steht sie auf den Klippen, bei jedem Wind und Wetter, und jedes Mal denkt sie, ich könnte springen. Denkt es, seit sie hier ist. Das Meer würde sie sofort verschlingen.
Seefahrer konnten früher nicht schwimmen, erzählen sich hier die Leute. Es hätte ihnen nichts genützt. Spätestens nach zwölf Minuten sei alles vorbei, heißt es, egal ob man schwimmen kann oder nicht. Die See nimmt sie alle.
Sie könnte sich rückwärts hinabstürzen, um nicht in die schäumende Gischt schauen zu müssen, mit Blick auf grünes Land und Schafe und in der Ferne bräunlich aufragende Berge.
Großmutter hatte nie das Meer gesehen. Sie starb, wo sie geboren wurde, in einem Dorf, das versunken war in seiner eigenen Vergangenheit. Nie hatte sein Rauschen sie in den Schlaf begleitet oder sie geweckt. Sie wusste nicht einmal, wie dieses Rauschen klingt. Oder kann man es sich vorstellen, ohne es je gehört und erlebt zu haben?
Wann hatte sie selbst eigentlich das Meer zum ersten Mal gesehen? Nicht einmal in Grimms Märchen gab es eins, nur Wälder und Wölfe, Zwerge und Hexen. Auch nicht in Bilderbüchern, soweit sie sich entsinnt. Lange Zeit kannte sie das Meer so wenig wie ihre Großmutter.
Und nun schaut sie schon seit drei Jahren auf das endlose Gewoge mit seinen wilden Winden und seiner wütenden Flut. Immer noch könnte sie stundenlang zum Horizont starren, obwohl einem dabei nicht bloß schöne Gedanken kommen. Was erwartet einen dahinter, fragt man sich, hinter diesem Horizont: Die Ewigkeit? Das Nichts? Beides zugleich? Die Antwort kennt niemand. Vielleicht ist es besser so.
Mister Pettibone hatte sie gewarnt. Man kann dort ein paar Tage Ferien machen, aber nicht leben, hatte er gesagt. Lange hatte sie sich nicht getraut, ihn anzurufen. Auch jenen Brief hatte sie ihm nie geschickt, den sie ein paar Wochen später am Telefon ablas, um mit ihrem Englisch nicht ins Stottern zu geraten: My husband died two months ago. I have to close my hotel and the restaurant.
Er konnte es nicht glauben. Ihr Mann war doch noch nicht alt, hatte er immer wieder gesagt. Doch wozu sollte sie ihm die ganze Wahrheit auftischen? Sein Entsetzen legte sich erst, als sie mit ihrer Anfrage kam.
Er habe es nie ernst gemeint mit diesem Hotel. Was denken Sie!? Impossible! You have so many options, rief er. So many options! Sie müsse sich keine Sorgen machen, man werde sie überall mit Handkuss nehmen. Überall zwischen Sylt und Sils Maria.
Er wusste wie jeder andere, dass man in ihrem Alter nicht mehr vermittelbar ist. Es klang nicht nur lächerlich, sondern wie Hohn. Was dachte er eigentlich, als er einer Zweiundsechzigjährigen, die vor dem Nichts stand, eine rosige Zukunft versprach? Nie hätte sie gedacht, dass er so schlecht Theater spielt.
Die bereits ergangenen Absagen erwähnte sie mit keinem Wort. Man konnte das Kopfschütteln am anderen Ende der Hörer jedes Mal regelrecht sehen und es aus den Antwortschreiben herauslesen. Diese Leute mussten ihr Gelächter unterdrücken, wenn sie erklärten: Es tut uns leid, Frau Bräuning, doch Sie möchten sicherlich nicht unter einer Chefin arbeiten, die zwanzig Jahre jünger ist als sie! Manche sprachen sie mit gnädige Frau an.
Es waren nicht mehr viele, die sie und ihren Mann kannten. Die Jüngeren konnten mit dem Namen Bruno Bräuning ohnehin nichts mehr anfangen, von den Älteren glaubten die meisten, sie beide befänden sich im Ruhestand. Man hatte über die Jahre die Kontakte schleifenlassen, aus guten Gründen. Die wenigen, die sich noch erinnerten, wussten natürlich, dass ihnen der Stern längst weggenommen worden war. Doch darüber redete man nicht. Sie sei herzlich willkommen, das Haus stehe ihr jederzeit offen, als Gast natürlich, hieß es überall. Mit tiefstem Bedauern, ihr nicht weiterhelfen zu können.
Nur Mister Pettibone rief ins Telefon: Sie sind noch jung! Er schien zu fürchten, am Ende noch für ihr Schicksal verantwortlich zu sein, sollte es ihm nicht gelingen, ihr den Unsinn mit dem abgetakelten Hotel seines Onkels auszureden. Zwar hatte er schon früher gesagt: Das Essen ist schlecht, die Leute sind ärmlich, doch das Meer ist herrlich! Auf einmal jedoch malte er ihr alles Schreckliche aus: zugige Fenster, zugige Türen, eine wahre Bruchbude, rundum Ödnis.
Natürlich, das Meer! Doch was wollen Sie am Meer, wenn alles andere nicht stimmt? Urlauber gibt es dort so gut wie keine, im Sommer schauen ein paar Engländer vorbei, vielleicht steht irgendwo ein verlorenes Kino, in dem keine Filme mehr laufen! Sie werden auf eine leere Bühne blicken, hatte er sie gewarnt. Selbst im Sommer entdecken Sie am Strand keinen einzigen Liegestuhl! Niemand wartet auf Sie in Abydyr!
Er konnte nicht begreifen, dass sie aus genau diesem Grund an einen solchen Ort wollte, an eine Küste ohne Hafen, ohne Boote, ohne alles Südliche.
In London hatte sie am Bahnhof ein paar Zeitschriften gekauft, um sich sofort wie angekommen zu fühlen. Doch sie konnte nicht herausfinden, auf welchem Gleis ihr Zug abfuhr. Jemanden anzusprechen hatte sie nicht gewagt, aus Angst, keinen einzigen englischen Satz herauszubringen. Sie wusste nicht einmal, wonach sie hätte fragen sollen. Man musste mehrmals umsteigen. Auf den vielen Anzeigetafeln war kein einziger Ort zu entdecken, der auf ihrem Ticket stand. Und nirgends ließ sich ein Schaffner blicken.
Auf das kurze Hochgefühl, bereits hierherzugehören, folgte die Bodenlosigkeit. Über Jahrzehnte hatte sie Tausende von Gästen begrüßt, nun blickte sie hilflos in einem Bahnhof umher, der die Kälte einer Lagerhalle besaß. Am liebsten hätte sie alles rückgängig gemacht und wäre zu Großmutter nach Hause gerannt, die seit bald fünfzig Jahren tot war. Alles, was danach kam, erschien ihr nun wie ein einziges Unglück. Hätte sie Bruno nie kennengelernt, wäre sie auch nie seinem Bruder begegnet.
Es ist ein schlechter Traum, du wachst gleich auf, neben dir liegt die Großmutter, auf der anderen Seite schaut dich der Schutzengel an, malte sie sich in einem Anfall sinnloser Hoffnung aus. Sie hätte das Schutzengelbild bei sich behalten und Großmutters Welt nie verlassen dürfen. Eine Welt, die mit dem Angelusläuten begann, aus deren Häusern mittags Essensgerüche drangen und wo abends die Läden zugeklappt wurden. Eine Welt mit Eisblumen am winterlichen Abortfenster und Obstwiesen hinterm Haus. Eine Welt, über der eine wohlige Müdigkeit schwebte, mit verblassten Tapeten, dämmrigen Fluren, knarrenden Stiegen, zerfallenden Scheunen und Kruzifixen an den Feldwegen.
Ein grauhaariger Rastamann mit faulen Zähnen und zottligem Bart sprach sie an. Sie war den Tränen nahe. Hatte Angst vor ihm. Wusste gar nicht, dass es alte Rastamänner gibt. What are you looking for? Sie hatte die Frage zuerst nicht verstanden. Dachte, er wolle Geld. Aus seinem furchigen Gesicht schauten sanfte Augen. Vielleicht lebte er im Bahnhof oder auf der Straße. Er musste sie beobachtet haben. Fünf Minuten später saß sie in ihrem Zug. Er wollte nicht einmal den Schein nehmen, den sie ihm hingehalten hatte.
Als die Ausläufer von London ins Land übergingen, querten stille Flüsschen mit Hausbooten die Strecke. Und dann stundenlang saftiges Grün und Schafe. Überall Schafe. Nie zuvor hatte sie so viele Schafe gesehen. Zwischen Gebüsch und Bäumen lugte hin und wieder ein Landschlösschen hervor. Je näher sie ihrem Ziel rückte, desto einsamer wurde die Gegend und fast menschenleer. In den spärlicher werdenden Dörfern waren die Häuser farbig gestrichen, was das Gefühl der Verlorenheit nur verstärkte. Die Ortsnamen auf den Bahnhofsschildern ließen sich kaum noch aussprechen. Sie bestanden aus endlosen Konsonanten, oft ohne jeden Vokal. Llanfairpwllgwyngyll, LLwydcoed, Ngwnfa, Ffydd. Man verschwand wirklich in ein fremdes Land, dessen Sprache kein Mensch verstand, der nicht von dort kam.
Vielleicht besitzt dieses Unaussprechliche etwas Befreiendes, dachte sie. Vielleicht ist es gut, wenn gar nicht erst das Gefühl aufkommt, dass man dazugehört und mit allem zusammenklebt. Wenn alles offenbleibt und man kaum etwas versteht.
Das Einzige, was ihr der Onkel über Mister Pettibone ausrichten ließ, lautete: You will manage the daily affairs! Genauere Anweisungen gab es nicht. Dieser Onkel schien sich für das Ocean Bay tatsächlich nicht sonderlich zu interessieren. Er habe es bereits verkaufen wollen, behauptete Mister Pettibone. Aber vielleicht ist man ja noch einmal froh über ein Hotel am Meer, habe er sich schließlich gesagt.
An manchen Tagen stehen alle Zimmer leer, dann wieder sind drei oder vier belegt. Länger als eine Nacht bleiben die meisten nicht, zur Hälfte Leute mit Rucksack, die von den Schneebergen im Norden kommen und Richtung Cornwall weiterwandern. Zuweilen sind dabei auch Deutsche, mit denen sie Englisch spricht, oder bei denen sie so tut, als habe sie Deutsch ein wenig verlernt. Gegen freies Logis und ein besseres Taschengeld verwaltet sie den schieren Stillstand. Ein Metzger füllt mit vorgekochten Eintöpfen regelmäßig die Gefriertruhe, den Rest erledigt die Mikrowelle. Essen wie im Zug. Die meisten Gäste frühstücken lediglich. Daily clean of rooms!, steht an der Tür, was hier nicht selbstverständlich zu sein scheint.
Beim ersten Betreten ihres Zimmers kam ihr im Dämmerlicht eine Gestalt entgegen, die so erschrocken wirkte wie sie selbst. Fast hätte sie aufgeschrien, so wie die andere auch. Es war ihr Spiegelbild, das mehr über ihren Zustand verriet, als ihr bewusst war. Auf der Fahrt hatte sie sich ein wenig betäubt gefühlt, doch nicht wie aufgelöst. Beim Blick in den Spiegel sah sie, wie viel Schrecknis in ihr steckte. Ihr bisheriges Leben war nun endgültig vorbei.
Zur Begrüßung peitschte die ganze Nacht Regen gegen ihr Fenster. Wales bedeutet Regen, hatte Mister Pettibone sie gewarnt. Er sollte unrecht behalten. In Wahrheit beherrscht hier der Wind das Leben. Auf dem Hochland mag es wochenlang schütten, am Meer ziehen die Wolken vorbei und bescheren einem in wenigen Stunden vier verschiedene Jahreszeiten. In ihrem ersten Sommer stiegen die Temperaturen in eine Höhe, die halb England ans Meer pilgern ließ. Von heut auf morgen war es vorbei mit der leisen Langeweile, die hier sonst das Leben prägt. Es schien nicht zu stimmen, was Mister Pettibone immer behauptet hatte.
Liegestühle waren angekarrt worden, von weiß Gott woher. Sogar afrikanische Händler waren mit Kettchen und Hawaiihemden die Küste rauf und runter gezogen. Die Leute trauten ihren Augen nicht. Man sprach bereits vom neuen Saint-Tropez des Nordens. Nur der Wind ließ keine wirklich südliche Stimmung aufkommen. Fiel gelegentlich ein Platzregen, rannten die Leute auf die Straße und hopsten herum wie Kinder. Die Bucht hatte ihre gewohnte Ruhe verloren. Manchen gefiel dieses Treiben, vor allem Geschäftsleuten. Das Hotel war ausgebucht, auch Deutsch und Holländisch war rundum zu hören. Schon wuchs in ihr die Angst, es könnten alte Bekannte in der Tür stehen. Sie spielte bereits mit dem Gedanken, diesen Flecken wieder zu verlassen. Doch Mitte August zogen Wolken auf und die Liegestühle verschwanden.
Im Herbst schlugen haushohe Wellen zu ihr unters Dach. Noch heute steht sie in solchen Nächten mit der schaurigen Hoffnung am Fenster, eine Woge würde hereinbrechen und alles überspülen. Eine Spur von Seligkeit mischt sich dann in die fast panische Angst, in den eigenen Wänden von der Wucht dieser Fluten niedergerissen zu werden. Müsste sie zurück an den Bodensee, würde sie diese Naturgewalten inzwischen vermissen. Manchmal kann sie es kaum erwarten, bis das Meer anschwillt und mit seinen Brechern auf die Promenade einstürzt.
Im letzten Winter wurde ein Junge beim Filmen der tosenden Wogen hinausgespült. Zehn, zwölf Schritte vom Küstengeländer entfernt befand er sich auf halber Höhe bis zu den Klippen. Warum die Wellen ihn nicht bergauf gespült haben, bleibt bis heute ein Rätsel. Sie hatte ihn vom Fenster aus beobachtet. Plötzlich war er weg. Anfangs dachte sie, er sei zurückgewichen und den Berg hinaufgerannt. Am nächsten Morgen fand man ihn tot, ein wenig nordwärts in einer Bucht.
Wäre Bruno auf solche Weise verschwunden, man hätte ganz anders um ihn trauern können.
Wenn das braune Gewoge nach Sturmnächten mürrisch hin und her schwappt, hinterlässt es den Eindruck, es habe sich übernommen. Doch man fühlt sich wie erlöst, und sei es, weil der Weltuntergang noch einmal an einem vorübergegangen ist. Aber auch, weil Wind und Wetter einem die eigene Unruhe abnehmen.
Seit einiger Zeit träumt sie von ihrer früheren Katze. Man sieht sie nicht im Traum, sondern hört sie nur, aus weiter Ferne, vom anderen Ende des Meeres, das unter dräuenden Nachthimmeln gespenstisch schimmert. Ein klägliches, forderndes, vorwurfsvolles Maunzen. Vielleicht kommt es gar nicht von ihrer Katze, doch sie denkt sofort an sie. Es steigert sich zu einem Greinen wie von kleinen Kindern.
In den ersten Monaten dachte sie ständig an ihr Zuhause, das kein Zuhause mehr war. Je mehr sie alles vergessen wollte, desto mächtiger drängten sich ihr die immer gleichen Bilder auf, zu denen auch der Blick dieser Katze gehört. Von der Holzbeige herab hatte sie ihr nachgeschaut, als sie zum allerletzten Mal in ihrem Cabrio zum Hof hinausfuhr. Wie alle Katzen tat sie meist so, als existierte man überhaupt nicht, trotz allen Rufens. Doch als sie an diesem Morgen in ihren Wagen stieg, starrte sie ihr richtiggehend nach, so lange, bis sie um die Kurve bog. Als hätte sie gewusst, dass sie nie wiederkommt.
In ihren besseren Zeiten würde sie nicht bloß der Bürgermeister mit großem Trara verabschiedet haben, wenn sie den Lindenhof für immer verlassen hätte. Staatspräsidenten waren einst ihre Gäste und alles, was Rang und Namen hatte. Doch an diesem Tag hatte ihr nur die Katze zugeschaut, wie sie im frühen Morgenlicht für immer verschwand. Das Hoftor ließ sie zum ersten Mal in all den Jahren wagenweit offen. Sollten sie doch alle hereinspazieren, die Wunderfitzigen, die Diebe und Landstreicher, es ging sie nichts mehr an. Sie hatte immer gemocht, wie das Tor ins Schloss fiel und nachzitterte. Es machte den Lindenhof zu einer mittelalterlichen Trutzburg, in der man sich ganz anders beschützt wähnte als in gewöhnlichen Häusern.
Als sie das letzte Stück am See entlangfuhr, zur Linken die Reichenau, zur Rechten ansteigende Wälder, dachte sie: Dreh um und nimm sie mit! Doch etwas in ihr hatte auch eine gemeine Freude, dass für die Katze nun niemand mehr sorgte. Warum sollte nur sie selbst sich mutterseelenallein fühlen? Warum nicht ein bisschen Rache üben, und sei es an ihr?
Schon als sie zum Dorf hinausdüste, überkam sie ein wüstes Triumphgefühl. Sie wünschte nicht nur dem Lindenhof den Untergang, sondern dem ganzen Ort. Auf einmal mochte sie diese Gegend nicht mehr, mit ihrem behäbigen See und ihrem träge machenden Wohlstand, den herausgeputzten Häuschen mit ihren niedlichen Zäunen, den Geranienfenstern, den zufriedenen Leuten und den Alpen im Hintergrund, die in ihrer großmächtigen Starre auch noch fürs Majestätische sorgten.
Das Auto stank nach Hundescheiße. Tags zuvor war sie nach ihrem letzten Gang über die Felder vor dem Einsteigen in einen Haufen getappt. Es stank so bestialisch, dass sie fürchtete, der Händler werde ihr in Basel den Wagen nicht abnehmen oder den Preis herabdrücken. Als vom See nichts mehr zu sehen war, fing sie an zu heulen und hielt auf einem Ackerweg. Übers Lenkrad gebeugt schüttelte es sie am ganzen Leib, so heftig, dass ans Weiterfahren kaum zu denken war. Über den Feldern verscheuchten wild krächzende Krähen einen Bussard, von dem sie nicht einmal lassen wollten, als er in die Wälder abbog. Auf einmal tat ihr die Katze leid.
Warum war sie nicht zu ihr hingegangen, um sie ein letztes Mal zu streicheln? Und jetzt schreit sie im Traum.
Ein paar Stunden später stieg sie in London in ein Taxi, das tatsächlich so aussah wie auf Bildern und in Filmen, nur dass man sich nicht wie in einem Leichenwagen fühlte und nicht durch nächtlichen Nebel fuhr. Sie war noch nie in London gewesen, war überhaupt wenig herumgekommen, hatte ihre Ecke am Bodensee jahrzehntelang kaum verlassen. Wenigstens ein einziges Mal wollte sie die Themse und Big Ben gesehen haben, bevor sie für immer wegging ans Ende der Welt. Mister Pettibone hatte sie gewarnt. Auch die Stirn des Taxifahrers runzelte sich, als sie auf seine Frage, ob es ihr hier gefalle, antwortete: I go to Wales. Er verstummte kurz, drehte sich zu ihr um, zuckte mit den Schultern und fragte halb ungläubig, halb vorwurfsvoll: Why Wales?
Früher hatte Mister Pettibone von Abydyr geschwärmt und lediglich über seinen Onkel geklagt, der dort ein herrliches Hotel verkommen ließ. Jedes Jahr fing er damit an, wenn er um Ostern bei ihnen einkehrte, auf dem Weg zu seinen Zürcher Verwandten, die vermutlich aus Bankkonten bestanden. Waren die anderen Gäste aufgebrochen, blieb sie mit ihm meist noch bei einer guten Flasche sitzen und ließ sich von seiner Kindheit in Wales erzählen, wo er mit seinen Eltern die Sommer verbracht hatte, auf dem Hochland mit Meerblick, in einem Häuschen, das man nur über holperige Wege erreichte und vollkommen einsam lag, mit einer quietschenden Wetterfahne auf dem Dach, einem knarrenden Holztor und tausend Gespenstern. Sein leiser Witz, seine angeborene Eleganz und die Sicherheit des Weltmanns machten Mister Pettibone zum Inbild des Engländers, der mit seiner Filzmütze, karierten Jacke und seinem Einstecktuch einen famosen Landadligen in Filmen abgegeben hätte, die von seltsamen Verbrechen handelten, dabei aber ganz lustig waren.
Sonja, Sie müssten dort das Regiment führen!, hatte er immer gesagt, wenn er auf seinen Onkel zu sprechen kam. Es könnte eine Goldgrube sein, nur lässt er das Hotel verkommen!
Womit Mister Pettibone keineswegs recht hatte. Zwar kümmerte sich der in London lebende Onkel kaum um das Haus, doch es ging dort alles seinen gewohnten Gang. Man hätte es renovieren, umbauen, schicker machen können. Doch wozu? Als sie Mister Pettibone fragte, ob sie dort unterkommen könnte, wurde er nicht nur unwirsch, sondern tat so, als gäbe es dieses Hotel schon fast nicht mehr. Weil sie nicht lockerließ, machte er die ganze Gegend schlecht und rief: Man zieht nur nach Wales, wenn man vom Leben nichts mehr will!
Ihr war vollkommen klar, dass es sich um kein St. Moritz handelte und auch um kein englisches Landschloss, wo man um Punkt fünf die Teezeit zelebrierte und beim Dinner adlige Herrschaften in noblem Tweed bediente. Sie sehnte sich auch nach keiner besseren Gesellschaft mehr. Lange genug hatte sie sich mit dem schleichenden Niedergang kaum abfinden können, inzwischen dachte sie nur noch an Flucht. Die Träume von einer Rückkehr zu den glorreicheren Zeiten waren schon ausgeträumt, bevor Bruno jede Nacht in den Keller hinabstieg. Nicht Stürme waren über sie hinweggefegt, es waren züngelnde Wellen, die alles unmerklich wegbrechen ließen. In drei Jahrzehnten hatte sie mit dem Lindenhof drei gleich lange Akte durchlebt: Aufbruch, Höhepunkt, Niedergang.
Sie hatte gehofft, der Wind würde alle Erinnerungen aus ihr hinausblasen, hinausfegen, hinauswehen. Fing es nachts an zu stürmen, rannte sie in ihrer übers Schlafhemd geworfenen Regenjacke nach draußen und stemmte sich dem heulenden Wind entgegen. Ans Küstengeländer geklammert genoss sie in Todesangst sein Toben, während links und rechts sich Fahnenmasten krümmten und Mülleimer über die Promenade flogen. Sie hoffte, von niemandem gesehen und erkannt zu werden.
Außer ihr rannte nie jemand hinaus, am allerwenigsten nachts, wo jede Hilfe zu spät käme, würde man ins Meer hinausgerissen. Doch immerhin, dieser Wind schüttelt einen durch, nicht nur außen, auch innen, und treibt einem Tränen ins Gesicht, die sich keiner Trauer verdanken. In seiner Raserei verscheucht er die schwersten Wolken und verjagt Gedanken, die einem ständig durch den Kopf gehen. Er kennt nur die Gewalt des Hier und Jetzt und keine Vergangenheit und keine Zukunft. Er erinnert auch an keinen anderen Wind, so wie auch dieses Ufer an kein anderes Ufer erinnert.
Manchmal klang es am Bodensee nachts nach Meeresrauschen, morgens sah man, dass es bloß vom Geraschel der Blätter herrührte. Müsste sie zurück, käme ihr vermutlich alles kleiner vor als früher, der See, die ganze Gegend, selbst das Wetter. Fast wie in Bilderbüchern. Allein die Möwen sind dort bloß halb so groß, und weder zerreißt ihr gellendes Klagen die Luft, noch hallt es wie hier hinaus in unendliche Weiten. Am Bodensee halten sie sich meist in Ufernähe auf, am Meer lassen sie sich mit weiten Schwingen von unbändigen Böen hochjagen und im Sturzflug hinabfallen, in stundenlangem Hin und Her, mit halsbrecherischer Geschwindigkeit, der das Auge kaum folgen kann, kreuz und quer, als müssten sie unablässig zusammenprallen und in die Fluten hinabtaumeln, nur dass nicht das Geringste passiert und rätselhafte Gesetze jede Kollision, jeden Krieg, jeden Konflikt verhindern.
Zuweilen kommt es ihr vor, als habe sie nie dort unten am See gelebt. Als hätte sich eine Fata Morgana in ihre Erinnerungen geschlichen, die ihr Bilder vorgaukelt, wie man sie vom Kino kennt, wo man leicht vergisst, dass es sich um Filme handelt und nicht um Wirklichkeit. Hätte diese Vorstellung nichts Erleichterndes, könnte sie einen verrückt machen. Sie weiß, dass sie mit Bruno den größten Teil ihres Lebens verbracht hat, doch das alles wirkt wie losgekoppelt. Es fühlt sich an, als habe man Gepäck abgeworfen. Mit schlechtem Gewissen. Als dürfe man das nicht.
Natürlich hatte Mister Pettibone nicht unrecht. Im Vergleich mit dem Ocean Bay sieht der Lindenhof wie neu aus. Würde man hier die Kaffeemaschine wegräumen und den Laptop an der Rezeption gegen ein Gabeltelefon eintauschen, könnte man einen Film drehen, der vor dem Krieg spielt. Selbst draußen müsste man wenig verändern und lediglich die Straßenschilder, die Poller, die Autos und bolligen Betonbänke entfernen. Hingen an den Laternen noch Gaslampen, hätte man ein trautes neunzehntes Jahrhundert beisammen.
Auch wenn sich hier andere Gerüche in den Wänden festgefressen haben, erinnern im Ocean Bay die furnierten Türen, die feuchten Flecken an den Wänden und die sumpfig wirkenden, wie aus Moos bestehenden Teppichböden ans Linoleum, ans Bohnerwachs und an die Mottenkugeln aus Großmutters Tagen. Es ist alles anders, aber genauso ärmlich. Könnte man Häusern ein stiefmütterliches Wesen nachsagen, würde dieses Hotel das beste Beispiel abgeben. Den Begriff Luxus kennt man hier nicht, doch es fehlt auch an nichts. Es würde nicht zur Umgebung passen, wenn an der Promenade ein einzelnes Etablissement herausgeputzt wäre und mit Leuchtreklame herausstäche. Es gibt hier kein erstes Haus vor Ort, es gibt nur kleinere und größere und labyrinthisch verwinkelte, bei denen die Treppenhäuser um tausend Ecken stockauf, stockab führen.
Selbst das Essen ruft die Kindheit wach, obwohl es hier keine Dampfnudeln gibt und keinen Ofenschlupfer, jedoch alles, was auf den Tisch kommt, genauso kräftig und deftig ist. Hier steht auch kein durchgesessenes Sofa mit gesprungenen Federn, und auch keine Standuhr tickt Tag und Nacht behäbig vor sich hin, und auch die Tapeten besitzen keine Blumenmuster, doch alles trägt deutliche Spuren der Zeit und wirkt wie verwelkt. Steigt sie abends in ihr Bett, knarrt wie früher der Lattenrost und sie sieht Großmutter neben sich, nur dass sie sich nicht mehr jede Nacht im Dunkeln zum Abort vortastet und mit einem leichten Seichelgeruch zurückschlurft.
Auch meint man hier niemanden rennen zu sehen, sowenig wie in Großmutters Dorf, wo man nur bei Feuerwehrübungen Eile spielte und nur zu laufen anfing, wenn der Bus am Losfahren war. Um des bloßen Rennens willen war dort niemand gerannt, außer Kinder. Nur kann sie sich kaum an Kinder erinnern, sieht man von dem Bauernbuben ab, der Katzen gequält hat. Die meisten dort waren schon immer alt.
Dass Großmutter sterben könnte, kam ihr als Kind lange nicht in den Sinn. Sie schien schon mit Dutt, schwarzem Kopftuch und gebücktem Gang auf die Welt gekommen, sofern sie überhaupt geboren werden musste. Man war dort, was man war, seit je und für immer, wie in Märchen, wo Stiefmütter immer Stiefmütter, Zwerge immer Zwerge und Prinzen immer Prinzen bleiben, auch wenn man sie mitunter in Frösche verwandelt. Sie alle spielten ihre zeitlosen Rollen, gleichgültig was ihnen widerfahren war und noch widerfahren mochte. Nur mit den Bösen nahm es meist ein böses Ende, alle andern lebten fort, wie sie von jeher gelebt hatten, mit mal schlimmeren, mal schöneren Widerfahrnissen.
Früher dachte sie auch von sich selbst, sie würde nie sterben, zumindest ein bisschen. Selbst später konnte sie es nicht ganz glauben, obwohl sie wusste, dass jeder sterben muss. Allerdings hätte sie sich auch nie vorstellen können, dass ihr Leben sich eines Tages von heute auf morgen radikal ändert, mit einem Schlag.
Jahrzehntelang hatte sie eines der ersten Häuser zwischen Bregenz und Basel geführt, mit Dutzenden von Mitarbeitern, denen sie Brot und Arbeit gab. Lehrlinge waren stolz, wenn sie bei ihnen eine Ausbildung machen durften, es bedeutete, sich um die Zukunft keine Sorgen machen zu müssen. Vor ihrem Haus parkten Karossen, wie man sie sonst weit und breit nirgends sah. Den Lindenhof kannte jeder, auch solche, die ihn nie von innen gesehen hatten. Er war das Aushängeschild der ganzen Gegend, und das zu einer Zeit, als es noch nicht überall Sterne regnete und man die deutsche Küche für ein Notstandsgebiet hielt. Sie begrüßten Gäste aus der halben Welt und hätten die Flure mit Fotos berühmter Zeitgenossen bestücken können. Bruno hielt sich immer im Hintergrund, sie dagegen war fürs Repräsentative zuständig, über all die Jahre hinweg.
Die Spüler, die Kellnerinnen, die Zimmermädchen, die Putzhilfen kamen zu niemand anderem als ihr, um sich über ihre Männer, ihre Frauen und Kinder auszuheulen oder über die Kollegen zu klagen. Sie war die Anlaufstelle, die Zuhörerin, die Ratgeberin. Ihr vertraute man. Sie selbst hatte in diesen dreißig Jahren kein einziges Mal bei andern Hilfe gesucht, nur die andern bei ihr. Man nannte sie die Prinzipalin, ein bisschen spöttisch, doch voller Respekt und bloß hintenherum. Sieht man von ihrer Lehrzeit in St. Moritz ab, musste sie sich keinen einzigen Tag vorschreiben lassen, was man zu tun und zu lassen hatte.
Sie genoss das Gefühl, ein wenig über den andern zu stehen, ohne es die Leute spüren zu lassen. Zumindest war ihr nie zu Ohren gekommen, sie würde ihre Angestellten von oben herab behandeln. Doch man musste wissen, was man will. Der Lindenhof war keine Kneipe wie jede andere. Man konnte in einem solchen Haus nicht nur die Freundliche spielen, auch nicht allen Gästen gegenüber. Manche benahmen sich gleich bei ihrem ersten Besuch wie alte Bekannte und kamen einem sofort mit dem Du. Andere meinten mit hanebüchenem Gemäkel den kulinarischen Experten mimen zu müssen, vor allem als man einen Stern hatte. Doch die meisten schwärmten von ihrem Haus, von seiner Atmosphäre und von seiner Küche, über alle Maßen. Sie konnte mit allem und jedem umgehen, je nach Bedarf aber auch von jetzt auf gleich ihren Ton ändern. Sie beherrschte die gesamte Palette, vom Jovialen übers Gemütliche bis zum Strengen. Es machte Freude, die Register zu wechseln. Der Lindenhof war ihre Bühne.
Und dann war sie über Nacht zum Nichts geworden. In einem Alter, wo andere sich langsam zur Ruhe setzen und das Erreichte genießen. Mit zweiundsechzig musste sie wie eine Siebzehnjährige Bewerbungsschreiben aufsetzen und erniedrigende Telefonate führen, in der Hoffnung, noch irgendwo unterzukommen. Wäre sie irgendwo genommen worden, hätte sie plötzlich nach der Pfeife anderer tanzen müssen. Sie könnten doch Gesellschafterin werden!, schlug Mister Pettibone vor. Er lebte in einer anderen Welt. Wo sollte sie eine betuchte Dame finden, die beim Nachmittagstee unterhalten und in die Oper begleitet werden wollte? Um die Stelle nicht zu verlieren, hätte sie ihr am Ende noch nach dem Mund reden müssen, und das in einem Alter, wo sich die eigenen Ansichten nur mehr schwer verbergen ließen.
Andere dachten mit Anfang sechzig ans Reisen und Nichtstun. Ihr blieb nur eine nie gekannte Selbsterniedrigung. Außer ihrem Kleiderschrank besaß sie nichts mehr.
In die Schweiz gab es noch lose Verbindungen, die aber seit Jahren nicht mehr gepflegt worden waren, aus guten Gründen. Könnte sie in die Schweiz verschwinden, müsste die Scham nicht so groß sein, dachte sie. Dort begegnest du keinen alten Bekannten vom Bodensee, sagte sie sich, und zwar schon deshalb, weil die Schweiz selbst für Bessergestellte zu teuer geworden ist. Dafür hätte sie dort deutlich mehr verdient als zwischen Konstanz und Kiel. In den noblen Adressen von St. Moritz, Davos und Gstaad musste man sich als Rezeptionsdame keineswegs klein vorkommen, auch nicht in ihrem Alter. Bestenfalls, dachte sie, bekomme ich sogar eine Stelle als Maître d’hôtel. In der Schweiz hatte sie Bruno kennengelernt, es wäre eine Rückkehr geworden. Ein großer Bogen Zeit hätte sich zu den Anfängen zurückgekrümmt. Sie hätte Bruno die Treue gehalten.
Ihr kam Herr Jockelmann in den Sinn. Mit Mitte siebzig hatte er in Sils noch ein ganzes Haus im Griff, eine Pension mit Gaststube an der Hauptstraße zwischen der Kirche am Ortseingang und dem berühmten Waldhaus. Mit Bruno war sie einige Male bei ihm eingekehrt, nicht des Essens wegen, sondern weil er ihnen eines Abends unter der Tür zugerufen hatte: Bitte sehr, meine Dame, Sie sind herzlich willkommen, ihr Freund muss allerdings draußen bleiben!
Er galt als Attraktion. Alle fürchteten seine Sprüche, doch keiner wollte sie verpassen. Die Leute strömten regelrecht zu ihm in die Wirtsstube. Jeder wurde drangenommen, mancher verließ mit hochrotem Kopf das Haus und wollte sich beschweren. Doch bei wem? Herr Jockelmann erkannte auf den ersten Blick, wer von seinen Gästen den Weinkenner spielte, wer seinen auf dem Parkplatz präsentierten Porsche mühsam abstottern musste, wer seine Gattin oder den Gatten insgeheim unter die Erde wünschte. Einst hatte er im Berner Bellevue Königin Elizabeth das Frühstück serviert, im Genfer Beau-Rivage Staatschefs aus aller Welt begrüßt und nach seiner Zeit in Gstaad das Rentnerdasein genossen. Sein Lebtag lang musste er Bücklinge machen, nun gab es nichts mehr für ihn zu verlieren. Arbeiten hätte er seit Jahren nicht mehr müssen, doch er wollte auch nicht die späte Freiheit missen, den Leuten endlich ins Gesicht sagen zu können, was er von ihnen hielt.
Natürlich wollte sie kein zweiter Herr Jockelmann werden, es hätte ihrem Wesen auch gar nicht entsprochen. Dass man diesen Mittsiebziger jedoch intensiver in Erinnerung behielt als alles, was einem sonst an Wirtsleuten untergekommen war, ließ Hoffnung aufkeimen.
Ihr blieb nichts anderes, als den Hörer in die Hand zu nehmen. Sie schob es hinaus, von Tag zu Tag.
Nachts hört man den Wind nicht nur, er treibt einen regelrecht im Bett hin und her. Nach einer Weile fühlt man sich von seinen Stößen wie erschöpft, ohne Schlaf zu finden. Auch wenn man ruhig daliegt, schüttelt er einen mit seinem immer neuen Gestöhn, seinen immer neuen Angriffen, seinen immer neuen Richtungswechseln.
Auf der Kreuzfahrt mit Bruno erlebten sie beide, wie das Schiff mit den Wellen mitging. Häuser dagegen scheint der Wind jähzornig zu machen, weil sie Widerstand leisten. Legt er sich für ein paar Augenblicke, wagt man kaum aufzuatmen, da er nur Luft für neue Überfälle holt. Inzwischen traut sie sich in solchen Nächten nicht mehr hinaus.
Zwei, drei Tage nachdem sie hier war, marschierte sie, die Sandalen in der Hand, wie ein Kind barfuß am Strand zu den schrofferen Klippen hinüber, die anders als die südlichen nicht schräg abbröckeln. Um nicht zu weit ins Wasser zu geraten, klomm sie am Ufer über Felsvorsprünge, hinter denen sich kleine Buchten auswölbten, in deren Steilhänge hin und wieder Höhlen führten.
Sie merkte nicht, wie das anfangs nur leise schmatzende Wasser immer geschwinder heranschlich, näher und näher rollte und unversehens den Streifen Kies verschluckte, der eben noch einen weiten Steinwurf ins Meer hinausreichte. Während sie sich in einer Höhle umsah, kroch das eben noch arglos wirkende Wellengekräusel wie im Nu heran und schwoll zum schäumenden Gewoge an, das mit spritzender Gischt auf die Klippen zustürmte. Sie glaubte, das Wasser würde sich so langsam voranarbeiten, dass es Stunden bräuchte, bis es am Fels hochsprang. Als sie losgelaufen war, sah alles harmlos aus, plötzlich gab es kein Ufer mehr. Auf einmal lockte gewaltiges Rauschen sie aus der Höhle, wo sie sich traumverloren in menschenferne Vorzeiten hineinphantasiert hatte.
Das Wasser schwappte bereits herein, die Flut umklatschte die Felsbänke, von denen nur mehr die Kuppen herausschauten. Jeder Rückweg war versperrt. Sie zitterte am ganzen Leib und musste sich zusammenreißen, um nicht zu heulen und zu schreien. Das Kliff stieg steil an und wölbte sich oben zur See hinaus. Längst brandete die Flut viel zu unruhig hin und her, als dass man noch durchs Wasser hätte zurückstaksen können. Ihr blieb nur, ein Stück hinauszuschwimmen, um die Felsvorsprünge mit ihren Kuppen und unsichtbar gewordenen Spalten zu umrunden. Schon auf dem Herweg hätte sie sich beim Abrutschen übers glitschige Gestein den Fuß verstauchen können, inzwischen ahnte man nicht einmal mehr, wohin man trat.
Während immer wuchtiger werdende Brecher sie gegens Kliff zu drücken drohten, konnte die Unterströmung sie beim Schwimmen ins Meer hinausspülen. Sie verstand nichts von diesen Gefahren, meinte aber zu wissen, dass die Flut nicht nur zum Land drängt, sondern beim Rückfluss alles mit sich reißt. Bei der Notfallübung zu Beginn ihrer Kreuzfahrt hatte es geheißen, draußen auf hoher See könne einem so gut wie nichts passieren, weil in Windeseile Helikopter zur Stelle seien. Gefangen zwischen Meer und Klippen, sah es ganz anders aus.
Nie war sie eine gute Schwimmerin gewesen. Um Großmutters Dorf herum gab es keine Baggerseen, und die Donau war zu dreckig zum Baden. Was also tun? Die Kleider der Flut überlassen, um leichter voranzukommen? Sich mit der nass am Leib klebenden Unterhose bei der Rückkehr nach Abydyr zum Gespött machen, gleich ein paar Tage nach ihrer Ankunft? Mit aller Kraft um Hilfe rufen, in der Hoffnung, während der ruhigeren Rückflutphasen das Traktortuckern eines Bauern im Hochland zu übertönen? Oder im hintersten Winkel der Höhle aufs eigene Ende warten?
Sie stürzte sich ins Gewoge, ließ sich immer wieder ein Stück mittreiben, in die eine wie die andere Richtung. Als erstes rissen die Wellen ihren Fotoapparat fort, der zu dem wenigen gehörte, was sie nicht am Bodensee zurückgelassen hatte. Beim Versuch, ihn zu retten, stieß sie sich den Kopf an etwas Spitzem und klemmte das linke Bein in einer unsichtbaren Furche ein. Auch die Sandalen waren verloren, und ihr Umhang schwamm davon. Doch entlang der noch herausschauenden Felsbänke konnte sie sich zur benachbarten Bucht vorarbeiten, die ein Stück tiefer ins Land reichte und einen Streifen Ufer freigab. Mit klatschnassem Rock, durchtränkter Bluse, verstauchtem Fuß und blutender Stirn hinkte sie nach Abydyr zurück, wo sie sich vor dem Ortseingang zwischen Gebüsch versteckte, bis es dunkel wurde.
Bei ihren Anrufen in der Schweiz erinnerten sich einige, dass der Lindenhof einmal zu den besseren Adressen gehört hatte. Anderen sagte der Name Bruno Bräuning rein gar nichts.
Den Herren und Damen, die fürs Personal zuständig waren, erklärte sie am Telefon: Ich möchte mein Hotel und mein Restaurant verpachten und würde mit meiner Erfahrung gerne noch einmal in einem so wunderbaren Haus wie dem Ihren zum allgemeinen Gelingen beitragen. Es war entsetzlich, wie gestelzt sie auf einmal daherredete und sich dabei wie jemandem zuhörte, der einem auf die Nerven ging. Doch sie fand aus diesem geschraubten Geschwätz nicht hinaus, es fielen ihr keine besseren Formulierungen ein. Sie wusste auch, woran es lag: Sie war zur Aschenputtel geworden, musste diese Wahrheit aber mit allen Mitteln verbergen.
Erst spät hatte Bruno ihr erzählt, wie wenig seine Mutter von seiner Brautwahl begeistert war. Schon bei ihr war das Wort Aschenputtel gefallen. Auch hier schloss sich ein Kreis.
Nach Andermatt wurde sie sogar eingeladen und an einem Frühlingstag mit aller Zuvorkommenheit empfangen. Sie hatte, wie seit Jahren nicht mehr, ihr kleines Schwarzes angezogen und Rouge aufgetragen. Der Personalchef hatte sie zum Mittagessen eingeladen. Beim Blick auf die weißen Gipfel versuchte sie sich einzureden, alles könne sein wie früher. Sie sah Bruno aus der Küchentür treten, ein wenig gealtert und doch noch so jung, als könnte man dort oben von vorn anfangen. Der Bodensee, stellte sie sich vor, wäre nur eine Zwischenphase gewesen, ein Traum mit schlechtem Ausgang, der wie alle Träume etwas Unwirkliches besessen hatte. Der wahre Anfang, dachte sie, wäre noch gar nicht gemacht, das Leben schien wieder vor ihr zu liegen. In ihrer Phantasie gehörte ihr das alles bereits, nicht nur das Hotel, auch die Welt drum herum. Nicht sie sollte hier Rede und Antwort stehen, die andern hatten sich nach ihr zu richten. Es war ihr Kosmos, in dem sie walten und schalten konnte, wie sie wollte. Diese andern wussten es nur nicht. Es handelte sich um ein Missverständnis. Die Rollen waren vertauscht worden, von wem auch immer, fälschlicherweise. Man müsste die Wirklichkeit nur um ein weniges zurechtrücken, und alles wäre wie einst.
Schon während der Vorspeise goss der Personalchef ihr ständig Wein nach und trank selbst nur Wasser. Er neigte seinen Kopf zur Seite und wollte ihre Geschichte hören. Sie gab sich Mühe, mit fester Stimme zu sprechen. Was sollte sie ihm erzählen? Wo anfangen? Sie hatte keine Geschichte zu erzählen, sie suchte eine Stelle. Was wollen Sie hören?, hatte sie ihn gefragt und ihre Frage sogleich bereut. Sie klang ein wenig frech. Als hätte nicht er das Gespräch zu lenken, sondern sie. Wovon keine Rede sein konnte. Sie musste sich zusammenreißen. Und trotzdem souverän wirken.
Wieder goss er ihr Wein nach, obwohl sie nur genippt hatte, und wieder neigte er seinen Kopf zur Seite. Warum stellte er keine Fragen? Einfache, konkrete Fragen. Nach ihrem Alter, nach ihren Fähigkeiten. Sie hörte sich reden. Es hätte auch jemand anderer sein können, den sie da reden hörte. Sie kam sich vor wie in der Schule. Mit zweiundsechzig. Als sei sie nie erwachsen gewesen. Was sie sich nicht anmerken lassen durfte. Du musst souverän wirken, sagte sie sich. Was sie sprach und was ihr durch den Kopf ging, waren zwei völlig auseinanderlaufende Dinge. Sie hätte auch über Gedichte reden können oder über Geschichte, ohne jeden Sinn und Verstand. Hauptsache, die Stimme versagte nicht. Hauptsache, du wirkst souverän!, sagte sie sich.
Sie sagte es sich so lange, bis ihr Rotweinglas beim zittrigen Zurückstellen über das Trüffelrisotto ihres Gegenübers kippte und die herbeigesprungenen Kellner sie beim Auswechseln der Tischdecke wie eine tatterige alte Dame behandelten, die nicht merken sollte, dass man sie für tatterig hielt. In ihrem Kopf drehte sich alles nur noch um die Frage, wie sie schnellstmöglich verschwinden könnte, ohne zuvor in einen Heulkrampf auszubrechen oder in irres Gekicher. Die ganze Zeit schon meinte sie, ein lauter werdendes Surren zu vernehmen, während die Stimmen um sie herum immer weiter wegrückten. Sie hatte Mühe, ihr Gegenüber überhaupt noch zu verstehen, und versuchte seine Lippen zu lesen. Zwischen ihr und den andern schien der Raum sich zu vergrößern und bloß noch aus einem Summen und Brummen zu bestehen, das alles ungreifbar machte.
Nicht nur in Andermatt, auch bei ihren Telefonaten spielte sie den Personalchefs ein Schmierentheater vor. Manchmal behauptete sie, fünfundfünfzig zu sein, wohl wissend, dass sie im Falle einer möglichen Einstellung als erstes ihre Papiere hätte vorlegen müssen. Dass sie aus freien Stücken eine Stelle im Servicebereich suchte, glaubte ihr ohnehin niemand, egal ob sie noch in ihren Fünfzigern war oder schon in ihren Sechzigern. Sie verstand nicht einmal die vielen Fachbegriffe, die inzwischen gang und gäbe zu sein schienen. Weder gab es im Lindenhof einen Restaurantmanager noch einen Commis de Rang und auch keinen Buchungskanal und keinen Kommunikationsfachmann. Sie kam von einem anderen Stern, aus einer anderen Zeit. Was Front Office bedeutete und was Reservation Agent, ließ sich zwar erahnen, doch zu Hause fühlte sie sich in dieser neuen Wörterwelt nicht.
Je länger sie mit diesem Herrn am Tisch saß, desto verstörter schaute er sie an. Er wollte es sich nicht anmerken lassen, doch man hätte blind sein müssen, um nicht sein Mitleid zu spüren und nicht sein Kopfschütteln zu sehen, das er mühsam unterdrückte.
Sie hatte früher im Büro immer eine Halbtagskraft gehabt und ihre letzte zweistündige Fortbildung gemacht, als man vom Fax auf Email umstellte und lernen musste, wie man mit Computern umging. Alle späteren Neuerungen waren an ihr vorbeigegangen. Im Lindenhof gingen die Uhren noch langsamer, was die Gäste zu schätzen wussten. Es gab dort wie seit Jahrhunderten einen Küchenchef und eine Hausherrin, Kellner und Oberkellner, Spüler und Putzhilfen und Lehrlinge, die man inzwischen Auszubildende nannte. Alles andere war unbekannt.
Wo würden Sie selbst sich in unserer Hierarchie sehen?, wollte der Herr in Andermatt beim Nachtisch als letztes von ihr wissen. Er war erbarmungslos sachlich, dieser Mann. Sie wunderte sich, dass er bei solchen Fragen nicht schmunzeln musste, konnte darüber aber nicht mehr nachdenken, weil sie nur noch damit beschäftigt war, alles in sich niederzuhalten, was zu einem Anfall oder zu einem Ausbruch drängte. In ihrer Phantasie sah sie schon Gestalten in weißen Kitteln auf sich zurennen, die sie auf eine Pritsche fesselten und abtransportierten. Sie klappte ihre Handtasche zu, stand auf und bedankte sich.
Gestern hat man einen Metzger ins Gefängnis gesteckt, nachdem entdeckt worden ist, dass er regelmäßig Schafe gestohlen hat, bei Nacht und Nebel. Auf die Frage, was ihn dazu gebracht habe, soll er geantwortet haben: Weil meine Mama tot ist.
Niemand redet in der Bar über diesen Vorfall, obwohl es in der Zeitung heißt, dieser Metzger sei aus Abydyr. Vielleicht kennt sie ihn vom Sehen.
Sie hat bloß mitbekommen, wie sich Gäste über einen abmontierten Briefkasten geärgert und über die Post geschimpft haben. Es sei shocking, haben sie gesagt. Shocking!
Warum brauchen sie so dringend einen Briefkasten gleich um die Ecke? Wem schreiben diese Leute, und wohin?
War sie früher wirklich eine Furie? Sie musste ein erstklassiges Haus zusammenhalten! Und was heißt schon Furie? In seiner Wut hatte Bruno ihr dieses Wort ein paar Mal an den Kopf geworfen. Auch er hatte früher seine Ausbrüche. Stille Wasser sind nicht nur still. Sie beide waren im Lauf der Jahre zahm geworden. Doch es gab Zeiten, in denen sie gehofft hatte, den Karren noch herumreißen zu können. Mit Geduld allein wäre so etwas nicht gegangen. Manche Angestellte schwätzten lieber, als dass sie schafften. Dafür wurden sie nicht bezahlt. Wo in der Welt ging es schon ruhig zu hinter den Kulissen, wenn man zu den Besten gehören wollte? In Frankreich hatte sich einst ein Koch umgebracht, weil für ein Bankett eine Lieferung Fisch nicht rechtzeitig eingetroffen war. Diese Geschichte hatte man sich in St. Moritz jeden Tag erzählt. Im Grunde bestand daraus die Ausbildung.
Jene Herrschaften, denen sie mitunter die Leviten las und die Meinung sagte, würden sie heute nicht wiedererkennen. Gewiss gab es eine Menge Schadenfreude, als sie schließen musste. Wahrscheinlich genießt man es immer ein bisschen, wenn einer stürzt, und sei es, weil man nicht selbst betroffen ist. Natürlich gibt das niemand zu. Vielleicht spüren manche von ihrer Schadenfreude auch gar nichts. Weil sie davon nichts spüren wollen.
Sie war mit leeren Händen in den Lindenhof gekommen und dann dreißig Jahre lang die Herrin. Weder hatte sie eine Erbschaft eingebracht noch sonst viel vorzuweisen.
Wen hat man da wohl bestochen, damit der Kohl mit dem Chirac kommt?, hieß es seinerzeit. Der Kohl lädt seine Leute sonst doch in die Pfalz zum Saumagen ein!
Früher oder später kam ihr alles zu Ohren. Es gab auch Stimmen, die sagten: Wozu braucht man hier einen Sterneschuppen für Auswärtige?
Sind jetzt auch meine Neider versöhnt mit mir?, fragt sie sich. Und sei es durch ein Mitleid, hinter dem Genugtuung steckt?
Schaut sie aufs Meer, sieht sie am andern Ende die Grabsteine, zu denen Bruno eines Tages so schnell wie möglich pilgern wollte. Er wollte weder nach New York noch nach Kalifornien und auch nicht in die Rocky Mountains, er wollte in ein Kaff namens Rockport, in dem es einen uralten Friedhof gab am Meer. An Amerika interessierte ihn einzig und allein dieser Ort. Er hatte die Gräber in einer Illustrierten entdeckt. Die Inschriften ließen sich kaum entziffern. Hätte er den Namen Browning auf einem Grabstein gelesen, der in Neuseeland steht, wären sie nach Neuseeland geflogen. Doch dieses Grab stand in Rockport, anderthalb Fahrstunden von Boston entfernt. Es war die einzige größere Reise, die sie in ihrem Leben unternommen hatten, sieht man von ihrer Kreuzfahrt ab.
Gegen Ende seines Lebens entwickelte Bruno im Weinkeller eine reiche Phantasie. Auf einmal besaß er Vorfahren in Amerika, die zu den ersten Siedlern gehört und sich vielleicht sogar auf der Mayflower befunden hatten. Plötzlich lagen an der amerikanischen Küste Verwandte von ihm unter der Erde aus den Zeiten der Pilgerväter.
Jeder Ahnenforscher hätte sich totgelacht. Dass es auf der Welt Abertausende von Brownings gibt, von denen wahrscheinlich kein einziger mit den Bräunings vom Bodensee verwandt ist, ließ sich ihm nicht vermitteln. Browning und Bräuning! Für ihn stand der Zusammenhang fest, ohne Wenn und Aber. Er musste einem in die Augen springen! Du wirst schon sehen!, beschwor er sie wochenlang.
Zuerst dachte sie: Lass ihn spinnen, solang es nichts Schlimmeres ist. Lass ihn seinen gruftigen Irrsinn ausleben, solang man von seinen Verrücktheiten tagsüber nichts merkt. Langsam aber begann sie zu fürchten, es könnte sich um ein Delirium tremens handeln, schließlich bediente er sich seit einiger Zeit nicht mehr nur aus den Weinregalen, sondern auch aus der Grappa-Ecke.
Andererseits, warum sollte sie ihm seine fixe Idee ausreden? Man musste froh sein, dass er überhaupt wieder einen Fuß vor die Tür setzen wollte. Sie selbst konnte ihn schon lange nicht mehr aus seinem Kellerloch hervorlocken, schon gar nicht hinaus vors Haus. Und wann hatten sie beide je ein Flugzeug bestiegen? Wann das Meer gesehen, außer auf dieser Kreuzfahrt, bei der Bruno von morgens bis abends in der Kombüse schwitzte? Sie kannten fast nur den Bodensee, auf den sie seit dreißig Jahren schauten.
Ein bisschen mochte sie an ihm sogar diesen plötzlichen Wahnsinn. Er schien Schwung in ihr Leben zu bringen, auch wenn der Grund aus nichts als Grabsteinen bestand.
Wenige Stunden nach ihrer Landung liefen sie zwischen den halb verfallenen Steinen herum, in denen Bruno seiner Ahnen ansichtig zu werden meinte. Nach der abendlichen Ankunft in Boston hatten sie am Flughafen ein Hotel genommen und gleich am nächsten Morgen den ersten Zug nach Rockport bestiegen, wo für vier Tage ein Zimmer reserviert war.
Wäre es nach ihr gegangen, hätte man einen Umweg über New York gemacht. So viel Zeit haben wir nicht, hatte Bruno gesagt. Sie konnten nicht zwei Wochen den Lindenhof schließen, zumindest nicht mitten im Herbst. Und deshalb bestand ihr einziges Ziel aus einem verfallenen Friedhof am Meer.
Immer hatte sie sich geschämt, zugeben zu müssen, dass sie noch nie in Amerika war. Allerdings ließ sich nach dieser Reise schwer behaupten, man kenne jetzt Amerika. Man hatte amerikanischen Boden betreten, von Amerika jedoch so gut wie nichts gesehen. Warum sie sich nicht dagegen gewehrt hatte, dass man gleich für vier Tage ein Hotel buchte in diesem Kaff, war ihr jetzt selber unbegreiflich. Wahrscheinlich dachte sie nur: Das Meer! Man hörte so viele Leute von der Ostküste schwärmen. Von der Ostküste und von Kalifornien. Alles, was dazwischenliegt, kannst du vergessen, hieß es immer.
In der Normandie hätten sich ohne Mühe ähnlich triste vorwinterliche Orte finden lassen. Bei warmem Wetter war Rockport gewiss ganz schön, doch Anfang November herrschte dort Totensonntagstimmung. Bruno fühlte sich in Rockport schon daheim, bevor sie aufgebrochen waren. Früher hatte ihn Amerika nicht im Geringsten interessiert. Früher hatte er nur gesagt: Die können nicht kochen! Doch auf einmal schien sein Leben an Sinn zu gewinnen, weil er dort drüben einen wild herbeigezauberten Urgroßonkel zu finden meinte.
Sie selbst hätte weit bessere Gründe gehabt, in Amerika nach Verwandtschaft zu suchen. Es hätte sich nicht um jahrhundertealte Leichen gehandelt, sondern um einen Vater und eine Mutter, die vielleicht noch irgendwo zwischen San Francisco und Boston herumspazierten. Nie konnte Bruno begreifen, dass sie ihre Eltern nie kennenlernen und nie herausfinden wollte, wo und ob sie noch lebten. Er wollte nicht verstehen, dass man sich für Leute, die nie für einen existiert haben, nicht interessiert. Jeder Fremde, mit dem man im Zug ein paar Sätze wechselt, ist einem näher. Man vermisst nicht, was man nie gekannt hat. Man sucht nur, was einem fehlt, hatte sie sich stets gerechtfertigt. Großmutter war ihre Mama gewesen. Grund genug, nicht nach der Mutter zu fragen. Am Ende hätte sie ihr noch das Gefühl vermittelt, es würde etwas fehlen und sie ihr nicht genügen. Und eines Tages war es zum Fragen zu spät.
Erst später drängten sich Fragen auf, die damals keine Fragen waren und aus denen sie keine Fragen machen wollte. Es waren nicht ihre Fragen, es waren die der andern. Wozu sich mit Dingen belasten, die einen nie belastet haben?
Oder mache ich mir etwas vor?, fragt sie sich manchmal.
Eigentlich bestaunt sie Mutters Mut und ihre Rücksichtslosigkeit. Was sonst brächte eine junge Frau vom Land dazu, einfach abzuhauen und das Kind bei der Großmutter zurückzulassen? Diese Gnadenlosigkeit ist zu bewundern. Die Gnadenlosigkeit einer Mutter nicht nur dem Kind gegenüber, sondern gegen sich selbst. Doch was heißt schon Mutter? Sie hatte sie ja lediglich geboren. Ihr Leiden muss weit schlimmer gewesen sein als das des Kindes, sie selbst kann sich schließlich an keine Verlustgefühle erinnern. Vielleicht war aber auch alles ganz anders.
Im Internat hatten die Nonnen ihr erzählt, dass der Mann, mit dem sie sich davongemacht hatte, ein Amerikaner war, ein Soldat aus den Barracks. Sie hatte dieses Wort gelegentlich auf Schildern gelesen, an der Autobahn oder wo auch immer. Es klang schön und ein bisschen brutal. Mutter hatte in den Barracks in der Wäscherei gearbeitet, wie man ihr später erzählte.
Sie wollte von all dem nichts wissen. Die Nonnen belästigten sie mit Geschichten, die sie nicht hören wollte. Eines Tages wurde sie zur Schwester Oberin bestellt, die in ihrer großmächtigen Leibesfülle hinter dem Schreibtisch thronte und nach einer beklemmenden Weile nahezu flüsternd zu ihr sagte: Du weißt doch, dass bei dir etwas nicht stimmt.
Sie hatte gehört, was sie sagte, und es zugleich nicht gehört. Sie war sich nicht sicher, ob dieser Satz tatsächlich aus dem Mund der Schwester Oberin gekommen war. Es hätte sich auch um eine Täuschung handeln können oder um einen Windzug, der zischelnd vorüberhuschte. Vielleicht habe ich mit offenen Augen geträumt und der Mund der Oberin hat sich bloß stumm bewegt, hatte sie überlegt. Je länger dieser Satz jedoch im Raum stand, desto größer wurde er. Er fing an zu dampfen vor Unwirklichkeit. Er entbehrte jeden Sinn. In seiner Leere hallte etwas Schauriges nach.
Sie fühlte sich schuldig, ohne zu wissen warum. Die Schwester Oberin trug ihr auf, in den nächsten Ferien mit Großmutter über diese Dinge zu reden. Doch Großmutter schwieg sich über diese Dinge aus. Über Dinge, von denen ihre Enkelin nicht wusste, um welche es sich handelte. Natürlich ahnte sie, worum es ging, doch je mehr sie davon ahnte, desto weniger wollte sie davon wissen.
Manchmal fing Großmutter an zu weinen. Sie weinte um ihren Sohn, der auf der Krim vermisst war und im Unterschied zu seiner Schwester nie Schande über ihr Haus gebracht hatte.
In Amerika ertappte sie sich, wie sie in den Gesichtern alter Leute nach Spuren von sich selbst suchte. Es hätte sich um so gut wie alle Weißen über achtzig handeln können, vorausgesetzt, dass die beiden noch lebten.
Die meisten Grabsteine waren umgekippt oder steckten schräg in der Erde. Zwischen dem schlafenden Hafen, verlorenen Häusern und einer an der Bucht endenden Straße stapften sie an Halloween über einen matschigen, zur Bucht abfallenden Grasacker, auf dem schwarze schmucklose Steine herumstanden, ohne jede Einfriedung, ohne jede Ordnung, querbeet durcheinander, seit Jahrhunderten Stürmen und salziger Luft ausgesetzt. Bruno beugte sich zu jedem einzelnen hinab, glitt mit der Hand über die Inschriften, versuchte aus den verwitterten Buchstaben Namen herauszulesen, murmelte Wirres vor sich hin und schien Rechnungen anzustellen. Der Name Browning war nirgends zu finden.
Um nicht stundenlang frierend herumzustehen, trotteten sie durch die Gassen mit ihren gruselig geschmückten Häusern, über die riesige Spinnweben gespannt und die mit Kürbisgeistern, Totenschädeln, Drachen und Fledermäusen drapiert waren. Kein Mensch war unterwegs, der Ort wirkte nicht nur verschlafen, sondern wie ausgestorben. Hier und dort war ein Zimmer von gelbem warmem Licht erhellt, ohne dass sich etwas regte. Alles schien verschwunden. Bloß in der Hafengegend hatten zwei, drei Kneipen auf, um die herum es genauso still war wie überall.
Immer wieder kehrten sie zu den Gräbern zurück und stapften über den aufgeweichten Grasacker. Obwohl er längst alle Steine durchgegangen war, hoffte Bruno bis zuletzt, den gesuchten Browning zu finden. Als die Dämmerung vollends die Namen auslöschte, sackte er in sich zusammen, als sei die ganze Reise umsonst gewesen. Doch auf ihn warteten noch drei weitere Tage, an denen er seine Suche von morgens bis abends fortsetzen konnte.
Auf der Herfahrt waren sie in einem überfüllten Zug zwischen lauter Halloween-Gestalten in schwarzen Umhängen mit aufgedruckten Skeletten, Totenmasken und Punkfrisuren eingepfercht. Es herrschte keinerlei ausgelassene Stimmung. Sie alle schienen sich zu sammeln und wirkten seltsam nachdenklich. In Salem leerte sich der Zug bis auf den letzten Platz, die restliche Fahrt am Meer entlang hatten sie den ganzen Waggon für sich. Sie hatte sich Amerika anders vorgestellt, weniger ländlich, weniger bedrückend. Zwischen größeren Tümpeln tauchten Kleinstädte auf, deren Holzhäuser besseren Hütten glichen. Selbst die grüne Ebene sah grau aus an diesem Tag, der seit morgens nicht hell werden wollte.
Abends schauten sie in einem Café aufs dunkelnde Meer, über das der Himmel ein nächtlich leuchtendes Blau wölbte. Zum Ende des Tages präsentierte sich die Bucht in märchenhaftem Abschiedslicht.
Hier könnte man leben, murmelte Bruno im Café vor sich hin. Sie glaubte, nicht richtig zu hören. Er sagte es so leise, als sollte sie es hören und nicht hören zugleich. Er wiederholte es noch ein paar Mal, in kleineren und größeren Abständen, ohne sie anzuschauen. Vor ihr stand eine Suppe, die sie zu Hause in den Abguss geschüttet hätte. Bruno wollte diesen Brei aus Mehlschwitze, Kartoffeln und Muscheln daheim sofort auf die Speisekarte setzen.
Stundenlang waren sie im Niesel herumgelaufen und hatten an Cottages hinaufgeschaut, die mit Mühe Wind und Wetter standhielten. Ein gelb gestrichenes war zum Verkauf angeboten, unweit vom Hafen, mit kleinen Erkern und ohne Veranda. Bruno fotografierte es, von vorn und von hinten, aus allen erdenklichen Blickwinkeln. Es war ein netter Bretterverschlag mit Schindeldach, der sich windschief zur Straße neigte.
Sie hatte ein alt gewordenes Kind auf einer absurden Reise begleitet, dem man seinen Spleen gönnte. Vor dem Rückflug hatten sie sich in Boston noch die wie neu aussehende, nachgebaute Mayflower angeschaut. Vier Monate später war Bruno tot.
Sie mag die leeren Nachmittage, an denen in der Bar ein, zwei stumme Gäste sitzen, die auf nichts anderes warten als auf das langsame Vergehen der Zeit, während leise der Fernseher läuft. Sie hat sich an das ständige Geflimmer mit den ewigen Autorennen, Fußballspielen und Werbespots gewöhnt, ohne das hier kein einziger Pub auskommt. Läuft es auf Walisisch, versteht sie nach wie vor kaum ein Wort und muss an Mister Pettibone denken, dessen eleganter englischer Singsang hier snobistisch wirken würde, zumal bei seiner hohen Stimme, mit der er diese rauen, steinigen, rollenden Laute nicht einmal nachäffen könnte, in denen sich das Wetter und die felsige Landschaft spiegeln. Aus lauter Angst, nicht zu wissen, was er hier mit ihr anfangen sollte, muss Mister Pettibone vergessen haben, dass er sie einmal besuchen wollte.
Früher gab es ständig etwas zu tun. Vor dem Frühstück ging sie den Tagesplan durch, nach dem Frühstück begann man mit der Vorbereitung des Mittagessens, nach dem Mittagessen mit der Vorbereitung des Abendessens, danach musste man wieder alles fürs Frühstück herrichten, gar nicht zu reden vom Hotelbetrieb, den stetigen Telefonaten, dem Hin und Her der Gäste mit ihren Fragen und Plagen, Reservierungen und Stornierungen. Dabei ging es bei ihnen noch gemütlich zu, zumindest nach außen hin, obwohl man versuchte, an allen Enden und Ecken Personal zu sparen. Schlimm genug, dass man am einen Tag einen Klempner, am andern einen Elektriker, am dritten den Computerfritzen brauchte, weil wieder einmal alles abgestürzt war, ganz zu schweigen von plötzlichen Krankheitsfällen, die nicht nur in der Küche schiere Panik auslösten.
Hier dagegen ist manchmal tagelang kein einziges Zimmer belegt, oder die Bar schließt bereits um acht, weil keine Gäste mehr zu erwarten sind. Mister Pettibone hatte ihr nichts Falsches versprochen. Die Tage gleichen sich wie das Meer mit seinem stärkeren und schwächeren Gewoge.
Niemand aus ihrer alten Welt weiß, dass sie hier ist. Weder hat sie eine Adresse hinterlassen noch eine Telefonnummer, noch sonst etwas, und auch keinem erzählt, wohin sie geht, auch nie eine Karte oder einen Gruß verschickt. Dass keiner weiß, was aus ihr geworden ist, lässt sie beinahe jauchzen. Am Ende bekäme sie noch Besuch, müsste als Ausflugsziel herhalten, erneut die Gastgeberin spielen und in ihre alte Rolle zurückschlüpfen, nur unter erbärmlicheren Bedingungen, zumindest in den Augen ihrer früheren Bekannten. Man würde sie beglückwünschen und neidisch aufs Meer blicken, ohne ein ungläubiges, vor Mitleid strotzendes Staunen über ihren Abstieg und über dieses Hotel verbergen zu können, mit seinen knarrenden Dielen, verwinkelten Stiegen, seiner dürftigen Bar, den schäbigen, wie vom Sperrmüll stammenden Tischen und seiner Speisekarte, die mit ihren drei, vier Eintöpfen fast vergessen lässt, dass man am Meer lebt. Dennoch könnte ihr nichts Besseres widerfahren sein.
Allenfalls ein Verrückter hätte voraussagen können, dass sie einmal in einer angestaubten Bar Eiswürfel in Whiskygläser gleiten lässt und dabei jedes Mal an Professor Todds Satz denken muss: It sounds like a jolly shiver. Als er merkte, dass sie ihn trotz ihres Nickens nicht verstand, spielte er einen Schlotternden, dem das Grinsen im Gesicht stehen blieb. Seither klingt es für sie tatsächlich wie fröhliches Frösteln, wenn die Eiswürfel ins Glas rutschen. Manchmal konnte Professor Todd einem wirklich seltsam vorkommen, was nicht nur an seinem Alter lag, in dem die meisten keine solchen Faxen mehr machen. Und jetzt bleibt er für immer weg. In diesen Tagen wird seine Asche über dem Meer verstreut. Je älter ich werde, desto kleiner wird Abydyr, hat er einmal gesagt.
Für den Gedanken, dass sie ihn mehr vermissen könnte als alles aus ihrer Vergangenheit, schämt sie sich. Manche Gedanken würde man am liebsten nicht denken, doch sie huschen einem durch den Kopf, ob man will oder nicht. Würden sie einem gar nicht erst kommen, müsste man sie auch nicht verscheuchen. Sind sie aber einmal da, lassen sie sich schwer wieder aus der Welt schaffen. Für die Nonnen begann das Böse mit Gedanken, die man nicht haben durfte. Schon damals hatte sie sich gefragt, wie man es anstellen könnte, solche Gedanken nicht zu denken, obwohl sie einem kommen. Im Grunde war Gott selbst an diesen Gedanken schuld, schließlich hatte er einen so erschaffen, wie man war, mit allem Drum und Dran. Wie oft hatte sie sich in den letzten Jahren nicht gewünscht, manche Dinge nicht denken zu müssen! Doch es geht nicht, keinen einzigen Augenblick. Selbst im Traum rattern die Gedanken weiter, und oft kann man bloß hoffen, dass sie beim Aufwachen so schnell wie möglich verwehen.
Selbstverständlich durfte man bei den Nonnen nicht Gott für die bösen Gedanken verantwortlich machen, ohne Gefahr zu laufen, sich vor dem Jüngsten Gericht dafür verantworten zu müssen und schlimmstenfalls in die Hölle zu kommen. Die Nonnen hatten behauptet, der Teufel schicke die bösen Gedanken. Womit aber nicht erklärt war, warum es einen Teufel gibt, den doch kein anderer als Gott erschaffen haben muss, da Gott alles erschaffen hat.
Es ist blödsinnig, über solche Dinge nachzudenken. Wie immer man es dreht und wendet, logischer werden sie nicht.
Ihr bleibt viel Zeit zum Denken, viel mehr als früher. Was sollte sie in den Stunden tun, wo ein paar verlorene Gäste herumsitzen, denen man alle halbe Stunde ein Pint nachschenkt, während man den Rest der Zeit auf die Fahnen draußen schaut, an denen die Flaggen lauter kleiner Länder hängen, die zwischen den großen unterzugehen drohen, von Estland über Andorra bis Wales und Montenegro. Im Halbdämmer der Bar wirkt die Welt wie ermattet.
Am Meer singen Vögel nicht, sie schreien. Kurze, scharfe Rufe in die Leere des Himmels und gegen das ewige Rauschen. Kein Zwitschern, kein Tirilieren.
Um den Bodensee herum sieht die Natur aus wie ein einziger Garten, am Meer gibt es nichts zu jäten und zu pflanzen. Wohlige Schönheit und Fülle dort, hier nackte Unendlichkeit.
Als Kind hatte Mister Pettibone beobachtet, wie ein Ziegenbock über den Klippen auf ein grasendes Schaf zurannte, ihm seine Hörner in den Hintern rammte und es in die Fluten hinabstieß.
Außer einer Handvoll Kleidern hatte sie nichts mitgenommen, gerade so viele, wie in einen Koffer passten. Brunos Bruder befahl ihr, alles dort zu lassen. Was hätte sie mit den vielen Stühlen, Tischen, Kommoden auch anfangen sollen? Und mit den Schränken voller Bettwäsche? Mister Pettibone hätte den Wert dieser Dinge im Nu überschlagen.
Sie wusste nicht viel über ihn, außer dass er bei Sotheby’s Auktionator für Kunst und alte Möbel war. Man fragte die Gäste nicht nach ihrem Wohin und Woher und schon gar nicht nach ihrem Stand, Besitz und Vermögen. Allenfalls bekam man beiläufig ein paar Dinge mit. Die einen erzählten mehr, als man hören wollte, von anderen erfuhr man so gut wie nichts. Mister Pettibone war gesprächig, ohne viel preiszugeben. Vielleicht hätte sie ihn tatsächlich den Wert des Inventars schätzen lassen sollen. Nur gab es keine Gelegenheit mehr. Sie hätte ihn eigens aus London einfliegen lassen müssen.
Arno hatte ernsthaft zu ihr gesagt: Du kannst froh sein, dass ich das alles übernehme! Als müsste sie ihm dankbar sein. Was will er mit diesen Sesseln, Kommoden, Spiegeln, Lüstern, Lampen anfangen? Mit dem vielen Tafelbesteck, dem Porzellan, den Vasen, Schalen? Wie hoch hätte Mister Pettibone das alles geschätzt? Fünfzigtausend, hunderttausend, zweihunderttausend? Oder mehr? Oder ließ es sich bloß noch verramschen? Sie hatte keine Zeit, sich damit zu beschäftigen, oder, richtiger gesagt, keinen Kopf dafür. Und wollte es auch nicht. Sie wollte sich nicht am Ausverkauf ihres eigenen Hauses beteiligen und damit ihren Rauswurf beschleunigen. Kein Mensch geht freiwillig aufs Schafott.
Oder doch?
Professor Todd hatte erzählt, dass Adlige sich während der Revolution gepudert und geschminkt zur Guillotine führen ließen. Ein letzter nobler Auftritt. Er hatte sonderbare Geschichten auf Lager. Hätte sie ihn besser verstanden, wären richtige Gespräche möglich gewesen.
Genau genommen gehört ihr noch alles, die Kleider, die Schränke, der ganze Lindenhof. Doch Brunos Bruder hatte ernsthaft behauptet: Du kannst froh sein, dass ich das alles übernehme! Als Gegengabe für den Ruin, den ich auszubaden habe!
So hatte er dahergeredet: Den Ruin ausbaden! Fast musste sie schmunzeln. Nie hatte sie gehört, dass man einen Ruin ausbaden kann. Doch ihr war nicht mehr zum Lachen. Dass er sie aus ihrem eigenen Haus hinauswerfen würde, hätte sie sich nicht in schlimmsten Träumen ausgemalt. Brunos eigener Bruder! Dreißig Jahre hatten sie nie Streit miteinander.
Ein paar Wochen zuvor hatte er sie noch nach einem langen Abend in der Wirtschaft an den Hüften gepackt. Nicht zum ersten Mal wollte er ausprobieren, ob mehr drin sein könnte als nur ein unschuldiges Gutenachtküsschen auf die Backe. Er hatte ihr beim nächtlichen Tschüss-Sagen an der Tür auch schon in den Schritt gegriffen und ihr feuchtes Zeugs ins Ohr geflüstert. Bruno war sogar einmal danebengestanden. Was hätte er tun sollen? Entweder hatte er es nicht mitgekriegt oder nicht mitkriegen wollen. Meist ließ Arno sich dann ein paar Wochen nicht mehr blicken, um beim Wiedersehen derart übertrieben auf Normalität zu machen, dass es zum Lachen war. Nüchtern war von ihm nichts zu fürchten, besoffen kam der Möchtegern-Casanova durch. Dabei hatte sie immer den Eindruck, dass weniger der Trieb ihn trieb als der Drang, einen richtigen Mann spielen zu müssen.
Dass er gnadenlos sein konnte, wusste sie nicht. Es gab keine Anzeichen. Doch was heißt gnadenlos? Er sah sich selbst als den Geschädigten, und zwar als den einzigen. Wüsste er, wo sie ist, würde er denken: Sie gönnt sich ein sorgenfreies Leben am Meer.