Ballards Anlaufstation in solchen Fällen war Superior Court Judge Carolyn Wickwire. Sie hatte zwar nicht immer Nachtdienst, aber sie mochte Ballard und hatte ihr ihre Handynummer gegeben und gesagt, sie könne sie jederzeit anrufen, egal zu welcher Uhrzeit. Wickwire war zuerst Polizistin gewesen, dann Staatsanwältin und hatte es nach einer langen Justizkarriere zur Richterin gebracht. Ballard vermutete, dass sie in deren Verlauf ebenfalls einiges an Frauenfeindlichkeit und Diskriminierung abbekommen hatte. Obwohl Ballard die Widrigkeiten, mit denen sie selbst zu kämpfen gehabt hatte, nie an die Öffentlichkeit getragen hatte, waren sie in Justizkreisen bestimmt einigen bekannt, und sie vermutete, dass Wickwire von ihnen wusste und mit ihr sympathisierte. Die beiden Frauen hatten einen guten Draht zueinander, und Ballard scheute sich nicht, sich das zunutze zu machen, wenn es ihren Ermittlungen diente. Sie rief Wickwire vom Eingangsbereich des Hauses aus an und riss sie aus dem Schlaf.
»Judge Wickwire, es tut mir furchtbar leid, Sie zu wecken. Hier ist Detective Ballard, LAPD.«
»Oh, Renée. Lange nichts mehr voneinander gehört. Wie geht es Ihnen?«
»Danke, gut. Aber ich muss einen telefonischen Durchsuchungsbeschluss bestätigt bekommen.«
»Okay, okay. Einen Augenblick nur. Ich muss erst meine Brille holen und richtig wach werden.«
Ballard wurde auf die Warteschleife gelegt. In der Zwischenzeit kam Herrera zu ihr. Sie hatte gerade Pradas Namen in den MDT-Terminal in ihrem Streifenwagen eingegeben.
»Kannst du gerade reden?«
»Solange ich in der Warteschleife bin. Irgendwas gefunden?«
»Nur ein paar VVs drüben in New Jersey und New York. Nichts Ernstes.«
Verkehrsverstöße. Ballard war klar, dass sie damit keinen Durchsuchungsbeschluss von der Richterin genehmigt bekäme.
»Okay«, sagte sie. »Wartet trotzdem noch ab, ob ich einen kriege. Kannst du rausfinden, ob es hier im Haus einen Hausmeister gibt?«
»Geht klar«, sagte Herrera.
Gerade als sie sich entfernte, kam Wickwire wieder ans Telefon.
»So, worum geht’s, Renée?«
»Es handelt sich um eine Vermisstenanzeige, aber ich glaube, irgendwas an der Sache ist faul. Deshalb muss ich unbedingt in die Wohnung des Vermissten und in die allgemein zugänglichen Bereiche des Hauses. Es ist alles ein bisschen kompliziert, weil der Mitbewohner des Vermissten eine Person von Interesse ist.«
»Sind die beiden ein Paar, oder wohnen sie nur zusammen?«
»Sie wohnen nur zusammen. Getrennte Schlafzimmer.«
»Okay, dann mal los. Was haben Sie alles?«
Ballard versuchte mit der Schilderung ihrer Ermittlungsschritte und der vorliegenden Fakten ganz gezielt, der Richterin die Sache schmackhaft zu machen und einen Tatverdacht zu konstruieren. Sie führte an, dass Jacob Cady inzwischen 48 Stunden vermisst wurde und auf keinerlei Nachrichten, sei es auf seinem Handy oder auf seiner Firmenwebsite, reagierte. Sie wies die Richterin darauf hin, dass Cadys Mitbewohner einen falschen Namen angegeben hatte, erwähnte aber nicht, dass er gerade dabei war, ihn offiziell ändern zu lassen. Sie sagte, Prada habe nur widerstrebend kooperiert, verschwieg aber, dass sie ihn um ein Uhr nachts aus dem Bett geholt hatte.
Zum Schluss erwähnte sie den Teppich und ihren Verdacht, dass er erst vor Kurzem an diese Stelle gelegt worden war, um etwas zu verbergen.
Als Ballard fertig war, dachte die Richterin eine Weile schweigend über Ballards Argumente für einen Tatverdacht nach, bis sie erklärte:
»Ich befürchte, das reicht nicht, Renée. Sie haben zwar einige interessante Fakten und Verdachtsmomente, aber keinerlei Beweise, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zugeht.«
»Die werde ich beschaffen, Judge«, sagte Ballard. »Ich werde herausfinden, warum der Teppich vom Esszimmer ins Wohnzimmer gelegt worden ist.«
»Bloß haben Sie vorerst noch den Karren vor das Pferd gespannt. Sie wissen, dass ich Ihnen helfen würde, wenn ich könnte, aber das ist mir zu wenig.«
»Was bräuchten Sie? Der Vermisste textet und twittert nicht, sein Auto steht in der Garage, er kümmert sich nicht um seine Firma. Es sieht so aus, als hätte er sämtliche Kleider zurückgelassen. Ihm ist eindeutig etwas zugestoßen.«
»Das will ich gar nicht abstreiten. Aber Sie haben keinerlei Hinweise, dass etwas Strafbares passiert ist. Der Gesuchte könnte an einem FKK-Strand unten in Baja sein, wo er keine Klamotten zum Wechseln braucht. Er könnte verliebt sein. Er könnte alles Mögliche sein. Der Punkt ist, in seiner Wohnung wohnt jemand, und Sie haben nicht das Recht, diese Wohnung ohne einen Tatverdacht zu durchsuchen.«
»Okay, Judge, danke. Sie hören wahrscheinlich wieder von mir, wenn ich habe, was Sie brauchen.«
Sie beendete das Gespräch. Dyson stand vor ihr.
»Kein Hausmeister, der im Haus wohnt«, sagte sie.
»Okay«, sagte Ballard. »Dann versuch mal, mit Herrera in die Tiefgarage zu kommen, und seht euch dort um.«
»Hast du den Durchsuchungsbeschluss gekriegt?«
»Nein. Ich fahre noch mal zu ihm hoch und hole mir meine Taschenlampe. Wenn ihr in zehn Minuten nichts von mir hört, kommt ihr nach.«
»Alles klar.«
Ballard nahm wieder den Lift in den zweiten Stock hinauf und klingelte bei Jacob Cady. Nach einer Weile hörte sie, wie in der Wohnung jemand an die Tür kam, und dann sagte Prada von drinnen: »Ich glaub’s nicht. Was ist?«
»Mr. Prada, würden Sie bitte die Tür öffnen.«
»Was wollen Sie jetzt schon wieder?«
»Öffnen Sie die Tür, damit wir nicht so laut sprechen müssen. Die Leute schlafen.«
Die Tür wurde aufgerissen. Der Ärger in Pradas Miene war unübersehbar.
»Ich weiß, dass die Leute schlafen. Ich wäre gern einer von ihnen. Was ist jetzt schon wieder?«
»Es tut mir leid. Ich habe meine Taschenlampe liegen lassen. Sie müsste in Jacobs Schrank sein. Könnten Sie sie mir holen?«
»Also wirklich!«
Prada drehte sich um und verschwand in den Gang, der zu den beiden Schlafzimmern führte. Ballard fiel auf, dass er inzwischen in ein T-Shirt mit den rosafarbenen Umrissen eines Wals geschlüpft war.
Sobald Prada nicht mehr zu sehen war, ging Ballard ins Wohnzimmer. Sie nahm die Taschenlampe vom Couchtisch, wo sie zum Teil von der Skulptur des weiblichen Torsos verdeckt wurde, und steckte sie ein. Dann hob sie einen gepolsterten Stuhl von der Ecke des Teppichs, stellte ihn leise auf den Holzboden, bückte sich und schlug die Ecke des Teppichs so weit zurück, dass er auf dem Couchtisch zu liegen kam.
Sie ging in die Hocke und inspizierte den Boden. Von dem gekalkten Holz war mit kreisenden Bewegungen ein Fleck gewischt worden. Jemand hatte diesen Bereich mit einem starken Reinigungsmittel gesäubert. Ballard sah die Nahtstellen zwischen den einzelnen Bodendielen. Die Chancen waren also hoch, dass Reste dessen, was weggewischt worden war, durch die Spalten auf den Estrich gesickert waren.
Ballard spürte Pradas schwere Schritte. Er kam zurück. Sie klappte den Teppich zurück, richtete sich auf und stellte den Stuhl wieder an seinen Platz, als Prada hereinkam.
»Da war keine«, sagte er. »Ich habe sie nicht gefunden.«
»Wirklich nicht?«, sagte Ballard. »Ich bin sicher, dass ich sie im Kleiderschrank dabeihatte.«
»Ich habe überall nachgesehen. Wenn Sie möchten, können Sie selbst noch mal schauen.«
»Nein, nein, schon gut.«
Ballard nahm ihr Funkgerät vom Gürtel und drückte zweimal darauf, bevor sie hineinsprach.
»6-Adam-14, hat jemand von euch meine Taschenlampe aus der Wohnung mitgenommen?«
Prada warf genervt die Hände hoch.
»Hätten Sie sie nicht schon fragen können, bevor Sie mich geweckt haben?«
Ballard behielt ihre Hand am Funkgerät, sodass es weiter sendete.
»Beruhigen Sie sich, Mr. Prada. Dürfte ich Ihnen noch eine letzte Frage stellen, dann haben Sie mich endlich los.«
»Klar, nur zu«, sagte Prada. »Aber dann lassen Sie mich endlich in Ruhe.«
»Was ist mit dem Teppich im Wohnzimmer passiert?«
»Wie bitte?«
Ballard entging das überraschte Aufleuchten seiner Augen nicht, als sie die Frage stellte. Es war Prada gewesen, der den Teppich ins Wohnzimmer gelegt hatte.
»Sie haben mich sehr wohl verstanden«, sagte sie. »Was ist mit dem Teppich passiert?«
»Der Teppich ist doch da«, sagte Prada, als spräche er mit einer Schwachsinnigen.
»Das ist aber der Esszimmerteppich. Die Abdrücke der Tischbeine sind noch darin zu sehen. Sie haben ihn ins Wohnzimmer gelegt, weil Sie den Teppich, der ursprünglich dort gelegen hat, aus der Wohnung entfernt haben. Was ist aus ihm geworden? Warum mussten Sie ihn loswerden?«
»Jetzt reicht es mir aber wirklich. Sie können gern Jacob nach den Teppichen fragen, wenn er zurückkommt. Dann werden Sie schon sehen, dass daran nichts Ungewöhnliches ist.«
»Er wird nicht zurückkommen. Das wissen Sie genauso gut wie ich. Erzählen Sie mir, was passiert ist, Tyler.«
»So heiße ich nicht. Ich heiße …«
Plötzlich riss Prada die Hände hoch und stürmte auf Ballard zu, als wollte er ihr an die Gurgel gehen. Aber darauf war sie gefasst. Sie wusste, dass ihn ihre Fragen zu einer extremen Reaktion verleiten würden. Sie drehte sich zur Seite von ihm weg und wich seinem Ansturm wie eine Stierkämpferin aus. Gleichzeitig riss sie die Hand, in der sie das Funkgerät hielt, hoch, drosch ihm damit auf die Wirbelsäule und stellte ihm ein Bein. Prada landete mit dem Gesicht voran in der Ecke des Zimmers. Ballard ließ das Funkgerät fallen und zog ihre Dienstpistole. Sie stellte einen Fuß auf Pradas Rücken und zielte auf seinen Hinterkopf.
»Wenn Sie Anstalten machen aufzustehen, schieße ich Ihnen in die Wirbelsäule. Dann werden Sie nie mehr gehen können.«
Ballard spürte, wie sich sein Körper anspannte. Er testete, wie viel Druck sie mit ihrem Fuß ausübte. Er erschlaffte jedoch sofort wieder und fügte sich.
»Kluger Junge«, sagte sie.
Als sie ihm Handschellen anlegte und ihn auf seine Rechte hinwies, hörte sie, wie draußen auf dem Gang die Lifttür aufging und Herrera und Dyson angelaufen kamen.
Wenige Augenblicke später waren sie bei ihr in der Wohnung.
»Setzt ihn auf einen Stuhl«, ordnete Ballard an. »Ich verständige schon mal die Mordkommission.«
Die zwei Streifenpolizistinnen beugten sich über Prada und packten ihn an den Armen.
»Er wollte mich umbringen«, sagte Prada unvermittelt. »Er hatte es auf meine Firma abgesehen, auf alles, was ich mir erarbeitet habe. Ich habe mich gewehrt. Dann ist er hingefallen und hat sich den Kopf angeschlagen. Ich wollte ihn nicht töten.«
»Und deshalb haben Sie seine Leiche in den Teppich eingeschlagen und heimlich weggebracht?«, fragte Ballard.
»Niemand hätte mir geglaubt. Sie glauben mir doch auch nicht.«
»Haben Sie Ihre Rechte verstanden, wie ich sie Ihnen erklärt habe?«
»Er wollte mich abmurksen.«
»Seien Sie still und beantworten Sie meine Fragen. Haben Sie Ihre Rechte verstanden, wie ich sie Ihnen erklärt habe? Oder möchten Sie, dass ich noch einmal alles wiederhole?«
»Ich habe sie verstanden, ja.«
»Okay. Wo ist Jacob Cadys Leiche?«
Prada schüttelte den Kopf.
»Sie werden sie nie mehr finden. Ich habe sie in einen Müllcontainer geworfen. Sie ist da, wo der Müll landet. Und dort gehört er auch hin.«
Ballard ging auf den Flur hinaus, um Lieutenant McAdam anzurufen, den Leiter des Detective Bureau der Hollywood Division, der Ballards eigentlicher Chef war, auch wenn sie ihn kaum zu sehen bekam. Er wollte über jeden Fall dieser Größenordnung persönlich in Kenntnis gesetzt werden. Es bereitete ihr einige Schadenfreude, ihn mitten in der Nacht zu wecken. Er schob konsequent von neun bis fünf Dienst.
»Hallo, Chef, hier Ballard«, sagte sie. »Wir haben einen Totschlag.«