Als Ballard von der Station losfuhr, holte sie sich als Erstes einen Latte macchiato. Während sie darauf wartete, bekam sie von Aaron eine Textnachricht, in der er sagte, dass er den ganzen Tag frei habe. Das fasste sie so auf, dass der Mann, den er aus der Unterströmung gezogen hatte, nicht überlebt hatte und Aaron deshalb einen »Therapietag« erhielt, um den Vorfall zu verarbeiten. Sie textete ihm zurück, dass sie noch etwas erledigen müsse, bevor sie an den Strand führe.

Die zwei Werkstatttore von Zocalo Auto Services waren offen, als sie dort eintraf. Weil sie anschließend nicht noch einmal in die Station zurückfahren wollte, hatte sie ihren Transporter genommen.

In einem der offenen Arbeitsbereiche stand ein Mann, der seine ölverschmierten Hände an einem Lumpen abputzte und den Ford Transit mit dem Boardhalter auf dem Dach interessiert musterte. Ballard stieg aus und zeigte ihm rasch ihre Dienstmarke, um ihn erst gar nicht auf die Idee kommen zu lassen, dass sie eine potentielle Kundin sein könnte.

»Ist der Inhaber oder der Geschäftsführer zu sprechen?«, fragte sie.

»Das bin ich«, sagte der Mann. »Beides in einer Person. Ephrem Zocalo.«

Er hatte einen starken Akzent.

»Detective Ballard, LAPD, Hollywood Division. Ich bräuchte Ihre Hilfe, Sir.«

»Was kann ich für Sie tun?«

»Ich versuche zu bestätigen, dass ein bestimmter

»Ja, wir haben Unterlagen. Aber das ist schon sehr lange her.«

»Haben Sie sie im Computer? Damit Sie nur den Namen eingeben müssen?«

»Nein, im Computer haben wir sie nicht. Aber wir haben die Belege … Allerdings alles auf Papier.«

Das hörte sich nicht wahnsinnig professionell an, aber Hauptsache, sie hatten überhaupt irgendwelche Unterlagen.

»Haben Sie sie hier?«, fragte sie. »Kann ich sie mir mal ansehen? Ich habe den Namen und das Datum.«

»Klar, kommen Sie mit nach hinten.«

Er führte sie in ein kleines an die Werkstatt angrenzendes Büro. Dabei kamen sie an einem Mechaniker vorbei, der in einer Grube unter einem Auto zugange war. Begleitet vom hohen Jaulen eines Akkuschraubers entfernte er die Getriebeabdeckung. Er beäugte Ballard argwöhnisch, als sie Zocalo ins Büro folgte.

Das Büro bot kaum genügend Platz für einen Schreibtisch, einen Stuhl und drei Aktenschränke mit jeweils vier Schüben. Auf den Etikettenhaltern der Schübe standen von Hand geschriebene Jahreszahlen, denen zufolge Zocalos Unterlagen zwölf Jahre zurückreichten. Das machte Ballard Hoffnung.

»2009 haben Sie gesagt?«, fragte Zocalo.

»Ja«, sagte Ballard.

Er fuhr mit dem Finger die Schübe hinauf und hinunter, bis er den für 2009 fand. Die Jahreszahlen waren nicht chronologisch angeordnet, woraus Ballard schloss, dass er jedes Jahr die ältesten Unterlagen wegwarf und die neuen in der leer gewordenen Schublade aufbewahrte.

Der Schub für 2009 war der zweite von oben im mittleren

»Ich werde nichts durcheinanderbringen«, sagte sie.

Zocalo zuckte nur mit den Achseln. »Sie können gern den Schreibtisch nehmen.«

Damit überließ er sie sich selbst und ging in die Werkstatt zurück. Ballard hörte, wie er zu dem anderen Mann etwas auf Spanisch sagte, aber sie redeten so schnell, dass sie nichts verstand. Sie hörte jedoch das Wort migra heraus, woraus sie schloss, dass der Mechaniker in der Grube fürchtete, sie könnte von der Einwanderungsbehörde sein.

Als sie den Schub herauszog, zeigte sich, dass er nur zu einem Drittel mit Belegen gefüllt war. Sie nahm etwa die Hälfte des gegen die Rückwand des Schubs gelehnten Packens heraus und trug ihn zum Schreibtisch, der von einer dicken Schicht Wagenschmiere überzogen war. Offensichtlich machte Zocalo nicht am Waschbecken Halt, wenn er nach der Arbeit in der Werkstatt den Papierkram erledigte. Auch viele der Rechnungskopien waren voller Ölflecken.

Da die Rechnungen nach dem Datum sortiert waren, brauchte Ballard nicht lange, um die Unterlagen für den Lieferwagen von Johannes dem Täufer zu finden. Sie nahm sich sofort die fragliche Woche vor und fand rasch eine Rechnung für den Einbau eines neuen Getriebes in einen Ford Econoline, die auf den Namen John McMullen unter der Adresse der Moonlight Mission ausgestellt war. Die Tage, an denen der Lieferwagen in der Werkstatt gestanden hatte, stimmten mit den leeren Feldern in McMullens Kalender überein und fielen in die Zeit, in der Daisy Clayton verschwunden und schließlich tot aufgefunden worden war.

Ballard blickte sich in dem kleinen Büro um, entdeckte aber kein Kopiergerät. Sie legte alle Unterlagen bis auf McMullens Rechnung in den Schub zurück und schloss ihn. Dann ging sie aus dem Büro in die Garage. Zocalo war bei

»Das ist, wonach ich gesucht habe, Mr. Zocalo. Kann ich die Rechnung mitnehmen und eine Kopie davon machen? Wenn Sie das Original noch brauchen, bringe ich es Ihnen zurück.«

Zocalo schüttelte den Kopf.

»Eigentlich brauche ich sie nicht mehr. Behalten Sie sie einfach. Schon okay.«

»Wirklich?«

»Sí, sí, kein Problem.«

»Okay, dann danke, Sir. Hier ist meine Karte. Wenn Sie mal meine Hilfe brauchen können, rufen Sie mich einfach an, ja?«

Sie reichte ihm eine Visitenkarte in die Grube hinunter, worauf sie prompt mit einem öligen Daumenabdruck versehen wurde, als Zocalo sie an sich nahm.

Ballard verließ die Werkstatt und blieb an ihrem Transporter stehen. Sie holte ihr Handy heraus und machte ein Foto von der Rechnung, die ihr Zocalo überlassen hatte. Dann schickte sie Bosch das Foto mit folgender Nachricht:

Bestätigt. Lieferwagen des Täufers war in der Werkstatt, als Daisy entführt wurde. Er ist aus dem Schneider.

Bosch antwortete nicht sofort. Ballard stieg in ihren Transporter und fuhr in Richtung Venice los.

Sie geriet in die morgendliche Völkerwanderung in Richtung Westen und brauchte fast eine Stunde zu der Haustierbetreuungseinrichtung, in die sie Lola über Nacht gebracht hatte. Nachdem sie ihren Hund abgeholt und in der Gegend um den Abbot Kinney Boulevard einen kurzen Spaziergang mit ihm gemacht hatte, kehrte sie zu ihrem Transporter

Parkplätze waren in der Nähe der Kanäle Mangelware, weshalb Ballard wie so oft, wenn sie Aaron besuchte, auf dem städtischen Parkplatz am Venice Boulevard parkte und auf der Dell Avenue zu Fuß ins Kanalviertel ging. Aaron teilte sich mit einem anderen Rettungsschwimmer eine Doppelhaushälfte am Howland Canal. Auch in der anderen Hälfte wohnten Rettungsschwimmer, bei denen ein ständiges Kommen und Gehen herrschte. Nur Aaron, der gern in Venice Beach arbeitete, war jetzt schon zwei Jahre hier. Während es viele nach Malibu und hinauf zu den Stränden weiter im Norden zog, hatte Aaron keine diesbezüglichen Ambitionen und wohnte deshalb schon am längsten in dem Doppelhaus, dessen Haupterkennungsmerkmal der Briefkasten in Form eines Delfins war.

Ballard wusste, dass Aaron allein zu Hause sein musste, weil Rettungsschwimmer nur tagsüber arbeiteten. Sie tätschelte den Kopf des Delfins und führte Lola an der Leine durchs Gartentor. Die Schiebetür im Erdgeschoss war für sie offen gelassen worden, und sie ging, ohne zu klopfen, nach drinnen.

Aaron lag mit geschlossenen Augen auf der Couch und hatte eine Flasche Tequila auf seiner Brust stehen. Er erschrak, als ihm Lola das Gesicht ableckte. Er griff nach der Flasche, bevor sie hinunterfiel.

»Alles okay?«, fragte Ballard.

»Jetzt schon«, sagte er.

Er setzte sich auf und lächelte sichtlich erfreut. Er hielt ihr die Tequilaflasche hin, aber sie schüttelte den Kopf.

»Lass uns nach oben gehen«, sagte er.

Ballard wusste, was in ihm vorging. Jede Begegnung mit dem Tod – sei es, dass man ihm selbst knapp entronnen war oder den eines anderen Menschen miterlebt hatte – zog ein

Ballard sah Lola an und deutete auf das Hundebett in der Ecke. Aaron hatte einen Pitbull, den er aber offensichtlich weggebracht hatte, obwohl er den Tag freihatte. Lola stieg brav auf das runde Kissen, drehte sich dreimal um ihre Achse und setzte sich schließlich so, dass sie die Schiebetür im Blick hatte. Sie würde das Haus bewachen. Es war nicht einmal nötig, die Tür zu schließen.

Ballard ging zur Couch, nahm Aaron an der Hand und führte ihn zur Treppe.

»Sie haben ihn gestern Abend um neun, nachdem sie die ganze Familie in die Klinik bestellt haben, vom Beatmungsgerät genommen«, begann er, als sie nach oben gingen. »Ich bin auch hingefahren, was ich vielleicht lieber nicht hätte tun sollen. War jedenfalls nicht so toll für mich. Wenigstens haben sie mir keine Vorwürfe gemacht. Schneller hätte ich ihn nicht rausholen können.«

Ballard tröstete ihn, als sie die Schlafzimmertür erreichten.

»Das ist alles Vergangenheit«, sagte sie. »Das vergessen wir jetzt schnell.«

Dreißig Minuten später lagen sie ausgelaugt und eng umschlungen auf dem Boden von Aarons Schlafzimmer.

»Wie sind wir denn hier gelandet?«, fragte Ballard.

»Keine Ahnung«, sagte Aaron.

Er streckte die Hand nach der Tequilaflasche auf dem Holzboden aus, aber Ballard stieß sie mit dem Fuß von ihm fort. Sie wollte, dass er sich anhörte, was sie ihm sagen wollte.

»Hey!«, sagte Aaron in gespielter Entrüstung.

»Hab ich dir eigentlich mal erzählt, dass mein Vater ertrunken ist?«, fragte sie. »Als ich noch ein halbes Kind war.«

»Nein, aber das ist ja furchtbar.«

»War das hier irgendwo?«, fragte Aaron.

»Nein, in Hawaii«, sagte Ballard. »Dort haben wir damals gelebt. Es ist beim Surfen passiert. Sie haben ihn nicht mehr gefunden.«

»Das tut mir leid, Renée. Ich …«

»Es ist lange her. Ich habe mir nur immer gewünscht, sie hätten ihn gefunden, verstehst du? Es war einfach komisch, dass er sich auf sein Board gelegt hat und rausgeschwommen ist – und nicht mehr zurückgekommen ist.«

Sie blieben eine Weile still.

»Jedenfalls musste ich bei diesem Typen gestern daran denken«, fuhr Ballard schließlich fort. »Du hast ihn wenigstens reingeholt.«

Aaron nickte.

»Das muss damals schrecklich für dich gewesen sein«, sagte er. »Warum hast du mir das nicht früher erzählt?«

»Wieso?«

»Ich weiß auch nicht. Es ist nur … Keine Ahnung, dein Vater ertrinkt im Meer, und jetzt schläfst du meistens am Meer. Und dann wir beide, und ich bin Rettungsschwimmer. Was heißt das?«

»Keine Ahnung. Darüber mache ich mir keine Gedanken.«

»Hat deine Mutter wieder geheiratet?«

»Nein, sie hatte sich damals schon längst abgeseilt. Ich glaube, sie hat es erst viel später mitbekommen.«

»O Mann. Das wird ja immer schlimmer.«

Er hatte den Arm um sie gelegt, direkt unterhalb ihrer Brüste. Er zog sie an sich und küsste ihren Nacken.

»Ich glaube nicht, dass ich täte, was ich jetzt tue, wenn das damals anders gelaufen wäre«, sagte Ballard. »So viel steht fest.«

Aber er griff nicht danach, sondern hielt sie weiter in den Armen. Das gefiel ihr.