Ballard beschloss, die Durchsicht der Filzkarten möglichst in der Nähe der Quelle vorzunehmen. Sie brachte Bosch in die Abstellkammer und platzierte ihn an einem der alten Schreibtische. Hier war die Wahrscheinlichkeit geringer, dass ihn einer ihrer Kollegen mit ihr arbeiten sah und Fragen stellte. Sie rief Lieutenant Munroe auf seiner Durchwahl an und sagte ihm, wo sie war, falls sie gebraucht würde.
Bosch und Ballard beschlossen, sich die Karten aufzuteilen, und Bosch verzichtete darauf, die von Ballard bereits durchgesehenen Karten noch einmal zu lesen. Es war das erste Anzeichen, dass sie einander vertrauten und sich auf die Einschätzungen des anderen verließen. Außerdem beschleunigte es das Verfahren.
Ballards Schreibtisch war im rechten Winkel an den von Bosch geschoben, sodass sie ihn direkt vor sich hatte, wohingegen er sich zur Seite drehen musste, um sie zu beobachten, und das deshalb nicht so unauffällig tun konnte wie sie. Sie behielt ihn verstohlen im Auge und stellte fest, dass er anders vorging als sie. Er sortierte wesentlich schneller Karten zur weiteren Begutachtung aus als sie. Irgendwann merkte er, dass sie ihn beobachtete.
»Keine Angst«, sagte er, ohne von seiner Tätigkeit aufzublicken. »Ich gehe in zwei Schritten vor. Zuerst ein grobmaschiges Netz, dann ein engmaschigeres.«
Ballard nickte nur. Es war ihr ein wenig peinlich, dass Bosch sie ertappt hatte.
Bald wendete auch sie Boschs Methode an und achtete nicht mehr auf ihn, denn sie merkte, dass sie so wesentlich schneller vorankam. Nach längerem Schweigen legte Ballard einen dicken Packen Karten auf den Haufen mit den uninteressanten und sagte: »Darf ich Sie was fragen?«
»Und wenn ich Nein sage?«, antwortete Bosch. »Sie würden doch trotzdem fragen.«
»Wie ist es dazu gekommen, dass Daisys Mutter bei Ihnen wohnt?«
»Das ist eine lange Geschichte. Sie musste irgendwo unterkommen, und ich hatte ein Zimmer frei.«
»Sie haben also kein erotisches Interesse an ihr?«
»Nein.«
»Aber Sie lassen diese Fremde bei sich wohnen.«
»Gewissermaßen. Ich habe sie in Zusammenhang mit einem anderen Fall kennengelernt, der mit diesem nichts zu tun hat. Ich habe ihr aus der Klemme geholfen und dabei von der Geschichte mit Daisy erfahren. Ich habe ihr versprochen, mich mit der Sache zu befassen, und ihr für die Dauer meiner Ermittlungen das Zimmer angeboten. Sie ist aus Modesto. Ich gehe davon aus, dass ich mein Zimmer zurückbekomme und sie wieder nach Modesto zieht, wenn wir das hier aufgeklärt haben.«
»Wenn Sie noch beim LAPD wären, könnten Sie das nicht tun.«
»Es gibt vieles, was ich nicht tun könnte, wenn ich noch beim LAPD wäre. Aber das bin ich ja auch nicht mehr.«
Sie konzentrierten sich wieder auf die Karten, aber Ballard hakte fast sofort nach: »Trotzdem würde ich gern mit ihr reden.«
»Ich habe sie bereits gefragt«, sagte Bosch. »Können Sie jederzeit.«
Eine halbe Stunde später hatten beide alle Karten in ihren Kisten durchgesehen. Bosch ging auf den Flur hinaus und brachte eine neue Kiste für Ballard herein. Dann holte er auch für sich eine.
»Wie lang können Sie das machen?«, fragte Ballard.
»Heute Nacht, meinen Sie?«, sagte Bosch. »Bis halb sechs. Um sechs muss ich im Valley oben sein. Könnte sein, dass sich das den ganzen Tag zieht. Wenn dem so ist, komme ich morgen Abend wieder her.«
»Wann schlafen Sie?«
»Wenn ich kann.«
Sie hatten sich etwa zehn Minuten lang die neuen Kisten vorgenommen, als Ballards Funkgerät zu rauschen begann. Ballard meldete sich, und Munroe teilte ihr mit, dass wegen eines Einbruchs in einem bewohnten Haus im Sunset Boulevard ein Detective benötigt wurde.
Ballard schaute auf den Kartenstapel vor ihr und antwortete über Funk: »Brauchen Sie dafür wirklich einen Detective, L.T.?«
»Sie haben einen angefordert. Wieso? Sind Sie gerade mit was anderem beschäftigt?«
»Nein, ich bin schon unterwegs.«
»Alles klar. Sagen Sie mir Bescheid, was dort los ist.«
Ballard stand auf und sah Bosch an.
»Ich muss weg und kann Sie nicht hierlassen.«
»Wirklich nicht? Ich bleibe hier und hacke weiter Holz.«
»Sie sind aber nicht beim LAPD. Ich darf Sie nicht unbeaufsichtigt lassen. Wenn jemand reinkommt und Sie hier sieht, machen sie mir die Hölle heiß.«
»Na schön. Und was soll ich jetzt machen? Mit Ihnen mitkommen?«
Ballard überlegte kurz. Das ginge.
»Sie könnten Folgendes tun«, schlug sie ihm vor. »Nehmen Sie einfach einen Stapel Karten mit. Die können Sie dann im Auto weiter durchgehen, während ich am Tatort nach dem Rechten sehe. Hoffentlich brauche ich nicht lange.«
Bosch bückte sich und nahm einen dicken Packen Karten aus der Kiste neben seinem Schreibtisch.
»Dann mal los«, sagte er.
Der Einbruch war nicht einmal fünf Minuten von der Station entfernt erfolgt. Ballard kam die Adresse bekannt vor, aber zuordnen konnte sie sie erst, als sie dort eintrafen und sahen, dass es das Sirens on Sunset war, ein Stripclub. Da er noch aufhatte, wunderte sich Ballard ein wenig, dass es dort zu einem Einbruch gekommen war.
Die Valet-Zone wurde von einem Streifenwagen blockiert. Ballard hielt hinter ihm an. Da sie wusste, dass zwei Funkstreifen am Tatort waren, nahm sie an, dass das andere Auto in der Einfahrt hinter dem Club stand.
»Das könnte interessant werden«, bemerkte Bosch.
»Nicht für Sie«, sagte Ballard. »Sie warten hier.«
»Jawohl, Ma’am.«
»Ich hoffe mal, dass es nichts Größeres ist und ich gleich wieder zurück bin. Sie können sich ja schon mal wegen Code 7 Gedanken machen.«
»Haben Sie Hunger?«
»Im Moment noch nicht, aber ich brauche eine Mittagspause.«
Ballard nahm ihr Funkgerät aus der Ladestation in der Mittelkonsole und stieg aus.
»Wo haben sie um diese Zeit noch auf?«, fragte Bosch.
»Fast nirgendwo.«
Sie schloss die Tür und ging auf den Eingang des Sirens zu.
Der innere Eingangsbereich war in gedämpftes Rotlicht getaucht. Es gab eine Kasse mit einem Türsteher und einem Kassierer und einen von roten Samtseilen flankierten Zugang, der durch einen Bogendurchgang in den Club führte. Ballard konnte drei kleine rot eingefasste Bühnen unter Deckenschirmen im Pseudo-Tiffany-Stil erkennen. Auf den Bühnen standen Frauen in unterschiedlichen Stadien der Entkleidung, aber die Zahl der Besucher hielt sich in Grenzen. Ballard sah auf die Uhr. Zwanzig vor drei, und der Club war bis vier geöffnet. Ballard zeigte dem Türsteher ihre Dienstmarke.
»Wo sind die Officers?«, fragte sie.
»Ich bringe Sie nach hinten«, sagte der Mann.
Er öffnete eine Tür, die wie die Wände mit paisleygemustertem rotem Samt bespannt war, und führte sie einen dunklen Gang hinunter zu der offenen Tür eines hell beleuchteten Büros. Dann kehrte er wieder nach vorn zurück.
In dem kleinen Raum drängten sich drei Streifenpolizisten um einen an einem Schreibtisch sitzenden Mann. Ballard nickte ihnen zu. Es waren Dvorek, der das Kommando hatte, sowie Herrera und Dyson, die Ballard gut kannte, weil sie eins der wenigen rein weiblichen Teams in der Late Show waren und Ballard sich oft für Code 7 mit ihnen traf. Herrera, die Ranghöhere von beiden, hatte vier Streifen am Ärmel. Ihre Partnerin hatte nur einen. Beide Frauen trugen ihr Haar kurz, damit es im Nahkampf keine Angriffsfläche bot. Ballard wusste, dass die beiden nach ihrer Schicht regelmäßig im Fitnessstudio trainierten, was sich an ihren Schultern und Oberarmen zeigte. Sie wussten sich bei Handgreiflichkeiten zu behaupten, und von Dyson hieß es, dass sie es geradezu darauf anlegte.
»Detective Ballard, gut, dass Sie kommen«, sagte Dvorek. »Das ist Mr. Peralta, der Geschäftsführer dieses schönen Etablissements. Er hat um Ihr Erscheinen gebeten.«
Ballard sah den Mann hinter dem Schreibtisch an. Er war Mitte fünfzig, übergewichtig, mit nach hinten geklatschtem schwarzem Haar und scharf konturierten Koteletten. Er trug eine grellrote Weste über einem schwarzen Hemd. An der Wand hinter seinem Stuhl hing ein gerahmtes Poster einer nackten Frau an einer Poledance-Stange, die ihr Geschlecht nur so weit verdeckte, dass noch zu erkennen war, dass ihre Schambehaarung in Form eines kleinen Herzens gestutzt war. Rechts von ihm stand ein Videomonitor, auf dessen sechzehn Bildausschnitten Bühnen, Bars und Ausgänge des Clubs zu sehen waren. In einem dieser Segmente sah Ballard sich selbst aus dem Blickwinkel einer über ihrer rechten Schulter angebrachten Kamera.
»Was kann ich für Sie tun, Sir?«, fragte sie.
»Ich glaub’s nicht, ein Traum ist wahr geworden«, sagte Peralta. »Besteht das LAPD neuerdings nur noch aus Frauen? Möchten Sie einen Nebenjob?«
»Sir, haben Sie ein Problem, das ein Eingreifen der Polizei erfordert oder nicht?«, erwiderte Ballard.
»Allerdings«, sagte Peralta. »Ich habe tatsächlich ein Problem – jemand will bei uns einbrechen.«
»Jemand will bei Ihnen einbrechen? Warum sollte jemand bei Ihnen einbrechen wollen, wenn er nur zur Tür reinzugehen braucht?«
»Das frage ich mich auch. Tatsache ist jedenfalls, dass dem so ist. Sehen Sie sich das mal an.«
Er drehte sich zum Monitor und zog einen Tastaturauszug hervor. Er gab kurz etwas ein, worauf die Bildausschnitte einem Grundriss des Clubs wichen.
»Ich überwache alle Zugänge zum Gebäude«, erklärte Peralta. »Jemand war auf dem Dach und hat sich an den Oberlichtern zu schaffen gemacht. Anscheinend wollen sie von dort einsteigen.«
Ballard beugte sich zum Monitor vor, auf dem zu sehen war, dass an zwei der Oberlichter eine kleine Öffnung klaffte.
»Wann ist das passiert?«, fragte sie.
»Heute Abend«, sagte Peralta. »Vor etwa einer Stunde.«
»Warum könnte hier jemand einbrechen wollen?«
»Na, warum wohl. Bei uns wird fast ausschließlich bar bezahlt, und ich bin nicht so blöd, hier um halb fünf morgens mit einem Sack Bargeld unterm Arm rauszumarschieren. Erst mal schließe ich die Tageseinnahmen im Safe ein, und dann komme ich ein-, zweimal die Woche – tagsüber – her, um das Geld auf die Bank zu bringen, und zwar immer zusammen mit zwei Typen, denen lieber keiner dumm kommen sollte und die mich keine Sekunde aus den Augen lassen.«
»Wo ist der Safe?«
»Sie stehen drauf.«
Ballard blickte nach unten. Die Streifenpolizisten wichen an die Wände des Büros zurück. In den Dielenboden waren die Umrisse eines Quadrats eingefräst, außerdem war eine Griffmulde zum Öffnen einer Falltür eingelassen.
»Lässt er sich herausnehmen?«, fragte Ballard.
»Nein«, sagte Peralta. »Er ist einbetoniert. Sie müssten ihn aufbohren – außer sie wissen die Kombination, und die kennen nur drei Leute.«
»Wie viel enthält er?«
»Da ich nach dem Wochenende bereits auf der Bank war, ist heute Abend nicht viel drin. Im Moment etwa zwölftausend, und wenn die heutigen Einnahmen noch dazukommen etwa sechzehn.«
Ballard dachte kurz nach und blickte nach oben. Dabei fing sie Dvoreks Blick auf und nickte.
»Okay. Dann sehen wir uns mal um. Gibt es auf dem Dach Kameras?«
»Nein«, sagte Peralta. »Dort oben nicht.«
»Wie kommt man aufs Dach?«
»Von innen nicht. Nur von außen, mit einer Leiter.«
»Okay. Ich komme noch mal her, sobald wir uns umgesehen haben. Wo ist die Tür zur Durchfahrt?«
»Marv zeigt sie Ihnen.«
Peralta drückte einen Knopf unter seinem Schreibtisch, um seinen Türsteher zu rufen. Kurz darauf kam der Mann zurück.
»Bring sie hinten raus, Marv«, sagte Peralta. »In die Durchfahrt.«
Wenig später stand Ballard in der Durchfahrt und inspizierte den Rand des Dachs. Das Flachdach des freistehenden Gebäudes befand sich in etwa sechs Metern Höhe, und es gab weder einen Außenzugang noch eine Leiter oder sonst eine Möglichkeit, um hinaufzukommen. Ballard drehte sich um. An die andere Seite der von Holzzäunen und Betonmauern eingefassten Durchfahrt grenzte eine Wohngegend.
»Könnte mir mal jemand seine Taschenlampe leihen?«, fragte Ballard.
Dyson nahm ihre Pelican von ihrem Ausrüstungsgürtel und reichte sie Ballard. Es war eine kleine, aber starke Taschenlampe. Ballard ging an der Seite des Clubs entlang und hielt nach einem Zugang zum Dach Ausschau. Am ehesten kam dafür eine gemauerte Umfriedung an der Westecke infrage, in der mehrere Müllcontainer standen. Sie war knapp zwei Meter hoch und befand sich neben dem Fallrohr der entlang der Dachkante verlaufenden Regenrinne. Ballard richtete die Taschenlampe auf das Fallrohr und sah, dass es in Abständen von etwa einem Meter mit Metallklammern an der Außenwand befestigt war.
Dvorek blieb neben ihr stehen.
»Da hast du deine Leiter«, sagte Ballard.
»Willst du da etwa raufsteigen?«, fragte Dvorek.
»Schön blöd müsste ich sein. Ich fordere einen Hubschrauber an. Sie sollen den Scheinwerfer draufhalten, und wenn da oben noch Leute sind, schnappen wir sie uns, wenn sie runterkommen.«
»Gute Idee.«
»Am besten, du postierst die Schwestern an der anderen Ecke – für den Fall, dass sie da oben eine Leiter haben und auf der anderen Seite runterkommen. Ich fordere den Heli offline an.«
»Alles klar.«
Weil nicht auszuschließen war, dass die Einbrecher den Polizeifunk abhörten, wollte Ballard den Hubschrauber nicht über Funk verständigen. Sie hatte ein gutes Verhältnis zum Tactical Flight Officer des Hubschraubers, der in den meisten Nächten für den Westen der Stadt zuständig war. Sie wurden oft zu denselben Einsätzen gerufen. Ballard am Boden, Heather Rourke, die Späherin, und ihr Pilot Dan Sumner in der Luft. Ballard schickte Rourke eine Textnachricht.
Seid ihr in der Luft?
Die Antwort kam zwei Minuten später.
Ja. Haben grade einen FF-Verdächtigen verfolgt. Was gibt’s, RB?
Ballard war klar, dass Rourke und Sumner noch voll unter Adrenalin standen, wenn sie gerade einen fahrerflüchtigen Autofahrer verfolgt hatten. Sie war froh, dass sie jetzt frei waren.
Brauche euch am Stripclub Sirens 7171 Sunset. Leuchtet das Dach ab, ob dort Verdächtige sind.
Roger – ETA 3
Verstanden. Gehe auf Taktik 5
Verstanden. Taktik 5
Für den Fall, dass sie sich doch über Funk verständigen mussten, hatte der taktische Kanal eine Frequenz, die sich nicht einfach im Internet abfragen ließ.
Ballard hatte immer noch Dysons Taschenlampe. Sie schwenkte sie hin und her, um die drei Officers an der anderen Ecke des Gebäudes auf sich aufmerksam zu machen. Dann richtete sie den Lichtstrahl auf ihre freie Hand, hielt drei Finger hoch und drehte die Hand in der Luft.
Sie warteten. Ballard war ziemlich sicher, dass nichts bei der Sache herauskäme. Falls tatsächlich jemand auf dem Dach gewesen war, hatten sie beim Eintreffen der Streifenwagen mit Sicherheit deren Lichter bemerkt und das Weite gesucht, als die Polizisten den Club betraten. Aber Peralta würde sich mit seinen Befürchtungen eher ernst genommen fühlen, wenn das Dach von einem Hubschrauber kontrolliert wurde. Außerdem würde Ballard dem Leiter des Detective Bureau empfehlen, einen Kollegen vom Einbruchkommando in den Club zu schicken, damit er das Dach bei Tageslicht nach Hinweisen auf einen Einbruchsversuch absuchte.
Ballard hörte den Hubschrauber näher kommen und drückte sich neben den Müllcontainern an die Rückwand des Clubs. Sie stellte das Funkgerät auf die Taktik-5-Frequenz und wartete. In der Durchfahrt roch es nach Alkohol und Zigaretten. Sie atmete durch den Mund.
Wenig später schwenkte der Suchscheinwerfer des Hubschraubers über das Areal und machte die Nacht zum Tag. Ballard hob das Funkgerät.
»Air 6, seht ihr irgendwas?«
In der Hoffnung, trotz des Rotorenlärms etwas hören zu können, hielt sie das Funkgerät an ihr Ohr. Zumindest einen Teil der Antwort bekam sie mit. Heather Rourkes Tonfall verriet ihr mehr als die Worte, die sie verstehen konnte. Auf dem Dach war jemand.
»… Verdächtige. Rennen … Ecke …«
Ballard ließ das Funkgerät fallen und zog ihre Dienstwaffe. Sie ging in die Durchfahrt zurück und richtete die Pistole auf den Dachrand. Der Scheinwerfer des Hubschraubers blendete stark. Dann sah sie, wie sich etwas bewegte, und hörte Schreie, konnte aber wegen des Rotorenlärms nichts verstehen. Sie sah jemanden das Fallrohr herunterrutschen. Auf halbem Weg verlor der Mann den Halt und fiel auf den Boden. Kurz darauf kam eine zweite Person das Fallrohr herunter und dann noch eine.
Ballard folgte den Bewegungen mit ihrer Waffe. Alle drei Verdächtigen begannen, die Durchfahrt hinunterzurennen.
»Polizei! Halt! Stehen bleiben!«
Zwei der fliehenden Gestalten blieben auf der Stelle stehen. Die dritte lief weiter und bog am Ende der Durchfahrt nach links in das angrenzende Wohnviertel.
Ballard ging auf die zwei zu, die stehen geblieben waren und bereits die Hände gehoben hatten. Als sie sie aufforderte niederzuknien, rannte Dyson an ihr vorbei, um den dritten Verdächtigen zu verfolgen. Herrera folgte ihrer jüngeren Partnerin, allerdings wesentlich langsamer.
Als Ballard mit der Pistole im Anschlag weiter auf die zwei knienden Gestalten zuging, sah sie …
Es waren nur Kids.
»Was ist?«, sagte Dvorek, als er neben ihr stehen blieb.
Ballard steckte ihre Waffe ins Holster zurück und legte ihre Hand auf Dvoreks Arm, damit er auch seine senkte. Sie ging um die beiden Knienden herum und richtete den Strahl von Dysons Lampe auf ihre Gesichter. Sie waren höchstens vierzehn. Beide waren Weiße, beide machten einen verängstigten Eindruck. Sie trugen T-Shirts und Bluejeans.
Ihr fiel ein, dass sie das Funkgerät bei den Mülltonnen auf den Boden hatte fallen lassen.
»Bei dem Krach kann man sich ja nicht mal selbst denken hören«, schrie sie Dvorek zu. »Sag dem Hubschrauber auf Taktik 5, dass wir hier einen Code 4 haben und dass sie mit der Verfolgung von A 25 weitermachen können.«
Das gab Dvorek über sein Funkgerät durch, und prompt flog der Hubschrauber in die Richtung los, in die der dritte Junge gerannt war. Ballard hielt die Taschenlampe auf die jungen Gesichter vor ihr gerichtet. Einer der beiden Jungen nahm eine Hand herunter, um seine Augen gegen das blendende Licht abzuschirmen.
»Hand oben lassen«, forderte ihn Ballard auf.
Er gehorchte.
Ballard glaubte bereits zu wissen, was die zwei Jungen auf dem Dach getrieben hatten.
»Wisst ihr eigentlich, dass das übel hätte enden können?«, schnauzte sie die beiden an.
»Entschuldigung, Entschuldigung«, stammelte einer kleinlaut.
»Was wolltet ihr da oben?«
»Wir haben uns nur ein bisschen umgeschaut. Wir …«
»Umgeschaut? Wohl eher nach unten geschaut, auf die nackten Frauen?«
Ballard konnte sehen, wie sich ihre Gesichter im kalten Schein der Taschenlampe röteten vor Scham. Aber ihr war klar, dass es Scham darüber war, von einer Frau erwischt und durchschaut worden zu sein, und nicht darüber, auf ein Dach geklettert zu sein, um durch ein Oberlicht Frauenkörper zu begaffen.
Als sie Dvorek einen kurzen Blick zuwarf, huschte ein kurzes Grinsen über seine Züge. Sie merkte, dass er die Findigkeit der beiden in gewisser Weise sogar bewunderte – Jungs eben – und dass Frauen in einer Welt von Männern und Frauen wohl nie als vollkommen gleich angesehen und auch entsprechend behandelt würden.
»Werden Sie es unseren Eltern erzählen?«, fragte einer der Jungen.
Ballard senkte den Strahl der Taschenlampe zu Boden und ging ihr Funkgerät holen.
»Was meinst du?«, fragte Dvorek sie leise, als sie an ihm vorbeiging.
Die Frage entlarvte ihn weiter.
»Das bleibt dir überlassen«, sagte sie. »Ich fahre jetzt.«