verheerungen in ihm angerichtet, hatte zerstört, was in den Jahren zuvor Realität gewesen zu sein schien, hatte ihm mit einem Mal klargemacht, dass es nicht sein Leben war, das er da führte. Seit diesem Tag war es abwärtsgegangen mit ihm, so weit, bis er nicht mehr wusste, wer er eigentlich war und die Leute um ihn herum. Und vermutlich wäre er ins Bodenlose gestürzt, hätte ihn diese Frau, Psychologin in Diensten der Polizei, nicht besucht und ihm die Tabletten gegeben. Nimm die, hatte sie gesagt, jeden Tag eine, am Morgen. Was ist das, hatte er gefragt. Nimm sie einfach und vertrau mir. Er hatte ihr vertraut. Doch das konnte vielleicht ein Fehler gewesen sein.
Nun sah er Schauer an. Mochte sie demnächst wieder verschwunden sein, zurück nach Hamburg, und seine Geschichte mit sich nehmen, dachte er sich, es konnte ihm egal sein. Dass sie den schwarzen Nebel nicht sah, der an ihr hochkroch, aus dem sich Finger formten, die nach ihr greifen wollten, sie fassen und herunterziehen. Es wollte ihnen nicht gelingen. Sie fanden keinen Halt an ihr. Noch nicht.
An ihm jedoch hingen sie, hatten sich festgekrallt, bohrten sich in alle Körperöffnungen. Nicht mehr lang, und sie würden ihn zu Boden zerren. «Gehen wir hinter das Haus», sagte er.
«Da ist nichts», erwiderte sie.
Man hatte Linda geweckt und ihr gesagt, dass die Alte eingesperrt sei, dass sie ihr nichts anhaben konnte, doch Linda wollte sich davon nicht beruhigen lassen. Es ändert nichts, sagte sie. Was hatte die Alte ihr nur eingeredet, wie war es ihr gelungen, dem Kind eine solche Angst zu machen? Hatte sie damals gehofft, eine Gefährtin in ihr zu finden, hatte sie versucht, sie bei sich zu behalten? Warum aber hatte sie sie gehen lassen? Mochte sein, dass Linda zwei Wochen lang nicht gegessen hatte und auch das Trinken verweigerte. Sie hatte sie gehen lassen müssen, weil sie sonst vielleicht verdurstet oder verhungert wäre. Es war ihr jedenfalls gelungen, dem Kind weiszumachen, dass sie kein Wort darüber verlieren durfte, was geschehen war, sicher hatte sie ihr gedroht, sich an ihrer kleinen Schwester zu vergreifen. Sicher hatte sie gedroht, sich in der Nacht ins Haus zu schleichen, sich neben ihr ans Bett zu hocken. Irgendwie hatte sie sich das Kind gefügig gemacht.
«Etwas muss da sein», antwortete er, bahnte sich weiter seinen Weg durch das Dickicht.
Schauer folgte ihm, leise vor sich hin fluchend, es knackte und knirschte unter ihren Füßen. Ob sie wusste, dass sie immerzu fluchte und schimpfte? Ob ihr bewusst war, dass sie zu glühen begann, wenn sie gelegentlich ihre Zweifel vergaß und sie ganz rein war in ihren Gedanken? Nein, verbesserte Bruch seine Gedanken, weder das sah sie noch den dunklen Nebel, das gehörte nicht zur Realität, zumindest nicht zu ihrer. So wie sie nicht sah, dass die Wassertropfen an den Blättern zu kleinen Prismen wurden, die jeder für sich das Licht in allen Farben brachen, dass die Welt zu schimmern begann, bis es ihm in den Augen schmerzte, sogar im Dunkeln. Oder gerade deshalb.
«Celina!», rief Schauer plötzlich laut, und ihre Stimme, so unerwartet und nah, ließ ihn einen Moment erstarren, dass er fürchtete, die nächste Bewegung ließe ihn zerspringen.
«Hier ist die Polizei, Frau Gessner ist verhaftet. Celina, schrei, wenn du uns hörst, oder klopfe!»
Bruch blieb stehen, wartete, betrachtete Schauer, wie sie lauschte, den Kopf leicht geneigt, den Kopf in verschiedene Richtungen drehend. Dann erwiderte sie seinen Blick, zuckte mit den Achseln. «War einen Versuch wert. Aber wo soll die denn hier sein?»
«Jolisch sagte, die Siedlung gab es schon im Mittelalter. Im Dreißigjährigen Krieg waren die Schweden zweimal hier. Ich bin sicher, es gibt Tunnel, in denen sich die Leute damals versteckten. Suchen wir einen Zugang.»
«Und die sollen jetzt noch existieren?», fragte Schauer. «Hier wurde doch alles schon abgesucht.»
Bruch wusste dazu nichts zu sagen. Es war alles abgesucht. Er selbst hatte alles abgesucht.
«Soll ich dir was sagen?», begann Schauer.
Er sah sie an. Nein zu sagen, würde keinen Sinn haben, sie sagte es ja trotzdem.
«Das war so eine üble erste Woche hier. Es lief wirklich alles schief, was nur schieflaufen konnte. Ich brauch jetzt nicht noch ein totes Kind.»
Jemand kam mit einem kleinen LED -Scheinwerfer um die Ecke, und in dem hellen Schein sah Bruch das kleine Mädchen, das Nicole einst gewesen war, das sich verlaufen hatte in der Nacht und dem in dieser Nacht etwas geschehen war, das ihr ganzes Leben veränderte. Sie waren sich so gleich und doch so weit entfernt.
«Warte mal!», sagte sie plötzlich. «Komm mal mit. Komm, schnell!» Sie pfiff schrill auf zwei Fingern. «Sie da! Ich brauch die Lampe, schnell!»
«Hier!», sagte sie und leuchtete in den Kellergang. «Hier muss ich gestanden haben.» Sie sah sich um, beleuchtete den Boden, die Wände. «Mir war wirklich, als hätte mich jemand angefasst.»
Im hellen LED -Licht wirkte alles so banal wie jeder andere Keller. Wände aus grob gehauenem Stein, auf dem Boden Dreck von Jahrzehnten.
Sechs Kellertüren befanden sich in unmittelbarer Nähe, drei links, Richtung Hof, drei rechts unter dem eingestürzten Teil des Gebäudes. Die Türen standen alle offen. Einen nach dem anderen leuchtete Schauer die Räume ab. In den ersten zweien befanden sich alte Möbel, ihrem Aussehen und Zustand nach aus der DDR . Leere Stiegen und Kisten stapelten sich. Die anderen vier Räume waren leer. Nur einige Bretter lehnten an den Wänden oder waren umgefallen. Die Wände schwarz vom Dreck mehrerer Hundert Jahre, die Decken gewölbt, die Lampen, vor sechzig Jahren vielleicht erst installiert, funktionierten allesamt nicht.
Schauer reichte ihm den Scheinwerfer. «Leuchte mal!»
Bruch nahm ihn, folgte ihr in einen der Räume. Schauer begann die Bretter von den Wänden zu nehmen, schmiss sie einfach um. Dann lief sie an ihm vorbei zum nächsten Raum. Inzwischen hatten sich im Keller ein paar Leute angesammelt, Uniformierte beobachteten stumm durch die offene Tür, wie Schauer auch hier alle Bretter umschmiss. Im dritten Raum, wo Möbel standen, begann sie die Schränke umzuwerfen. Es krachte übermäßig laut, und die meisten Möbel, allesamt aus Pressspan, fielen einfach auseinander.
Danach trat sie in den Flur, sah wütend die Polizisten an, die im Halbkreis standen. Unmerklich wichen sie alle ein wenig zurück.
«Und hier?», fragte einer und deutete auf die hofseitigen Räume.
Schauer schüttelte den Kopf. «Mensch!» Sie sah auf, schlug Bruch mit dem Handrücken an den Oberarm und kehrte in den ersten Raum zurück, wo sie nun begann, die umgeworfenen Bretter alle wieder aufzuheben. Nachdem sie an der hinteren Wand eines aufgehoben hatte, trat sie zurück, zerrte das Brett ganz beiseite und ließ es achtlos fallen.
«Da geh ich nicht rein, dass das mal Fakt ist!»
Bruch trat vor und leuchtete in das Loch am Boden, aus groben Feldsteinen gemauert, kaum größer als einen halben Meter im Quadrat.
«Ich mach es.» Er schob Schauer beiseite.
«Ich hab Platzangst», sagte sie, als müsste sie sich entschuldigen. «Ich verreck da drinnen!»
Bruch gab ihr den Scheinwerfer zurück, stützte sich über dem Loch ab, ließ sich mit den Füßen voran hinab. Bald schon ertastete er etwas wie eine Stufe, dann eine zweite, als er sicher stand, ließ er sich von Schauer die Lampe reichen. Das Loch war nicht sehr tief, mündete in einen horizontal verlaufenden niedrigen Gang, er musste sich ganz klein zusammenkauern, um mit Entenschritten hineinzugelangen. Auf diese Art und Weise schob er sich voran, auf allen vieren zu kriechen, wäre besser gewesen, doch war ihm diese Art der Fortbewegung zuwider.
«Felix?», rief Schauer.
«Ich komme voran», rief er zurück. Die Wände bewegten sich, wölbten sich nach innen. Er versuchte es zu ignorieren. Wenn er sie berührte, waren sie ganz fest.
«Warte!», rief Schauer, dann verriet ihm ein flackernder Schein, dass sie ihm mit einer zweiten Lampe folgte.
«Du musst das nicht tun», sagte er.
«Doch, ich muss», sagte sie.
Bruch schob sich weiter vor und kam so etwa zehn, fünfzehn Meter voran, ehe der stollenartige Gang nach rechts abbog, kurz darauf wieder nach links. Unmerklich, aber stetig schien es bergab zu gehen. Durch die gemauerten Wände sickerte Wasser, bildete Rinnsale, machte den Weg glitschig.
«Oh Gott», stöhnte Schauer, «mach hinne! Hoffentlich ist das keine Sackgasse.»
Diese Gänge schien es seit Ewigkeiten zu geben, garantiert führten sie irgendwohin, und vermutlich würde es nicht nur noch einen weiteren Ausgang geben, sondern mehrere. Es konnte aber niemand garantieren, dass der Gang noch eine weitere Ewigkeit halten würde. Gestein war schon herausgebröselt, lag in Brocken oder zu Sand zerfallen auf dem Boden. Stützen wie in einem Stollen gab es nicht.
Kurz darauf erreichte Bruch eine erste Gabelung. Beide Gänge schienen gleich, keiner wirkte verlockender als der andere.
«Vergiss es!», antwortete Schauer, ehe er seinen Gedanken aussprach. «Wir teilen uns nicht auf!» Sie kroch an ihm vorbei, schob sich in den linken Gang. «Celina!», rief sie, «Polizei hier!» Sie hob den Finger, weil ein Geräusch zu vernehmen war. «Kam das jetzt von hier oder dort?»
Bruch deutete auf den Gang, in dem sie sich schon befand. Schauer nahm das als Aufforderung voranzugehen.
Nach wenigen Metern weitete sich der Gang ein wenig, wurde breiter und höher, noch immer ging es leicht bergab, und schließlich öffnete er sich zu einem größeren Raum, in dem man sogar stehen konnte, wenn auch mit eingezogenem Kopf. Balken stützten die Decke, die Wände waren gemauert. Ein Tisch stand hier, einen Stuhl gab es, sogar ein Feldbett.
«Celina?», fragte Schauer, suchte mit dem Lichtstrahl alle Ecken ab, fand den Zugang zu einem weiteren Raum. Dort saß auf einem Bett in völliger Finsternis ein Mädchen. Sie trug Jeans und Jacke, hatte die Knie angezogen, die Arme um sie geschlungen, verbarg ihr Gesicht dahinter.
«Celina», sagte Schauer leise. «Wir sind von der Polizei, wir suchen dich seit Tagen, deine Eltern suchen dich!»
Sie war nicht gefesselt, sah Bruch, war nicht eingesperrt. Sie hätte hinausgehen können. Etwas hielt sie zurück. Sie sah nicht einmal auf. Doch sie schien etwas zu sagen. Schauer richtete das Licht nicht direkt auf sie, näherte sich vorsichtig, setzte sich auf die niedrige Bettkante. Bruch blieb ein wenig abseits, doch er verstand, was Celina sagte.
«Ich kann hier nicht weg», flüsterte sie und wiederholte es immerzu. «Ich kann hier nicht weg. Ich darf nicht. Ich kann nicht.»
Sie sah nicht verhungert aus, auch nicht dehydriert, es standen Wasserflaschen neben ihrem Bett. Ihr Haar war sauber zu einem sehr altmodischen Zopf geflochten, auf dem Bett lagen seltsam anmutende Puppen, aus Stoff und Zweigen, mit aufgemalten Gesichtern. Sie schienen weniger Spielzeug zu sein, vielmehr Bewacher. Die Wände, sah Bruch jetzt, waren mit Zeichen bemalt, die vor seinen Augen zu tanzen begannen, wenn er sie zu lang betrachtete.
Er lief ein Stück weiter, während Schauer sich weiter mit dem Kind beschäftigte, ihr gut zusprach.
Der nächste Raum, den er durch einen weiteren, etwa fünf Meter langen Verbindungsgang erreichte, war eine Art Vorratsraum, hier stapelten sich Konserven, Zwiebackpackungen, Äpfel und Kartoffeln in Stiegen, eine Kochstelle gab es, ein Abzug war installiert, ein Rohr führte hinauf, verschwand im Gestein durch einen alten Luftschacht. Irgendwo musste es im Freien enden, versteckt vermutlich im Gestrüpp oder im windschiefen Entenverschlag, irgendwo, wo man den Dampf nicht sah, wenn er aufstieg. Kühl war es hier drin, aber nicht kalt. Die Alte hatte sich hier eingerichtet, darauf vorbereitet, den Rest ihres Lebens lieber auf diese Weise zu verbringen, als in einem Heim bevormundet zu werden. Vielleicht war ihr einsam geworden, sie hatte sich ein Kind gewünscht, da sie nie eigene hatte. Dasselbe hatte sie mit Linda versucht, hatte sie freigeben müssen, als ihr klar wurde, dass sie das Kind nicht halten konnte. Sie hatte ihr eingeredet, sie verflucht zu haben, und hatte sie damit tatsächlich verflucht. Vielleicht benutzte die Frau den Hexenzauber nur zu diesem Zweck, vielleicht aber glaubte sie selbst daran. Bruch konnte es ihr nicht übel nehmen. Es war schwer, nicht an Dinge zu glauben, die man tagtäglich sah.
Zwei weitere Öffnungen gab es. Sie mussten sich längst auf der anderen Seite des Ententeiches befinden, wer weiß, wohin die Gänge noch führten, wie oft sie sich noch verzweigten. Wer wusste schon, wie viele Menschen hier Schutz gesucht hatten. Vor mittelalterlichen Raubzügen, den schwedischen Truppen, den Sowjets. Vermutlich waren Jolisch und Frau Gessner die Letzten, die noch davon wussten.
«Felix?», fragte Schauer ein wenig ängstlich. Er kehrte zurück, leuchtete die Wände an, blinzelte und war sich sicher, die Zeichen und Runen hatten ihre Plätze gewechselt, und unter Celinas grauem, apathischem Gesicht, das sie nun zeigte, versteckte sich ein teuflisches Grinsen.
«Hat Linda dich hierhergebracht?», fragte er, starrte ihr auf die Stirn.
«Sie hat gesagt, sie will mir was zeigen», flüsterte Celina. «Dann war sie plötzlich weg, und die alte Frau war da.» Celina senkte den Kopf.
«Willst du gar nicht heim?», fragte Schauer.
«Doch, ich möchte sehr gern, aber ich darf nicht, es passieren dann schlimme Sachen.»
«Das ist nicht wahr, Celina, das ist eine Lüge. Frau Gessner, die ist gar nicht gestorben, die ist keine Hexe und auch kein Geist, sie ist ein Mensch, der noch lebt, sie hat nur so getan, als wäre sie gestorben, sie hat gelogen, und wir haben sie gefangen genommen. Sie ist im Gefängnis!»
Celina schüttelte den Kopf. «Sie verstehen das nicht. Sie ist eine Hexe, sie lebt ewig.»
«Das hat sie dir nur eingeredet. Damit wollte sie dir Angst machen, damit du hierbleibst und nicht wegläufst. Sie kann nicht zaubern oder hexen, sie ist einfach nur böse und gemein. Du kommst jetzt mit, deine Mutter möchte dich sehen. Du wirst sehen, die hat dir nur Angst gemacht, damit du dableibst und sie nicht verrätst. Dasselbe hat sie mit Linda gemacht, sie hat Linda befohlen, dich zu ihr zu bringen!»
Bruch war sich da nicht mehr so sicher. Im Durchgang zum Küchenraum lauerte eine dunkle Gestalt, ganz aus Schwarz. Aber er ahnte noch, dass nur er sie sah, nicht Schauer.
«Gehen wir», sagte er, denn weitere Gestalten drängten sich in den Raum. Sie wagten sich noch nicht heran, doch sie würden bald mutiger, drängender, bald würden sie nach ihm greifen. Noch immer sah Schauer sie nicht. Und vielleicht waren sie gar nicht existent. Nicht für sie. Für ihn schon.
«Los, gehen wir», sagte Schauer und hielt Celina die Hand entgegen. «Ich verspreche dir, es wird nichts Schlimmes geschehen.
Celina sah die Hand an, zögerte, doch endlich griff sie zu, ließ sich vom Bett helfen.
Es war eine große Last, die ihr von den Schultern fiel. Sie spürte förmlich, wie sich ihr Brustkorb weitete, wie sie atmen konnte. Wie sie am Gebäude vorbeimarschierten, übers Feld, wie die Kollegen stehen blieben, ihnen nachblickten, dieselben, die vorhin noch hämisch gefeixt hatten. Celinas Hand in ihrer, das war ein gutes Gefühl, ein Gefühl mit so vielen Facetten. Sie gefunden zu haben, war fantastisch, aus dem Loch raus zu sein genauso, dieses Gebäude hinter ihnen, das nun nichts mehr war als ein Haufen alter Steine, mit einer armen Irren als Bewohnerin. Aber diese Hand in ihrer, dass Celina ihr folgte, dass sie ihr vertraute, das war wohl das Beste von allem. Sie war also jemand, der man vertrauen konnte, sie war jemand, die sich etwas traute. Das müsstet ihr sehen können, dachte sie, an ihre Eltern gerichtet und an ihre Schwester. Das ist es, was es ausmacht, Bulle zu sein. Du kannst nicht allen helfen, und oft bleibt es bei ungeklärten Fällen, aber manchmal, da machst du genau das Richtige.
Vorne am Tor hatten sich Menschen versammelt. Polizisten, aber auch Bewohner aus dem Dorf und der Siedlung. Neugierig und stumm sahen sie zu, was auf dem Hof vor sich ging, warum schon wieder alles voller Polizisten war, voller Fahrzeuge und Scheinwerfer. Zuerst bemerkte sie niemand, als sie mit dem vermissten Mädchen an der Hand um die Ecke kamen.
«Celina!», schrie plötzlich jemand, und aus dem Pulk löste sich Yvonne Kühn. Sie kam auf sie zugerannt, umarmte ihre Tochter, die nun endlich zu weinen begann.
«Celina, oh Gott», stöhnte ihre Mutter, kniff die Augen zu und verzerrte ihr Gesicht vor Schmerz, als ihr alle angestaute Angst hochkam.
Das Mädchen weinte stumm, ließ mit hängenden Armen den Gefühlsausbruch ihrer Mutter über sich ergehen. Doch ganz schien sie dem Frieden nicht zu trauen.
Schauer suchte nach den richtigen Worten, aber sie fand nichts, was sich professionell anhören würde. Sie selbst musste schlucken und ihre Gefühle unterdrücken, die der Anblick dieser beiden Menschen in ihr auslöste. Wenn nur ihre Mutter damals so auf sie zugestürmt gekommen wäre, sie umarmt und geküsst hätte, wer weiß, was alles anders gelaufen wäre in ihrem Leben.
Nun besann sich Frau Kühn, ließ ihre Tochter los, doch nur, um sich Schauer an den Hals zu werfen. Sie umarmte sie so fest und ungestüm, dass es wehtat.
«Danke!», flüsterte sie heiser. «Danke! Es tut mir leid, wenn ich blöd zu Ihnen war! Richten Sie das auch Ihrem Kollegen aus.»
Schauer machte sich sachte los. «Werd ich tun», sagte sie und sah sich um. Wenn sie ihn nur sehen würde, aber er war weg.