Ballard hatte ihre Dienstmarke gezückt, als die Tür aufging. Der Mann, der vor ihr stand, wirkte besorgt, aber nicht überrascht. Er war im Trainingsanzug, und eine Hand steckte in der Bauchtasche seines ärmellosen Kapuzenpullovers. Er sah aus wie ein typischer Better-living-through-science-Anhänger. Er hatte muskelbepackte Arme sowie die vorstehenden Halsadern und den harten Blick eines Steroid-Junkies. Sein braunes Haar war glatt nach hinten frisiert. Seine grünen Augen waren glasig. Er war kleiner als Ballard, aber wahrscheinlich doppelt so schwer.
»Mr. Bechtel? Mr. Theodore Bechtel?«
»Ted. Ja?«
»Ich bin Detective Ballard, LAPD. Ich hätte ein paar Fragen an Sie. Darf ich reinkommen?«
Bechtel antwortete nicht. Aber er machte einen Schritt zurück, um sie eintreten zu lassen. Um ihn nicht aus den Augen zu lassen, drehte Ballard sich leicht zur Seite, als sie an ihm vorbei nach drinnen ging. Im Moment ging sie davon aus, dass er der Einbrecher war. Sie wollte ihm keine Gelegenheit bieten, den Anklagepunkten gegen ihn auch noch schwere Körperverletzung oder Mord hinzuzufügen.
Als Bechtel den Arm ausstreckte, um die Tür hinter ihr zu schließen, hielt sie ihn zurück.
»Würde es Ihnen was ausmachen, sie offen zu lassen? Gleich werden noch zwei meiner Kollegen kommen.«
»Wenn Sie meinen.«
Sie drehte sich in der runden Diele zu ihm um und wartete auf weitere Anweisungen. Aber Bechtel sah sie nur an.
»Sie kommen wegen der Warhols, oder?«, fragte er schließlich.
Damit hatte sie nicht gerechnet. Sie brauchte eine Weile, um sich eine Antwort zurechtzulegen.
»Soll das heißen, Sie haben sie?«
»Ja. Sie sind in meinem Arbeitszimmer. Dort kann ihnen nichts passieren.«
Er nickte, als wäre er sehr zufrieden mit sich.
»Dürfte ich sie mal sehen?«
»Klar. Kommen Sie.«
Bechtel führte Ballard einen kurzen Flur hinunter und in ein Arbeitszimmer. Dort lehnten die Drucke mit den roten Lippen an der Wand. Bechtel breitete die Arme aus, als wollte er sie Ballard präsentieren.
»Ich glaube, es sind Marilyn Monroes«, bemerkte er dazu.
»Wie bitte?« Ballard sah ihn verständnislos an.
»Die Lippen. Warhol hat Marilyns Lippen für die Bilder verwendet. Hab ich im Internet gelesen.«
»Mr. Bechtel, können Sie mir erklären, warum sich diese Drucke in Ihrem Haus befinden und nicht an der Wand des Hauses gegenüber?«
»Ich habe sie sicherheitshalber hierhergebracht.«
»Sicherheitshalber. Wer hat Sie darum gebeten?«
»Gebeten hat mich niemand darum. Mir war nur klar, dass es jemand tun muss.«
»Wieso das?«
»Na ja, weil jeder wusste, dass sie sie hatte. Sie wären garantiert gestohlen worden.«
»Deshalb haben Sie sie zuerst gestohlen.«
»Nein, ich habe sie nicht gestohlen. Ich habe Ihnen doch gesagt, ich habe sie hier in Sicherheit gebracht. Um sie für ihre rechtmäßige Erbin aufzubewahren. Mehr nicht. Soviel ich gehört habe, hatte sie in New York eine Nichte, die alles bekommt.«
»Soll das Ihre Erklärung für Ihr Vorgehen sein? Sie finden, dass diese Aktion gewissermaßen unter Nachbarschaftshilfe fällt?«
»Ganz genau.«
Ballard machte einen Schritt von ihm zurück und rekapitulierte kurz, was sie wusste und was sie an Beweisen und Zeugenaussagen hatte.
»Was machen Sie beruflich, Mr. Bechtel?«
»Ich verkaufe Nahrungsergänzungsmittel. In meinem Laden unten im Flachland.«
»Gehört Ihnen dieses Haus?«
»Ich wohne zur Miete.«
»Wie lang leben Sie schon hier oben?«
»Drei Monate … Nein, vier.«
»Wie gut kannten Sie die Frau, die gegenüber gewohnt hat?«
»Eigentlich gar nicht. Wir haben uns nur gegrüßt, wenn wir uns gesehen haben, mehr nicht.«
»Ich glaube, jetzt muss ich Sie auf Ihre Rechte aufmerksam machen.«
»Wie bitte? Wollen Sie mich etwa verhaften?«
Er wirkte aufrichtig überrascht.
»Mr. Bechtel, Sie haben das Recht, die Aussage zu verweigern. Alles, was Sie sagen, kann und wird vor Gericht gegen Sie verwendet werden. Sie haben das Recht, sich von einem Anwalt vertreten zu lassen. Wenn Sie sich keinen Anwalt leisten können, wird Ihnen einer gestellt. Verstehen Sie Ihre Rechte, wie ich sie Ihnen erklärt habe?«
»Das finde ich jetzt aber ziemlich eigenartig. Ich wollte doch nur ein guter Nachbar sein.«
»Verstehen Sie Ihre Rechte, wie ich sie Ihnen gerade erklärt habe?«
»Klar verstehe ich sie, Scheiße noch mal. Aber das ist doch kompletter Blödsinn. Ich habe nichts …«
»Setzen Sie sich bitte auf diesen Stuhl.«
Ballard deutete auf einen an der Wand stehenden Stuhl. Sie deutete so lange darauf, bis Bechtel sich widerstrebend darauf setzte.
»Schon verrückt«, sagte er. »Da versucht man mal, was Gutes zu tun, und prompt bekommt man deswegen Ärger.«
Ballard holte ihr Handy heraus und drückte die Schnellwahl für das Büro der Schichtleiterin. Sie hatte Verstärkung angefordert, bevor sie bei Bechtel geklingelt hatte, weil Felsen und Torborg zu einem anderen Einsatz gerufen worden waren, während sie sich ein paar Häuser weiter das Video der Überwachungskamera angesehen hatte. Inzwischen sah es so aus, als müsste sie ganz allein eine Festnahme wegen einer schweren Straftat machen. Auch nach dem sechsten Läuten ging niemand dran. Während sie wartete, zog sie sich unauffällig ein paar Schritte weiter von Bechtel zurück, damit sie mehr Zeit zum Reagieren hätte, falls er auf die Idee kommen sollte, sich nicht verhaften lassen zu wollen.
Endlich meldete sich jemand. Es war eine Stimme, die sie nicht kannte.
»Hier ist 6-William-25. Wo bleibt meine Verstärkung?«
»Ähm … Also, hier auf der Tafel sehe ich nichts. Haben Sie auch wirklich Verstärkung angefordert?«
»Ja, vor fünfzehn Minuten. Schicken Sie jemand los. Sofort. Auf der Stelle. Und halten Sie die Verbindung.«
Ballard bellte die Adresse ins Telefon, dann konzentrierte sie sich wieder auf Bechtel. Der Frage, warum keine Verstärkung losgeschickt worden war, würde sie später nachgehen.
Bechtel hatte beide Hände in der Bauchtasche seines Hoodie.
»Nehmen Sie bitte Ihre Hände aus der Tasche und halten Sie sie so, dass ich sie sehen kann«, forderte sie ihn auf.
Bechtel gehorchte, aber er schüttelte den Kopf, als hielte er das alles für ein einziges Missverständnis.
»Wollen Sie mich wirklich verhaften?«
»Würden Sie mir erklären, warum Sie über das Dach des Hauses gegenüber geklettert, von der Terrasse aus eingebrochen sind und drei Kunstwerke im Wert von mehreren hunderttausend Dollar entwendet haben?«
Bechtel antwortete ihr nicht. Er schien überrascht, wie viel sie wusste.
»Ja, es gibt Videoaufnahmen davon«, sagte Ballard.
»Irgendwie musste ich ja schließlich ins Haus kommen«, sagte Bechtel. »Sonst hätte es jemand anders getan, und dann wären die Gemälde weg.«
»Es sind übrigens Drucke.«
»Egal. Ich habe sie jedenfalls nicht gestohlen.«
»Haben Sie außer den Drucken sonst noch etwas mitgenommen?«
»Nein, warum das denn? Mir ging’s nur um die Gemälde … Um die Drucke, meine ich.«
Ballard überlegte, ob sie Bechtel Handschellen anlegen sollte, damit er keine Bedrohung mehr darstellte, oder ob sie auf die Verstärkung warten sollte, die jetzt vielleicht noch einmal zehn, fünfzehn Minuten brauchen würde. Wenn man mit einem Verdächtigen warten musste, der sich nicht vollständig unter Kontrolle befand, war das eine lange Zeit.
»Ob Sie eine Straftat begangen haben, hat die Staatsanwaltschaft zu entscheiden. Aber ich nehme Sie jetzt fest. Zuerst muss ich Sie bitten …«
»Das ist doch totaler Blödsinn.«
»… aufzustehen und sich mit dem Gesicht zur Wand zu drehen. Dann knien Sie sich auf den Boden und verschränken die Hände hinter dem Kopf.«
Bechtel stand vom Stuhl auf, aber damit hatte es sich.
»Knien Sie sich auf den Boden, Sir.«
»Nein, ich knie mich nicht hin. Ich habe nichts getan.«
»Sie sind verhaftet, Sir. Knien Sie sich auf den Boden und verschränken Sie …«
Sie sprach den Satz nicht zu Ende. Bechtel kam auf sie zu. In diesem Moment war Ballard vollkommen klar, dass sie, wenn sie jetzt ihre Pistole zog, wahrscheinlich auch Gebrauch davon machen müsste und dass das vermutlich das Ende ihrer Karriere wäre, wie berechtigt ein Schusswaffeneinsatz in dieser Situation auch wäre.
Unklar war nur, ob Bechtel sie angreifen oder bloß versuchen wollte, an ihr vorbeizukommen und das Zimmer zu verlassen.
Er tat so, als steuerte er auf die Tür zu, aber dann wirbelte er plötzlich zu ihr herum. Ballard versuchte, seinen Vorteil – sein Gewicht und seine Muskeln – gegen ihn zu verwenden.
Ballard versetzte Bechtel einen gezielten Tritt in den Unterleib und wich zwei Schritte zurück, als er laut stöhnend vornüber kippte und auf sie zu wankte. Sie packte ihn am rechten Handgelenk und Ellbogen, drückte das Handgelenk nach unten und den Ellbogen nach oben, und schleuderte ihn gleichzeitig über ihr Bein. Er landete bäuchlings auf dem Boden und sie stemmte ihre ganzen 55 Kilo Gewicht mit den Knien in seinen Rücken.
»Keine Bewegung!«
Daran hielt er sich aber nicht. Er grunzte wie ein Monster und versuchte, sich aufzurichten, indem er sich wie für Liegestütze mit den Händen vom Boden hochstemmte. Als ihm Ballard darauf ein Knie in die Rippen rammte, sackte er ächzend wieder auf den Boden. Sie zog rasch die Handschellen von ihrem Gürtel und hatte eine bereits über seinem rechten Handgelenk einrasten lassen, bevor er merkte, was sie tat. Gegen die nächste setzte er sich erbittert zur Wehr, aber Ballard konnte sich die Hebelwirkung zunutze machen. Sie zog seine Handgelenke über seiner Wirbelsäule zusammen und legte ihm die zweite Handschelle an. Gefahr gebannt.
Atemlos, aber auch stolz, dass sie den wesentlich stärkeren Mann niedergerungen hatte, richtete sie sich auf.
»Jetzt kommen Sie ins Gefängnis, Arschloch.«
»Das ist alles ein einziges Missverständnis. Das können Sie doch nicht machen.«
»Das können Sie dem Richter erzählen. Die tun nichts lieber, als sich von Typen wie Ihnen irgendwelchen Scheiß anzuhören.«
»Das wird Ihnen noch leidtun.«
»Glauben Sie mir, das tut es mir jetzt schon. Aber das ändert nichts daran, dass Sie ins Gefängnis kommen.«