Handgeschriebener Brief, anonym, gefunden in einem zum Teil abgebrannten Haus südlich von Mähmoos, Tirol.

 

 

 

Ich weiß gar nicht, warum ich es aufschreiben möchte. Warum ich hier sitze und an Vergangenes denke, obwohl dieser Tag es nicht rechtfertigt, erwähnt zu werden. Auch nicht diese Woche, und ich bin mir sicher, auch der Monat nicht. Diese dreißig Tage kommen mir vor wie ein Jahr. Mindestens. Wochen, die schlimmer waren, als der Tod sein wird, schlimmer als jeder Albtraum, den ein Mensch nur erleiden kann. Ich weiß noch genau, wie es angefangen hat. Es war heiß, viel zu heiß, deshalb gingen wir schwimmen. Wir hatten keine Lust mehr, all diese Diskussionen im Radio zu hören, die lähmende Beklemmung der anderen zu spüren. Danach geriet die Welt in Zeitlupe. Der grelle Blitz, der Knall, die vielen Toten, all die Menschen, die nicht wussten, was sie tun sollten. Zuerst habe ich gedacht, es gäbe im Süden Hilfe, doch als alles zusammenbrach, starben sie wie die Fliegen. Leben! Es ist ein Wort, das mir suggeriert, sich wohlzufühlen, nur es wurde kein Leben mehr im eigentlichen Sinne. Nicht so, wie ich es bis zu diesem Tag verstanden hätte, ohne es auch nur ansatzweise zu hinterfragen. Es ist nur ein Wort, nur ein Begriff, aber ein sehr dehnbarer. Ja, ich lebe noch, und gleichzeitig eben nicht. Niemand lebt mehr wirklich, selbst diejenigen nicht, die sich in den Höhlen und Bergwerken verschanzt haben und nun wie die Maulwürfe vegetieren. Weg von dem, das uns alle umbringen wird. Vielleicht heute, vielleicht morgen, womöglich erst in einem Jahr. Es wäre ein weiteres Jahr voller Angst, Trostlosigkeit, Schmerzen, vor allem freilich voll sinnloser Hoffnung auf irgendetwas, das niemals kommen kann. Diese Hoffnung wurde bei mir von Tag zu Tag weniger, wie die Körnchen einer Sanduhr. Bereits kurz nach dem Tag null begann ich, daran zu zweifeln. Daran, den Kampf aufzunehmen, jeden Tag mit äußerster Brutalität durchzustehen, von Ort zu Ort ziehen, um schließlich erkennen zu müssen, dass es keine Zukunft für uns gibt. Nicht für mich, nicht für andere – für niemanden. Nun weiß ich, dass es einfacher gewesen wäre, gleich an diesem dunklen Tag zu sterben, wie Millionen andere auch, die den letzten Tag ihres Lebens im Angesicht der alten Welt verbrachten. Mit ihren Familien, Freunden, vielleicht auf dem Sofa oder vor dem Fernseher. Keiner von ihnen hat erleben müssen, was ich und meine Freundinnen danach ertrugen. Die eigentliche Hölle. Dinge, die unvorstellbar sind, die uns zu Monstern machen, die die schlimmste Seite des Menschen zum Vorschein bringen. Jede Minute nach dem Tag null ist nur ein Weg zum Tod, ein Weg ins Dunkle, wie viele es sagen. Ich behaupte mittlerweile, dass es ein Weg ins Licht ist, weil er wegführt von all dem, weil er all das Grauen schließlich beendet. Für immer.

  Dort draußen ist nur Tod. Die Natur stirbt unweigerlich mit, es ist nur eine Frage der Zeit, bis es völlig zu Ende geht. Ich hoffe, der Erde gelingt es, ihren Mörder oder zumindest ihren Peiniger zu überleben, möglicherweise tut sie es und sieht dabei zu, wie der letzte Mensch auf Erden verendet, wann und wo immer dies auch sein mag. Vermutlich ist es besser so. Wir sind das grauenvollste Virus, der schlimmste Parasit.

  Ich lebe aber bis jetzt, warum auch immer. Längst habe ich meine Freundinnen begraben, und ich würde gerne an ihrer Stelle dort liegen.

  Ich mag nur noch etwas sitzen und mich ausruhen. Nur ein bisschen, bevor ich mich hinlege. Wenn es mein Körper schafft.

  Nur kurz.