Ballard loggte sich mit ihrem Passwort in die LAPD- Datenbank ein und startete eine Suche nach dem Mann, der auf seinem Foto in der Moonlight Mission mit Eagle unterschrieben hatte. In der Datenbank gab es ein Archiv mit Tausenden von Spitznamen und Pseudonymen, die aus Polizeiberichten, Festnahmeprotokollen und Außendienstvernehmungen stammten.

Wie sich herausstellte, war Eagle ein weit verbreiteter Spitzname. Ballard erzielte 241 Treffer. Indem sie die Suche auf weiße Männer über dreißig eingrenzte, konnte sie diese Zahl auf 68 reduzieren. Sicherheitshalber holte sie noch einmal das neun Jahre alte Foto heraus, das sie sich in der Mission ausgeliehen hatte. Der darauf abgebildete Mann sah aus wie Mitte/Ende zwanzig, was bedeutete, dass er inzwischen über dreißig sein musste. Sie grenzte die Suche weiter ein, indem sie Männer über vierzig ausschloss.

Als schließlich noch sechzehn Namen übrig waren, machte sie sich daran, die dazugehörigen Fotos und Berichte aufzurufen. Männer, die überhaupt nicht aussahen wie der Mann auf dem Foto, das ihr Johannes der Täufer gegeben hatte, sortierte sie sofort aus. Beim elften Mann, den sie sich ansah, wurde sie schließlich fündig. Er hieß Dennis Eagleton und war 37 Jahre alt. Die Polizeifotos, die bei Festnahmen zwischen 2008 und 2013 gemacht worden waren, passten zum Gesicht des Mannes auf dem Foto aus der Mission.

Sie rief alle Berichte über Eagleton in der Datenbank auf und druckte sie aus. Er war mehrmals wegen Drogendelikten und Herumtreiberei, aber nur einmal wegen

Das ist nicht das erste oder letzte Mal, dass uns »Eagle« über den Weg laufen wird.

Durch seine Adern fließt ein Strom aus tiefem, schwärendem Hass.

Ich kann seine Aggressivität spüren, ich kann sie sehen.

Er wartet. Er hasst. Er macht der Welt zum Vorwurf, dass sie ihn um alle Hoffnung betrogen hat.

Ich fürchte um uns.

Ballard las Farmers Einschätzung ein zweites Mal. Er hatte sie fünf Jahre nach dem Mord an Daisy Clayton geschrieben. Könnte die tiefsitzende Aggressivität, die Farmer in Eagleton gesehen hatte, bereits 2009 zum Ausbruch gekommen sein? Hatte Farmer nicht so sehr die Zukunft gesehen, sondern die Vergangenheit?

Die nächste halbe Stunde versuchte Ballard, Eagleton zu lokalisieren, aber sie konnte nichts über ihn finden. Keinen Führerschein, keine Festnahmen jüngeren Datums. Das letzte Dokument über ihn war die von Farmer ausgefüllte Filzkarte. Er hatte Eagleton kontrolliert, als er sich an dem Metro-Eingang im Hollywood Boulevard nicht weit von der Vine Street herumtrieb. In das Feld für »Beruf« hatte Farmer »Bettler« geschrieben. Seitdem gab es keine Hinweise mehr, dass Eagleton noch am Leben war. Mit Sicherheit ließ sich

Inzwischen war es nach Mitternacht, Zeit, um der Vermisstenmeldung nachzugehen, mit deren Überprüfung Lieutenant Mason sie beauftragt hatte. Sie benutzte ein BOLO-Formular, um einen Suchaufruf für Eagleton zu schreiben und ihn bei allen Appellen verteilen zu lassen. Nachdem sie seine drei jüngsten Polizeifotos eingefügt hatte, schickte sie das Ganze an den Gemeinschaftsdrucker und loggte sich aus. Es konnte losgehen.

Zuerst brachte sie den BOLO-Aufruf ins Büro des Schichtleiters und teilte Lieutenant Munroe mit, dass sie die Station verlassen würde, um der Vermisstenmeldung nachzugehen. Munroe sagte, er würde umgehend eine Streife, die gerade mit einem unwichtigen Einsatz in der fraglichen Gegend fertig wurde, zu ihrer Unterstützung losschicken.

Der Vermisste hieß Jacob Cady. Er wohnte in der Willoughby, fast an der Grenze von West Hollywood, in einer Eigentumswohnung. Ballard hielt im Halteverbot vor dem vierstöckigen Haus und hielt nach ihrer Verstärkung Ausschau, konnte sie aber nirgendwo sehen. Als sie darauf Munroe anfunkte, sagte er ihr, die Streife habe ihren Einsatz noch nicht beendet.

Ballard beschloss, zehn Minuten zu warten und dann notfalls allein in das Haus zu gehen. Sie holte ihr Handy heraus und checkte ihre Textnachrichten. Es waren keine Antworten eingegangen, weder auf die Nachricht, die sie Bosch über Johannes den Täufer geschickt hatte, noch auf die Whatsapp an Aaron Hayes, in der sie sich erkundigt hatte, wie es ihm ging. Aus Furcht, ihn zu wecken, wollte sie ihm nicht noch einmal schreiben.

Als Nächstes checkte sie ihre Mails und sah, dass auf die Anfrage, die sie Scott Calder an die Adresse der USC gemailt hatte, bereits eine Antwort eingegangen war. Als sie sie

Nach zehn Minuten war immer noch keine Verstärkung aufgetaucht. Ballard beschloss, sich zuerst Jacob Cadys Internetprofil anzusehen. In wenigen Minuten hatte sie herausgefunden, dass er der 29-jährige Sohn eines gleichnamigen Unternehmers mit guten Kontakten zur City Hall war, der mehrere große städtische Wartungsaufträge zugeteilt bekommen hatte. Der Sohn wollte offensichtlich nichts mit der väterlichen Firma zu tun haben und bezeichnete sich auf Facebook als Partyplaner. Seinen Facebook-Fotos nach zu urteilen, war Cady jr. ein typischer Jetsetter mit einer ausgeprägten Vorliebe für mexikanische Ferienorte und Männer. Schlank und braungebrannt, mit blonder Föhnfrisur, stand er auf figurbetonte Kleidung und Tito’s Vodka.

Zwanzig Minuten nach ihrem Eintreffen stieg Ballard aus dem Auto und ging mit ihrem Funkgerät auf den Eingang des Wohnhauses zu. Sie funkte den Schichtleiter an und teilte ihm mit, dass sie allein reingehen würde.

Den Unterlagen zufolge, die ihr Lieutenant Mason ins Fach gelegt hatte, war Cady der Eigentümer der Dreizimmerwohnung und hatte einen Teil davon an einen Mitbewohner namens Talisman Prada untervermietet. Bei den zwei vorangegangenen Kontrollbesuchen war Prada an die Tür gekommen und hatte den Streifenpolizisten gegenüber behauptet, Cady habe zwei Tage zuvor in einer Bar einen Mann kennengelernt und sei mit ihm nach Hause gegangen. Das erklärte allerdings nicht, warum Cady nicht mehr auf Textnachrichten, Mails und Anrufe reagierte. Oder warum sein Auto auf seinem Stellplatz in der Tiefgarage des Hauses stand.

»Ja, wer ist da?«

»Mr. Cady?«

»Der ist nicht zu Hause.«

Die Verbindung wurde unterbrochen. Ballard klingelte noch einmal.

»Was ist?«

»Mr. Prada?«

»Wer ist da?«

»Polizei. Würden Sie bitte die Eingangstür öffnen?«

»Ich habe Ihnen doch gesagt, dass Jacob nicht hier ist. Sie haben mich geweckt.«

»Noch mal, Mr. Prada, hier ist die Polizei. Öffnen Sie die Tür.«

Darauf blieb es eine Weile still, bis endlich der Summer ertönte. Ballard öffnete die Tür. Sie hielt noch einmal nach der Verstärkung Ausschau, sah aber nichts. Sie blickte sich im Eingangsbereich um. Dort gab es eine Reihe von Briefkästen und darunter eine Ablage, auf der mehrere Zeitungen lagen. Ballard nahm eine davon und klemmte sie in die Eingangstür, damit die Streifenpolizisten – falls sie jemals auftauchten – sofort nach drinnen kommen konnten. Während sie auf den Lift wartete, erkundigte sie sich über Funk nach ihnen. Diesmal sagte Munroe, die Streife sei bereits unterwegs.

Ballard fuhr mit dem Lift in den zweiten Stock.

Ein Stück den Flur hinunter sah sie dort einen Mann vor einer offenen Wohnungstür stehen. Er trug eine seidene Schlafanzughose, kein Oberteil. Er war klein, aber muskulös und hatte pechschwarzes Haar.

Ballard ging auf ihn zu und fragte: »Mr. Prada?«

»Ja«, sagte der Mann. »Könnten wir das vielleicht schnell hinter uns bringen? Ich würde gern wieder schlafen.«

»Strafrechtliche Ermittlungen? Seit wann ist es verboten, sich ein paar Tage mit einem Lover zu verkriechen?«

»Wir glauben nicht, dass das der Fall ist. Könnten Sie bitte in die Wohnung zurückgehen, damit ich nach drinnen kommen kann?«

Ballard taxierte Prada, als er zurückwich und sie die Wohnung betrat. Er war nicht viel größer als eins sechzig und wog etwa fünfzig Kilo. Es war klar, dass er keine Waffe hatte. Prada entging nicht, dass Ballard die Tür offen ließ.

»Würden Sie sie bitte schließen?«, sagte er.

»Nein, lassen Sie sie offen«, sagte Ballard. »Gleich kommen noch zwei Streifenpolizisten.«

»Meinetwegen. Schauen Sie sich um. Er ist nicht da. Aber machen Sie bitte schnell.«

»Danke.«

Ballard betrat das Wohnzimmer und drehte sich um 180 Grad. Die moderne Wohnung war geschmackvoll eingerichtet. Gekalkter Holzboden, Sofa und Sessel ohne Armlehnen, gläserner Couchtisch. Alles sorgfältig aufeinander abgestimmt wie in einer Wohnzeitschrift. Im angrenzenden Esszimmer standen ein quadratischer Tisch mit Edelstahlbeinen und dazu passende Stühle. An der Wand dahinter hing ein drei mal ein Meter achtzig großes Gemälde, das aus schwarzen Wischern auf weißem Grund bestand.

Wie um zu unterstreichen, dass Cady nicht da war, breitete Prada die Arme aus.

»Zufrieden jetzt?«

»Zeigen Sie mir doch noch die Schlafzimmer«, sagte Ballard.

»Bei einer Vermisstenanzeige nicht. Falls Mr. Cady verletzt ist oder Hilfe benötigt, müssen wir ihn finden.«

»Dann suchen Sie aber an der falschen Stelle.«

»Kann ich die Schlafzimmer sehen?«

Prada führte sie durch den Rest der Wohnung, und wie sie vermutet hatte, fehlte jede Spur von Jacob Cady. Sie holte ihre Taschenlampe heraus und inspizierte damit den begehbaren Kleiderschrank des Schlafzimmers, das laut Prada Cady gehörte. Er war voller Kleider, und auf einem Bord war ein leerer Koffer. Als sie den Schrank verließ, fiel ihr auf, dass das Bett ordentlich gemacht war und niemand darin geschlafen hatte.

Pradas Schlafzimmer sah bewohnter aus. Das Bett war nicht gemacht, und über dem Stuhl eines Schminktischs, den Ballard eher im Zimmer einer Frau erwartet hätte, hingen mehrere Kleidungsstücke. Die Schranktür war offen, und der Boden war mit Klamotten übersät.

»Nicht jeder ist so ordentlich wie Jacob«, bemerkte Prada.

Ballard hörte im Wohnzimmer Stimmen und drehte sich zur Tür.

»Wir kommen«, rief Ballard in den Flur hinaus.

Ballard und Prada kehrten ins Wohnzimmer zurück, wo Herrera und Dyson warteten. Ballard nickte den Streifenpolizistinnen zu.

»Gut, dass ihr es geschafft habt«, sagte sie.

»Sind Sie jetzt endlich fertig?«, fragte Prada ungeduldig, bevor die beiden Streifenpolizistinnen antworten konnten. »Ich würde mich jetzt gern wieder schlafen legen. Ich habe morgen mehrere Termine.«

»Noch nicht ganz«, sagte Ballard. »Diesmal muss ich einen umfassenden Bericht schreiben. Könnte ich bitte Ihren Pass oder Führerschein sehen?«

»Ja, Sir, ist es. Sie wollen doch bestimmt weiter kooperieren. So werden Sie uns am schnellsten wieder los.«

Prada ging in sein Schlafzimmer. Ballard nickte Herrera zu, damit sie ihm folgte und ihn im Auge behielt.

Ballard schaute sich noch einmal im Wohnzimmer um. Alle Einrichtungsgegenstände waren sorgfältig aufeinander abgestimmt, aber irgendetwas passte nicht recht. Sie merkte, dass der Teppich für den Raum und die Möbel zu klein war und dass sich sein abstraktes Muster aus grauen, schwarzen und braunen Quadraten mit den gestreiften Bezügen der Polstermöbel biss. Als sie ins angrenzende Esszimmer schaute, stellte sie fest, dass unter dem quadratischen Tisch mit den Edelstahlstühlen kein Teppich war.

»Was ist dein Eindruck?«, flüsterte Dyson.

»Das hier irgendwas nicht stimmt«, flüsterte Ballard zurück.

Prada und Herrera kehrten ins Wohnzimmer zurück, und Herrera reichte Ballard einen Führerschein.

»Nur, damit Sie’s wissen«, sagte Prada, »mein Anwalt hat einen Antrag auf eine offizielle Namensänderung gestellt. Ich habe Sie nicht belogen. Ich bin DJ und brauche einen griffigeren Namen.«

Ballard schaute auf den Führerschein. Er war in New Jersey ausgestellt, und der Mann auf dem Foto war Prada, aber als Name war Tyler Tyldus angegeben. Ballard legte ihre Taschenlampe neben einer kleinen Skulptur eines Frauentorsos auf den Couchtisch. Sie nahm ein kleines Notizbuch und einen Stift aus ihrer Tasche und notierte sich die Angaben auf dem Führerschein.

»Was gefällt Ihnen an Tyler Tyldus nicht?«, fragte sie beim Schreiben.

»Zu phantasielos«, sagte Prada.

Ballard checkte das Geburtsdatum und stellte fest, dass er

»Was haben Sie morgen für Termine, Mr. Prada?«, fragte sie.

»Privatangelegenheiten«, sagte Prada. »Nichts, was die Polizei etwas angeht.«

Ballard nickte. Sie schrieb zu Ende und gab Prada den Führerschein zurück. Dann reichte sie ihm eine ihrer Visitenkarten und sagte:

»Danke für Ihre Kooperation. Falls Sie etwas von Mr. Cady hören, rufen Sie mich bitte unter dieser Nummer an und bitten Sie Mr. Cady, mich ebenfalls anzurufen.«

»Selbstverständlich.« Da inzwischen ein Ende der nächtlichen Störung abzusehen war, wurde Pradas Ton wieder freundlicher.

»Sie können sich jetzt wieder schlafen legen«, sagte Ballard.

»Danke«, sagte Prada.

Während Ballard darauf wartete, dass Herrera und Dyson zur Tür gingen, blickte sie auf den Teppich hinab. Ihr fiel etwas daran auf, was zunächst wie eine Unregelmäßigkeit im Muster, wie ein Knüpffehler im Material aussah. Doch dann merkte sie, dass es nur eine Vertiefung in der Oberfläche des Teppichs war. Er war vor so kurzer Zeit aus dem Esszimmer hierher gebracht worden, dass noch der Abdruck eines Tischbeins zu sehen war.

Prada begleitete sie zur Tür und schloss sie hinter ihnen. Ballard hörte, wie er sie von innen verriegelte.

Die drei Frauen begannen erst zu reden, als sie im Lift waren und die Tür zuging.

»Und?«, sagte Dyson.

Ballard hatte immer noch ihr Notizbuch in der Hand. Sie riss die Seite mit den Angaben über Tyler Tyldus heraus und gab sie Herrera.

»Hättest du nicht einfach nachsehen können?«, fragte Herrera. »Gefahr im Verzug.«

Ballard schüttelte den Kopf. Sich auf Gefahr im Verzug zu berufen war mit einigen Risiken verbunden. Man konnte deshalb bei einem späteren Gerichtsverfahren schnell Ärger bekommen.

»Gefahr im Verzug gilt für den Vermissten und mögliche ihm drohende Gefahren«, sagte Ballard. »Aber man sucht nach einem Vermissten nicht unter einem Teppich. Unter einem Teppich sucht man nach Beweisen. Ich werde einen Richter anrufen, dann können wir später keine Schwierigkeiten bekommen.«

»Gibt es ein Auto, das wir uns ansehen sollten?«, fragte Herrera.

»Angeblich hat das die Streife bereits bei der ersten Kontrolle getan«, sagte Ballard. »Sie haben sogar in den Kofferraum geschaut. Es steht in der Tiefgarage. Aber ich nehme es auch in den Durchsuchungsbeschluss auf, und dann sehen wir es uns noch mal an.«

»Hast du denn überhaupt genug für einen Durchsuchungsbeschluss?«, fragte Dyson.

Ballard zuckte mit den Achseln.

»Für den Fall, dass nicht, habe ich meine Taschenlampe in der Wohnung gelassen. Dann gehe ich noch mal hoch und wecke ihn.«