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Nachdem sie den Tag mit Aaron Hayes und Lola verbracht hatte, fuhr Ballard nach Downtown, um mit Heather Rourke von der Hubschrauberstaffel des LAPD im Denny’s am Eingang des Piper Tech, auf dessen Dach die Hubschrauberstaffel stationiert war, zu Abend zu essen.

Die beiden Frauen hatten sich miteinander angefreundet und trafen sich regelmäßig ein-, zweimal im Monat vor Schichtbeginn zum Essen. Beide hatten die Friedhofsschicht und arbeiteten häufig zusammen, wenn Ballard zur Aufklärung oder zur Rückendeckung bei einem Einsatz Unterstützung aus der Luft benötigte. Ihr erstes gemeinsames Essen war ein Dankeschön Ballards dafür gewesen, dass Rourke sie vor einem maskierten Mann gewarnt hatte, der ihr auflauerte, als sie wegen eines Einbruchs zu einem Einsatz gerufen wurde. Wie sich später herausstellte, war der Mann von Ballard bei einer früheren Gelegenheit wegen versuchter Vergewaltigung festgenommen worden. Er war bis zum Beginn seines Prozesses gegen Kaution auf freien Fuß gesetzt worden und hatte in der Hoffnung, dass Ballard an den Tatort gerufen würde, einen vermeintlichen Einbruch gemeldet.

Rourke hatte im Nachtsichtgerät ihres Hubschraubers eine Wärmesignatur gesehen und Ballard über Funk gewarnt, worauf der Maskierte nach einer kurzen Verfolgungsjagd zu Fuß festgenommen werden konnte. Anschließend hatte

Bei ihren gemeinsamen Essen tauschten Ballard und Rourke hauptsächlich Klatsch über Kollegen aus. Ballard hatte Rourke schon früh von ihrer Strafversetzung aus der Robbery-Homicide Division erzählt, aber bei den späteren Treffen hatte sie mehr zugehört als selbst geredet, weil sie hauptsächlich allein arbeitete und in der Late Show der Hollywood Division immer nur mit demselben kleinen Kollegenkreis zu tun hatte. Es war ein eng begrenztes, in sich geschlossenes Umfeld, aus dem sich von Essen zu Essen wenig polizeiinterne Neuigkeiten berichten ließen. Rourke dagegen gehörte einer großen Einheit mit insgesamt achtzehn Hubschraubern an, die damit die größte polizeiliche Lufteinsatztruppe des Landes war. Weil es dort neben festen Dienstzeiten auch eine Gefahrenzulage gab, zog es viele altgediente Officers zu der Einheit. Da diese aus den unterschiedlichsten Bereichen des LAPD kamen und weiterhin in engem Kontakt zu ihren alten Einheiten standen, bekam Rourke im Aufenthaltsraum viel von ihren Kollegen mit und hielt Ballard darüber gern auf dem Laufenden. Die beiden waren ein eingeschworenes Team.

Ballard bestellte bei diesen Treffen immer das Frühstück, weil sie das für ein Gericht hielt, bei dem man nicht viel falsch machen konnte. Auf das Denny’s war ihre Wahl gefallen, weil es für Rourke günstiger gelegen war und Ballard ihre gemeinsamen Essen weiterhin als ein Dankeschön für die Warnung vor dem maskierten Vergewaltiger betrachtete. Außerdem waren beide Frauen Fans des Films Drive, in

Im Moment erzählte Ballard Rourke gerade von den Ermittlungen zu dem neun Jahre zurückliegenden Mord an Daisy Clayton und ihrer Begegnung mit Harry Bosch, von dem Rourke bis dahin nichts gehört hatte.

»Irgendwie ist es komisch mit ihm«, sagte Ballard. »Einerseits arbeite ich gern mit ihm zusammen, zumal ich bestimmt einiges von ihm lernen kann. Aber ich habe auch das Gefühl, ihm nicht recht trauen zu können. Es ist, als würde er mir nicht alles erzählen, was er weiß.«

»Bei der Sorte musst du auf der Hut sein«, sagte Rourke. »Dienstlich wie privat.«

Rourke war in ihrer grünen Fliegermontur, die gut zu ihrem rotbraunen Haar passte, das sie wie die meisten anderen Polizistinnen, die Ballard kannte, kurz trug. Sie war zierlich und wog weniger als fünfzig Kilo, was bei einer Hubschraubereinheit sicher von Vorteil war, weil dort das Gewicht in Hinblick auf Auftrieb und Treibstoffverbrauch ein wichtiger Faktor war.

Da Rourke sich mehr für Ballards andere Fälle und das Geschehen auf dem Boden interessierte, erzählte ihr Ballard von der toten Frau, deren Katze ihr das Gesicht zerfressen hatte, und von den jungen Spannern auf dem Dach des Stripclubs.

Als es Zeit wurde zu gehen und Ballard sich die Rechnung schnappte, sagte Rourke, das nächste Mal wäre sie an der Reihe.

»Call me if you need me«, trällerte Rourke, wie sie das immer tat, wenn sie sich voneinander verabschiedeten.

Und mit einem alten Steve-Miller-Song antwortete Ballard wie gewohnt: »Fly like an eagle«.

Als Ballard in ihren Transporter stieg, musste sie wegen ihres Abschiedsgrußes an den Mann namens Eagle

Sie checkte ihre Nachrichten, um zu sehen, ob Bosch während des Abendessens angerufen hatte. Es waren keine Nachrichten eingegangen, und sie fragte sich, ob er diese Nacht noch auftauchen würde. Sie nahm den Freeway 101 bis zur Ausfahrt Sunset Boulevard und traf zwei Stunden vor Beginn ihrer Schicht in der Hollywood Station ein. Sie wollte mit Spätschichtleiter Lieutenant Gabriel Mason sprechen, der vor neun Jahren, damals noch Sergeant, von der Hollywood Division für das GRASP-Programm des LAPD abgestellt worden war.

Da in Hollywood in der Spätschicht, die grob von fünfzehn Uhr bis Mitternacht dauerte, am meisten los war, waren für diese Schicht immer zwei Lieutenants eingeteilt. Einer war Mason, der andere war Hannah Chavez. Ballard kannte Mason nicht besonders gut, weil sich ihre wenigen Kontakte mit den Kollegen von der Spätschicht auf Chavez beschränkten. Sie hielt es für das Beste, die Sache ganz direkt anzugehen.

Sie fand Mason im Aufenthaltsraum, wo er auf einem der Tische seine Einsatzkalender ausgebreitet hatte. Er war ein typischer Bürohengst mit Brille und messerscharf gescheiteltem schwarzem Haar. Seine Uniform sah neu und proper aus.

»Lieutenant?«, sprach Ballard ihn an.

Er schaute verärgert über die Störung auf, aber seine Miene erhellte sich, sobald er sah, dass es Ballard war.

»Sie sind ja früh hier, Ballard«, sagte er. »Danke, dass Sie so prompt reagiert haben.«

Ballard schüttelte verständnislos den Kopf.

»Ja, ich habe Ihnen eine Nachricht in Ihr Fach gelegt«, sagte Mason. »Haben Sie sie nicht bekommen?«

»Nein. Was steht an? Eigentlich bin ich hier, um Sie was zu fragen.«

»Sie müssen nachprüfen, ob eine als vermisst gemeldete Person zu Hause ist.«

»In der Nachtschicht?«

»Ich weiß, ich weiß, aber in diesem Fall scheint tatsächlich irgendwas faul zu sein. Die Anweisung kommt aus dem zehnten Stock. Ein Vermisster, reagiert schon eine Woche nicht mehr auf Anrufe, auch keine Lebenszeichen in den sozialen Medien. Wir sind heute schon ein paarmal bei ihm vorbeigefahren, und sein Mitbewohner sagt jedes Mal, er ist nicht zu Hause. Wir können also nicht viel tun, aber wenn Sie mitten in der Nacht bei ihm läuten, ist der Typ entweder zu Hause oder nicht. Und wenn nicht, gehen wir einen Schritt weiter.«

Mit dem zehnten Stock war das OCP – das Office of the Chief of Police – im zehnten Stock des Police Administration Building gemeint.

»Und wer ist dieser Typ?«, fragte Ballard.

»Ich habe ihn gegoogelt«, sagte Mason. »Wie es aussieht, ist sein Vater ein Freund des Bürgermeisters. Hat sich durch großzügige Spenden einen Namen gemacht. Das heißt, wir können die Sache nicht einfach aussitzen. Wenn er auch heute Nacht nicht zu Hause ist, schicken Sie einen Bericht an Captain Whittle, und er erstattet dann dem OCP Meldung. Dann hat sich der Fall für uns erledigt – oder auch nicht.«

»Okay. Haben Sie Namen und Adresse?«

»Steht alles auf dem Zettel in Ihrem Fach. Und ich setze es auf den Aktivitätenbericht für Ihren Lieutenant.«

»Alles klar.«

»So, und weswegen wollten Sie mich sprechen?«

»Ich arbeite an einem alten Fall von 2009«, begann sie. »Ausreißerin, Straßenstrich, tot in einer Seitenstraße des Cahuenga gefunden. Ihr Name ist Daisy Clayton.«

Mason dachte kurz nach, schüttelte dann aber den Kopf.

»Sagt mir nichts.«

»Hätte mich auch gewundert«, sagte Ballard. »Aber ich habe mich ein bisschen umgehört. Damals waren Sie hier für das GRASP-Programm zuständig.«

»Erinnern Sie mich bloß nicht. Der reinste Albtraum.«

»Ich weiß, dass das Ganze eingestellt wurde, sobald der neue Chief im Amt war. Was mich allerdings interessieren würde, ist, was aus den Verbrechensdaten der Hollywood Station geworden ist.«

»Wie? Warum?«

»Ich suche nach Anhaltspunkten, die uns bei der Aufklärung des Mords an diesem Mädchen weiterbringen könnten, und dachte, es könnte vielleicht nicht schaden, wenn ich mir mal ansehe, was sich in dieser Nacht beziehungsweise Woche bei uns alles getan hat. Wie Sie sich wahrscheinlich denken können, haben wir bisher noch so gut wie nichts, weshalb ich mich an jeden Strohhalm klammere.«

»Wer ist wir

»Das habe ich nur so gesagt. Ich meine natürlich ich. Wissen Sie denn, was aus den Daten von damals geworden ist, als GRASP eingestellt wurde?«

»Ja, die wurden alle die digitale Toilette runtergespült. Als die neue Führung eine andere Richtung eingeschlagen hat, wurde alles gelöscht.«

Ballard runzelte die Stirn und nickte. Fehlanzeige.

»Zumindest offiziell«, fügte Mason hinzu.

Ballard sah ihn an. Was wollte er damit sagen?

Ballards Herz begann schneller zu schlagen. Sie wusste, dass Typen wie der von Mason beschriebene GRASP-Guru sich viel auf ihr Können einbildeten. Auch wenn der Zivilist, dessen Baby das Projekt war, von höchster Stelle Anweisung erhalten hatte, das Programm zu beenden und die Daten zu vernichten, bestand die Möglichkeit, dass er diesem Befehl nicht nachgekommen war.

»Wissen Sie noch, wie er hieß?«, fragte Ballard.

»Ja, das will ich doch meinen«, sagte Mason. »Ich hatte zwei Jahre lang täglich mit ihm zu tun. Professor Scott Calder. Ich weiß zwar nicht, ob er noch an der USC ist, aber ursprünglich war er im Institut für Computer Science und hat dann ein Sabbatical genommen.«

»Danke, L.T. Dann müsste er an sich zu finden sein.«

»Hoffentlich bringt es Sie weiter. Und vergessen Sie den Vermissten nicht.«

»Ich sehe gleich in meinem Fach nach.«

Ballard stand auf, setzte sich aber wieder und sah Mason an. Mit dem, was sie jetzt vorhatte, riskierte sie, den potentiellen Beginn einer soliden Beziehung zu einem Vorgesetzten ins genaue Gegenteil zu verkehren.

»Noch was?«, fragte Mason.

»Ja, L.T.«, sagte Ballard. »Gestern war ich schon in der Spätschicht im Einsatz und habe einen Mann wegen eines Einbruchs verhaftet. Da ich allein unterwegs war, habe ich Verstärkung angefordert. Es ist aber nie eine gekommen. Der Verdächtige hat mich zu überrumpeln versucht, aber

»Ich war derjenige, der Ihren Anruf entgegengenommen hat, als Sie gefragt haben, wo die Truppen bleiben.«

»Habe ich mir fast gedacht. Haben Sie denn inzwischen rausgefunden, was da los war?

»Tut mir leid, dazu bin ich noch nicht gekommen. Ich wurde durch andere Dinge aufgehalten. Ich weiß nur, dass kein Anruf am Schwarzen Brett war. Da muss zwischen Zentrale und Schichtleiter irgendwas schiefgelaufen sein. Wir wurden jedenfalls nicht verständigt. Ich habe keine Bitte um Verstärkung rausgehen hören.«

Ballard sah den Lieutenant forschend an.

»Darf ich das so verstehen, dass das Problem nicht in der Hollywood Station zu suchen ist, sondern in der Zentrale.«

»Nach meinem aktuellen Kenntnisstand, ja.«

Mason saß schweigend da. Er machte keine Anstalten, von sich aus nachzuhaken. Er wollte offensichtlich keinen Staub aufwirbeln und ließ Ballard gegenüber keinen Zweifel daran, dass es ihre Sache war, dem weiter nachzugehen.

»Okay, danke, Lieutenant«, sagte sie, stand auf und verließ den Raum.