Ballard war niedergeschlagen. Beim Verlassen von Monahans Villa wusste sie nicht, welche der beiden Personen, die sie gerade vernommen hatte, ein verabscheuungswürdigeres Exemplar der menschlichen Rasse war. Trotzdem würde diese Nacht für keinen von beiden Konsequenzen nach sich ziehen. Sie beschloss, ihre Abscheu auf Chloe Lambert zu richten, die mit ihrem Verhalten eine gute Sache verraten hatte. Bei jeder begrüßenswerten Bewegung und jedem Fortschritt der Menschheit gab es Verräter, die das Rad der Geschichte wieder ein Stück zurückdrehten.
Sie versuchte, diese Gedanken abzuschütteln, als sie die Station durch den Hintereingang betrat und den Flur zum Bereitschaftsraum hinunterging. Sie hatte eine halb volle Kiste mit Filzkarten dabei, die sie vor Schichtende noch durchsehen wollte. Sie sah auf die Uhr. 4:15 Uhr. Sie hatte vor, einen Bericht über den Einsatz im Electra Drive zu schreiben. Sie würde nichts unter den Tisch kehren, alle beteiligten Personen namentlich erwähnen und ihr Verhalten schildern, auch wenn die Ermittlungen bisher zu nichts geführt hatten. Sie würde den Bericht in das Fach des Leiters des Detective Bureau legen, und von diesem Punkt an müsste jemand anders darüber entscheiden, wie in der Sache weiter vorzugehen war. Sie konnte an die Spezialeinheit weitergeleitet oder sogar der Staatsanwaltschaft zur Prüfung vorgelegt werden. Möglicherweise sickerte es im weiteren Verlauf auch an die Medien durch. Aber egal, wie es weiterging, würde sie den Schwarzen Peter weiterreichen, und das behagte ihr gar nicht. Sie hätte beide wegen unterschiedlicher Vergehen auf der Stelle verhaften können, aber dann wäre ihr Vorgehen von einem Führungsstab, der sie nicht mochte und haben wollte, untersucht und bewertet worden. Irgendetwas hätten sie bestimmt zu bemängeln gefunden, um sie noch mehr aufs Abstellgleis schieben zu können, fort von dem, was sie am meisten brauchte: ihren Job bei der Late Show.
Sie betrat den Bereitschaftsraum und steuerte auf die Ecke zu, in der sie sich vor ein paar Stunden an die Arbeit gemacht hatte. Sie hatte sie fast erreicht, als sie einen vertrauten grau gelockten Haarschopf über einer der halbhohen Trennwände des Abteils bemerkte. Bosch.
Er sah den letzten zehn Zentimeter dicken Packen Filzkarten aus der Kiste durch, die sie aus dem Lager geholt hatte.
»Dann lassen sie Sie also einfach hier reinmarschieren, wie es Ihnen gerade passt«, sagte sie statt einer Begrüßung.
»Ehrlich gesagt habe ich mich heute Nacht selbst reingelassen«, sagte Bosch. »Sie wollten meinen 999er nie zurückhaben, als ich hier aufgehört habe.«
Ballard nickte.
»Jedenfalls, ich muss noch einen Bericht schreiben und kann deshalb vorerst keine Filzkarten durchsehen.«
»Ich bin inzwischen beim letzten Packen angelangt. Ich gehe gleich mal rüber und hole eine neue Kiste.«
»Dann komme ich lieber mit. Machen wir es am besten gleich – bevor ich mit dem Schreiben anfange. Dann erzähle ich Ihnen unterwegs das Neueste über Johannes den Täufer.«
Sie gingen durch die Station zurück zum Hintereingang und auf den Parkplatz hinaus. Ballard erzählte Bosch von ihrem neuerlichen Besuch in der Moonlight Mission und dem Gespräch mit McMullen. Sie sagte, dass ihr Riecher ihr nach wie vor sagte, dass McMullen nicht ihr Mann war, und erzählte Bosch von den Taufen, die er in seinen Kalendern vermerkt hatte, und von dem Foto von Daisy, das sie gefunden hatte.
»Dann haben Sie also eine konkrete Verbindung zwischen ihm und dem Opfer hergestellt«, sagte Bosch. »Er hat sie gekannt.«
»Er hat sie ein paar Monate vor ihrem Tod getauft«, sagte Ballard. »Aber so ungewöhnlich ist das auch wieder nicht. Sie war eine Nachtschwärmerin, und er ist nachts in Hollywood unterwegs, um Seelen zu retten. Da würde es mich eher wundern, wenn sie sich nicht über den Weg gelaufen wären. Jedenfalls glaube ich nach wie vor nicht, dass er bei der Sache die Finger im Spiel hat, und möglicherweise habe ich sogar ein Alibi für McCullens Lieferwagen.«
Sie erzählte ihm, dass der Transporter in der Nacht der Entführung und des Mords in der Werkstatt gewesen war.
»McMullen hat es nachgesehen und mir die Adresse der Werkstatt geschickt«, sagte sie. »Sobald sie heute Morgen öffnen, fahre ich hin, um zu sehen, ob sich bestätigen lässt, dass der Lieferwagen bei ihnen war, als Daisy entführt wurde. Und wenn dem so ist, brauchen wir mit Johannes dem Täufer nicht mehr länger unsere Zeit zu verschwenden.«
Bosch sagte nichts. Damit gab er zu verstehen, dass er noch nicht bereit war, den Missionar von der Liste der potentiellen Verdächtigen zu streichen.
»Und wie kommen Sie mit Ihrem Durchsuchungsbeschluss-Fall voran?«, fragte Ballard.
»Nicht ganz wie erhofft«, sagte Bosch. »Wir haben die Kugeln, nach denen wir gesucht haben, gefunden, aber sie taugen nicht für einen Vergleich. Und dann ist meine Quelle draußen in Alhambra zum Schweigen gebracht worden.«
»Ach du Scheiße! Besteht da ein Zusammenhang?«
»Sieht ganz so aus. Von seiner eigenen Gang aus dem Weg geräumt. LAPD SWAT hat den Killer gestern Abend in Sylmar gefasst. Als ich gegangen bin, hat er noch nicht geredet, aber wir wissen, dass er dem engen Umfeld unseres Verdächtigen im Cold Case angehört. Wenn man den Staub von einem alten Verfahren bläst, passieren manchmal schlimme Dinge.«
Ballard sah ihn im schwachen Licht des Parkplatzes forschend an. War das eine Warnung in Hinblick auf den Fall Daisy Clayton?
Das letzte Stück zum Lager legten sie schweigend zurück. Dort nahm sich jeder eine Kiste mit Filzkarten und ging in die Station zurück. Bevor sie das Lager verließen, warf Ballard einen Blick auf die Kisten im Flur. Sie hatten sie etwa zur Hälfte durch.
Auf dem Weg zurück über den Parkplatz legte Bosch eine Verschnaufpause ein und stellte seine Kiste auf dem Kofferraum eines Streifenwagens ab.
»Ich habe Probleme mit dem Knie«, erklärte er. »Normalerweise lasse ich mich akupunktieren, wenn es zu schlimm wird. Aber im Moment komme ich nicht dazu.«
»Angeblich sind künstliche Kniegelenke inzwischen schon besser als richtige«, sagte Ballard.
»Das wäre natürlich auch eine Option. Aber dann wäre ich eine Weile aus dem Verkehr gezogen. Und dann kann ich vielleicht gar nicht mehr zurück.«
Er hob die Kiste wieder hoch und ging weiter.
»Da fällt mir ein«, sagte er. »Erinnern Sie sich noch an das GRASP-Programm? Oder war das noch vor Ihrer Zeit?«
»Damals habe ich noch Streifendienst gemacht«, sagte Ballard. »›GRASP on Crime, Zugriff aufs Verbrechen‹. Klar erinnere ich mich noch. Eine reine PR-Masche.«
»Natürlich, aber es war noch hochaktuell, als Daisy ermordet wurde. Deshalb habe ich mich gefragt, was aus den ganzen Daten geworden ist, die sie damals gesammelt haben. Wenn es sie noch irgendwo gibt, könnten wir uns vielleicht einen besseren Eindruck von den Verhältnissen in Hollywood zur Zeit des Mords verschaffen.«
GRASP war ein PR-Trick eines ehemaligen Polizeichefs gewesen, der beim LAPD die Zügel in die Hand nahm und die Werbetrommel für die Thinktank-Idee rührte, Kriminalität unter geographischen Kriterien zu untersuchen, um besser feststellen zu können, wie Personen und Einrichtungen ins Visier genommen wurden. Es wurde von der Polizei mit viel Trara angekündigt, verschwand aber schon wenige Jahre später wieder sang- und klanglos in der Versenkung, als ein neuer Polizeichef mit neuen Ideen ans Ruder kam.
»Ich weiß nicht mehr, wofür es stand«, sagte Ballard. »Ich war damals in der Pacific Division bei der Streife und weiß nur noch, dass ich auf dem MDC die Formulare ausgefüllt habe. Irgendwas mit geographisch und so.«
»Geographic Reporting and Safety Program«, half ihr Bosch auf die Sprünge.
»Dafür dürften die Typen im ASS Office ganz schön Überstunden runtergerissen haben.«
»Im ASS Office?«
»Die Acronym Selection Section, wo sie sich die griffigen Abkürzungen ausdenken. Nie davon gehört? Dort sind mindestens zehn Mann Vollzeit beschäftigt.«
Ballard musste lachen. Sie hob das Knie und hielt die Kiste mit einer Hand auf ihrem Oberschenkel, um die Tür der Station aufzuschließen. Dann drückte sie sie mit der Hüfte auf und ließ Bosch als Ersten nach drinnen.
Sie gingen den Flur hinunter.
»Wenn ich in die GRASP-Dateien reinschaue«, sagte sie, »fange ich mit dem ASS Office an.«
»Sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie was finden.«
Zurück an ihrem Schreibtisch bemerkte Ballard den blauen Ordner, der dort lag. Sie öffnete ihn.
»Was ist das?«, fragte sie.
»Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich ein neues Mordbuch angelegt habe«, erklärte ihr Bosch. »Ich dachte, Sie wollen vielleicht auch was dazu beitragen, zum Beispiel eine Chrono erstellen. Ich finde, es sollte bei Ihnen bleiben.«
Im Moment enthielt der Ordner nur wenige Berichte. Einer davon war eine Zusammenfassung eines Gesprächs, das Bosch mit einem leitenden Angestellten von American Storage Products über den Abfallcontainer geführt hatte, in dem Daisy Claytons Leiche entsorgt worden war.
»Okay«, sagte Ballard. »Ich drucke alles aus, was ich habe, und hefte es hier ab. In meinem Computer habe ich bereits eine Chrono angelegt.«
Als sie den Ordner zuklappte, sah sie, dass er alt und das blaue Plastik des Deckels verblichen war. Bosch recycelte ein altes Mordbuch, was sie nicht überraschte. Sie vermutete, dass er die Akten einiger alter Fälle bei sich zu Hause hatte. Er gehörte zu dieser Sorte von Ermittlern.
»Haben Sie den Fall, zu dem der Ordner ursprünglich gehört hat, gelöst?«, fragte sie.
»Ja«, sagte Bosch.
»Gut«, sagte sie.
Sie machten sich an die Arbeit. In dieser Schicht wurde Ballard nicht mehr zu einem Einsatz gerufen. Nachdem sie ihren Bericht geschrieben und eingereicht hatte, nahm sie sich die Filzkarten vor. Bis Tagesanbruch hatten sie die zwei Kisten, die sie aus dem Lager geholt hatten, durchgesehen und dem Stapel, der einer genaueren Überprüfung unterzogen werden sollte, aber keine sofortigen Maßnahmen erforderte, fünfzig weitere Karten hinzugefügt. Bosch hatte Ballard bei der Durchsicht der Karten alle möglichen Storys aus seiner Zeit bei Hollywood Homicide in den neunziger Jahren erzählt. Dabei war ihr aufgefallen, dass er, oder in einigen Fällen auch die Medien, vielen seiner Ermittlungsverfahren griffige Namen gegeben hatte: die Frau im Koffer, der Mann ohne Hände, der Puppenmacher und so weiter. Es war, als wären Morde damals noch Ereignisse gewesen. Inzwischen schien nichts mehr neu zu sein, nichts mehr zu schockieren.
Ballard packte die beiden Stapel mit den Karten, die in die engere Wahl gekommen waren, zum Mordbuch.
»Ich bringe das jetzt in mein Schließfach«, sagte sie, »und dann fahre ich in die Werkstatt. Möchten Sie mitkommen? In die Werkstatt, meine ich.«
»Nein«, sagte Bosch. »Das heißt, eigentlich schon, aber ich glaube, ich fahre lieber ins Valley hoch und sehe, was sich dort getan hat. Und wenn es geht, lasse ich mir unterwegs noch ein paar Nadeln ins Knie stechen.«
»Dann hören wir später voneinander. Ich sage Ihnen Bescheid, wenn ich was rausfinde.«
»Das hört sich doch schon mal ganz gut an.«