Prolog

2005

Buenos Aires, Argentinien, Morgue Judicial, 15. August 2005

Die Schritte hallten laut auf dem langen, gefliesten Gang im Untergeschoss der Morgue Judicial, des Gerichtsmedizinischen Instituts von Buenos Aires, während er dem Mann mit dem Namenschild Dr. Javier Maduro im weißen Kittel folgte.

Angestellte, denen sie begegneten, mieden seinen Blick und tauschten mit seinem Führer nur ein stilles Kopfnicken als Gruß. Offenbar wusste jeder, dass, wenn Maduro in Begleitung eines Fremden hier unten auftauchte, jemand gekommen war, um einen toten Angehörigen zu identifizieren. Und er war ein Fremder hier, wenn auch kein Unbekannter. Sein rasant expandierender Biotechnologie-Konzern ARGEN erhob sich wie der Morgenstern über der darniederliegenden Wirtschaft Argentiniens, und sein Bild war allgegenwärtig in den Zeitungen und den Fernsehnachrichten.

Zwei junge Frauen in weißem Kittel machten respektvoll Platz, als sie ihn erkannten, und er hörte sie hinter seinem Rücken tuscheln: »War das nicht Siegfried Kemmler?«

Die Kunde von dem Unglück, das ihn ereilt hatte, würde sich in Windeseile verbreiten. Binnen Stunden würden es alle Radio- und TV-Kanäle senden, und morgen früh würde es die Titelseiten der Zeitungen füllen.

Vor einer Doppeltür, durch deren schmale Glaseinsätze man in einen weiß gefliesten, hell erleuchteten Raum blicken konnte, blieb Dr. Maduro stehen.

»Sind Sie bereit?«, fragte er sanft und drückte nach einem stummen Nicken Kemmlers die Tür auf.

Das grelle, grünliche Neonlicht in dem gekachelten Raum, das in hartem Kontrast zur warmen Beleuchtung des Gangs stand, ließ Kemmler beim Eintreten unwillkürlich die Augen zukneifen. Erst einen Moment später, als er sich an das Licht gewöhnt hatte, sah er scharf, was beim Eintreten nur schemenhaft zu erkennen gewesen war: einen Seziertisch aus poliertem Edelstahl in der Mitte des Raums, darauf der mit einem weißen Laken abgedeckte Körper eines Menschen. Neben dem Tisch stand, Klemmbrett in der Hand, eine schmale Frau mittleren Alters in Kopfhaube und langem, grünem Kittel. Nach dem Namensschild Dr. Lupe Velasquez handelte es sich um eine Kollegin Maduros.

»Guten Tag, Señor Kemmler«, begrüßte sie ihn, obgleich sie einander noch nie begegnet waren. »Es tut mir sehr leid.«

Sein Begleiter blieb zwei Schritte vom Tisch entfernt mit ihm stehen. »Können wir?«

Kemmler atmete durch. »Bitte«, sagte er dann entschlossen, und Maduro gab der Frau ein Zeichen.

Behutsam schlug sie daraufhin das Laken so weit zurück, dass Kopf und Schultern der Gestalt auf dem Tisch zum Vorschein kamen. Kemmler zwang sich hinzusehen, blickte unbewegt auf das vertraute Gesicht, das hier, wächsern im kalten Neonlicht, so fremd wirkte.

Dr. Maduro ließ einige Sekunden verstreichen, bis er leise fragte: »Ist das Ihre Frau, Señor Kemmler?«

Kemmler nickte.

»Ich bedaure«, sagte Dr. Maduro. »Sie müssen es laut sagen fürs Protokoll.«

»Ja, das ist meine Frau«, erwiderte Kemmler tonlos.

Maduros Kollegin trug daraufhin etwas in ein Formular auf dem Klemmbrett ein und reichte es ihm zur Unterschrift. »Es tut mir sehr leid, Señor Kemmler«, sagte sie noch einmal, während er mit fahriger Schrift unterzeichnete.

»Könnte ich ein paar Augenblicke mit ihr allein sein?«, bat er dann.

»Selbstverständlich«, antwortete Maduro und ging mit der Kollegin nach draußen.

Allein im Raum, trat Kemmler näher an den breiten Stahltisch mit dem toten Körper seiner Frau heran.

Zwei Polizisten mit steinernen Gesichtern waren eine Stunde zuvor mit der Nachricht in seinem Büro erschienen, Hildegard sei auf dem Weg in die Stadt mit einem Colectivo, einem der bunten Linienbusse, die sich stets ohne Rücksicht auf Verluste durch den chaotischen Verkehr der Hauptstadt boxten, zusammengestoßen.

Mit dem Zeigefinger strich Kemmler zwei Strähnen des langen blonden Haars aus Hildegards Stirn und betrachtete ihr bleiches, starres Gesicht. Der Tod hatte ihre Schönheit noch nicht angetastet, aber da war nichts mehr von der quirligen, fröhlichen Person, die ihm im Leben so vertraut gewesen war. Vor ihm lag nicht der Mensch, den er gekannt hatte, sondern nur eine leere Hülle, die seiner Frau nicht mehr glich als eine seelenlose Wachsfigur.

Unbewegt und mit ausdruckslosem Gesicht verharrte er an Hildegards Leichnam und horchte in sich hinein. Warum war da keine Spur von Trauer? Sie hatten sich immerhin einmal geliebt. Hatte der Hass selbst den letzten Funken Zuneigung getötet? Ja, das war die bittere Wahrheit, gestand er sich ein.

Die Ehe war nicht gut gegangen. Der letzte, laut ausgetragene Krach vor drei Tagen gellte ihm noch in den Ohren. Der wievielte um immer um dasselbe Thema: Beide hatten sie sich so sehr Kinder gewünscht, Kemmler vor allem einen Sohn, der einst sein Erbe antreten würde. Doch es wollten keine Kinder kommen, und das vergebliche Bemühen zerfraß ihre Ehe, bis am Ende nur noch Hass und Verachtung blieben. Dass er frustriert ein Verhältnis mit Carlota Quiroga, einer Angestellten von ARGEN einging - was Hildegard nicht verborgen blieb -, versetzte der Ehe endgültig den Todesstoß.

»Ich habe genug, ich verlasse dich!« Hildegards letzte wütende Worte bei ihrem Streit vor drei Tagen. Seitdem hatte sie in einem der vielen Gästezimmer geschlafen.

Scheidung war jedoch keine Option. Nicht nur wegen des gesellschaftlichen Skandals. Gewichtiger war, dass eine Kommission der Regierung, welche die Geldströme während der Wirtschaftskrise untersuchte, sich anschickte, ihre Nase auch in die Geldquellen von ARGEN zu stecken. Die wildesten Gerüchte blühten über diese Quellen, und im Fall einer Scheidung hätte man sich unweigerlich auf seine Frau gestürzt. Zwar war Hildegard nicht unmittelbar in die Geschäfte eingebunden, dennoch hätte sie genug zu erzählen gehabt, um die Nasen der Schnüffler auf die richtige Spur zu lenken. Das musste unter allen Umständen verhindert werden.

Biotechnologie konnte die Welt verändern, und nichts weniger als das hatte er vor. Er würde sich nicht von Krämern aufhalten lassen.

Ein Frösteln lief über seinen Rücken. War es die Kälte im Raum, die ihn schaudern ließ, oder war es der Anblick des toten Körpers seiner Frau, der ihn daran gemahnte, dass er nicht unbegrenzt Zeit hatte? Zwar war er erst Mitte 40, doch es gab noch so unendlich viel zu tun. Unwillig schüttelte er die düsteren Gedanken ab. Tief durchatmend zog er das Laken wieder über das Gesicht seiner toten Frau.

Maduro und Velasquez, die ihn durch die verglasten Ausschnitte in der Tür beobachtet hatten, kamen daraufhin wieder herein.

»Den Aussagen von Zeugen zufolge ist Ihre Frau am Steuer tot zusammengebrochen«, sagte Maduro mit leiser Stimme. »Laut Polizei herrschte zu dem Zeitpunkt Stop-and-go-Verkehr, und sie fuhr kaum mehr als Schritttempo. Zudem war sie angeschnallt und der Airbag hat ausgelöst. Dennoch hat der Notarzt bei seiner Ankunft nur noch den Tod feststellen können.«

»Sehr ungewöhnlich bei einer so jungen Frau«, bemerkte seine Kollegin. »Aber ich verspreche Ihnen, dass wir die Ursache finden werden.«

Dieses Versprechen, dachte Kemmler, während er ihr zum Abschied die Hand drückte, würde sie nicht halten können.