Ballard wurde vom Geräusch panischer Stimmen und einer nahenden Sirene wach. Es war so laut, dass sie das Meer nicht hören konnte. Sie setzte sich auf, merkte, dass es kein Traum war, und öffnete den Reißverschluss ihrer Zeltklappe. Als sie nach draußen schaute, kniff sie wegen des grellen Flimmerns auf dem dunkelblauen Wasser des Pazifik sofort die Augen zusammen und beschirmte sie mit der Hand, um nach dem Grund des Aufruhrs Ausschau zu halten. Sie sah Aaron Hayes, den für den Wachturm der Rose Station zuständigen Rettungsschwimmer, im Sand knien und sich über einen Mann beugen, der rücklings auf einem Rettungsbrett lag. Er wurde umringt von einer Gruppe stehender oder kniender Personen, bei denen es sich teils um Schaulustige, teils um besorgte und weinende Freunde und Angehörige des Mannes auf dem Brett handelte.
Ballard kroch aus dem Zelt, befahl ihrem Hund Lola, davor Wache zu halten, und ging rasch auf die Gruppe zu.
Sie zückte ihre Dienstmarke und rief: »Polizei! Polizei! Treten Sie bitte zurück und behindern Sie den Lifeguard nicht bei der Arbeit.«
Niemand rührte sich von der Stelle. Die Umstehenden drehten nur die Köpfe und starrten sie an. Sie war im Trainingsanzug und ihr Haar war vom morgendlichen Surfen und Duschen noch feucht.
»Zurücktreten!«, ordnete sie mit mehr Nachdruck an. »Sofort! Sie sind nur im Weg.«
Sie erreichte die Gruppe und begann, die Umstehenden ein paar Meter vom Brett wegzudrängen.
»Sie auch«, sagte sie zu einer jungen Frau, die hysterisch schluchzend die Hand des verunglückten Mannes hielt. »Lassen Sie ihn seine Arbeit machen, Ma’am. Er versucht, ihm das Leben zu retten.«
Behutsam zog Ballard die Frau weg und übergab sie einer ihrer Freundinnen, die sie tröstend in die Arme schloss. Ballard schaute zum Parkplatz, von wo zwei Rettungssanitäter mit einer Bahre auf die Menschenansammlung zuliefen. Wegen ihrer Arbeitsstiefel kamen sie jedoch im Sand nicht besonders schnell voran.
»Sie kommen, Aaron«, sagte sie. »Mach weiter.«
Als Aaron zum Luftholen den Kopf hob, sah Ballard, dass die Lippen des Verunglückten blau angelaufen waren.
Inzwischen hatten die Rettungssanitäter die Gruppe erreicht und lösten Aaron ab, der sich in den Sand legte und um Atem rang. Er war noch nass von der Rettungsaktion und beobachtete aufmerksam, wie die Sanitäter den Mann intubierten, Wasser aus seiner Lunge pumpten und ihm dann einen Beatmungsbeutel anlegten.
Ballard kauerte neben Aaron nieder. Sie hatten eine lockere sexuelle Beziehung, die mit keinerlei Verpflichtungen verbunden war, wenn sie nicht zusammen waren. Aaron war ein gut aussehender Mann mit einem v-förmigen muskulösen Oberkörper, einem kantigen Gesicht und von der Sonne fast weiß gebleichten Haaren und Augenbrauen.
»Was ist passiert?«, flüsterte sie.
»Er ist in eine Unterströmung geraten«, flüsterte Aaron zurück. »Ich bin ewig nicht aus ihr rausgekommen, sobald ich ihn mal auf dem Brett hatte. Scheiße aber auch, überall am Strand waren die Warnschilder hoch.«
Aaron setzte sich auf, als er sah, dass die Rettungssanitäter den Mann offensichtlich so weit reanimiert hatten, dass er wieder einen Puls hatte, und ihn auf die Bahre legten.
»Helfen wir ihnen«, sagte Ballard.
Sie und Hayes liefen über den Sand und hoben zusammen mit den Sanis die Bahre hoch, um sie zum Parkplatz zu tragen, wo der Rettungswagen wartete. Einer der Sanis trug die Bahre nur mit einer Hand und betätigte mit der anderen weiter den Beatmungsbeutel.
Drei Minuten später war der Rettungswagen weg, und Ballard und Hayes standen, die Hände an den Hüften, ausgepumpt auf dem Parkplatz. Inzwischen waren auch die Freunde und Angehörigen des Verunglückten nachgekommen, und Aaron sagte ihnen, in welches Krankenhaus er gebracht wurde. Die hysterische Frau umarmte ihn, bevor sie den anderen zu ihren Autos folgte.
»Das ist mir jetzt ganz schön nahegegangen«, sagte Ballard.
»Ja«, sagte Hayes. »Das war diesen Monat schon der Dritte. Die Unterströmungen haben es echt in sich.«
Ballard hatte jedoch etwas anderes im Sinn, etwas, das sich vor vielen Jahren an einem fernen Strand ereignet hatte. Das Bild eines zerbrochenen Surfboards, das von den Wellen an den Strand gespült wurde. Die junge Renée, die das glitzernde Blau nach ihrem Vater absuchte.
»Ist irgendwas?«, fragte Hayes.
Ballard riss sich von ihren Erinnerungen los und bemerkte den seltsamen Blick in seinem Gesicht.
»Nein, nein, alles okay«, sagte sie.
Sie sah auf die Uhr. An den meisten Tagen versuchte sie nach einem Morgen auf dem Wasser, an dem sie entweder surfte oder paddelte, sechs Stunden im Zelt zu schlafen. Wegen des Aufruhrs in Zusammenhang mit der Rettungsaktion war sie jedoch schon nach vier Stunden wach geworden. Ihr war klar, dass sie infolge des Adrenalinschubs, den der Spurt über den Sand ausgelöst hatte, nicht mehr schlafen könnte.
Deshalb beschloss sie, früh mit der Arbeit zu beginnen. Es galt noch, weitere Erkundigungen über Johannes den Täufer einzuziehen und mehrere Kisten mit Filzkarten durchzusehen, und zwar unabhängig davon, ob sich der Mann aus der Moonlight Mission als potentieller Tatverdächtiger entpuppte oder nicht.
»Musst du jetzt nicht alles zu Protokoll geben?«, fragte sie Hayes.
»Ja, schon. Der Beach Captain wird demnächst aufkreuzen und alles aufnehmen.«
»Sag mir Bescheid, wenn ich dir irgendwie helfen kann.«
»Mach ich, danke.«
Sie umarmte ihn zaghaft, bevor sie sich abwandte und zu ihrem Zelt ging, um ihre Sachen und den Hund zu holen. Als sie aufs Meer hinausschaute, kehrten die Erinnerungen an Hawaii zurück: ihr verschwundener Vater und das Bedürfnis, ganz nah am Wasser zu bleiben und auf etwas zu warten, was nie eintreten würde.