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In Bosch weckte das Hubschraubergeräusch am Himmel Hoffnung. Aber den Mann, der ihn bewachte, versetzte es in Panik. Bosch hatte die ganze Nacht versucht, eine Beziehung zu ihm herzustellen. Er hatte ihn nach seinem Namen gefragt und gebeten, seine Fesseln zu lockern und ihn aus dem Käfig zu lassen, um seine verkrampften Beine zu dehnen. Und er hatte ihn gefragt, ob er sich wirklich mit der Ermordung eines Cops belasten wollte.

Aber der Mann hatte nichts gesagt. Er hatte Bosch nur angestarrt und ab und zu seine Pistole durch den Käfig auf ihn gerichtet. Bosch wusste, dass das nur eine leere Drohung war. Er wurde für etwas anderes am Leben gelassen. Oder für jemand anderen. Bosch vermutete, dass dieser Jemand Tranquillo Cortez war.

Sein Bewacher hatte den kalten Blick eines ehemaligen Knackis und die dazugehörigen Knasttattoos. Verblichene blaue Tinte. Bosch entdeckte keins der üblichen SanFer-Symbole – kein VSF, keine 13 –, die er bisher an jedem der Gang-Mitglieder gesehen hatte, mit denen er während seiner Zeit beim SFPD zu tun gehabt hatte. Einschließlich Tranquillo Cortez.

Bosch hatte die ganze Nacht versucht, sich das zu erklären, und war zu der Überzeugung gelangt, dass der Mann von der eMe, der mexikanischen Mafia, war und dass es sich hier um eine nichtautorisierte Operation handelte, die Cortez ohne

Es waren drei Männer nötig gewesen, um ihn aus seinem Haus zu entführen, sogar vier, wenn man den Fahrer des Jeep mitrechnete, der ihn durch die zerklüftete Hügellandschaft an diesen desolaten Ort gebracht hatte, und dann, in den letzten vier Stunden, noch dieser eine stumme Mann, der ihn bewachte. Jede Minute, die verging, fühlte sich für Bosch, gefesselt und in einen Hundekäfig gezwängt, wie eine Stunde an, jede Stunde wie ein Tag. Seine Gedanken kreisten um seinen nahen Tod. Während der Fahrt im Jeep hatte er genügend von den auf Spanisch geführten Gesprächen verstanden, um zu wissen, dass er am Ende an die Hunde verfüttert würde. Nicht klar war lediglich, ob das im wörtlichen oder übertragenen Sinn gemeint war und ob er, wenn Ersteres zutraf, dann noch am Leben wäre oder nicht.

Bei all dem beschäftigte ihn nur eins. Seine Tochter. Dass er sich nicht mit ihr ausgesprochen hatte. Dass er nicht mehr mitverfolgen könnte, wie sie als Erwachsene ihren Platz im Leben fand. Der Gedanke, sie nie mehr sehen oder mit ihr sprechen zu können, zerriss ihm das Herz. Ihn überkamen heftige Schuldgefühle, dass er seine letzten Monate als ihr Vater mit dem Versuch vertan hatte, eine Frau zu retten, die gar nicht gerettet werden wollte. In den dunkelsten Stunden vor dem Morgengrauen waren heiße Reuetränen über seine Wangen geflossen.

Doch dann ertönte direkt über ihnen das Hubschraubergeräusch. Das änderte alles. Schlagartig. Sowohl für Bosch als auch für seinen Bewacher. Bosch war im Lauf der Jahre an genügend Unterstützungseinsätzen beteiligt gewesen, um das hohe Heulen des Bell 206 Jet Ranger zu erkennen.

In seinem stummen Bewacher löste dasselbe Geräusch Panik und die damit einhergehenden Kampf-oder-Flucht-Reaktionen aus. Er ging zur Tür, öffnete sie einen Spalt und spähte zum Himmel hoch. Als er den Hubschrauber entdeckte, bestätigte er, was Bosch bereits wusste. Er kam von der Tür zum Käfig und richtete seine Pistole auf ihn.

Bosch hob, so gut ihm das auf so engem Raum möglich war, die Hände und sagte in gebrochenem Spanisch.

»Wenn du einen Cop umbringst, werden sie nicht aufhören, dich zu jagen.«

Der Mann zögerte. Bosch redete weiter. Er hatte nie richtigen Spanischunterricht gehabt, und seine Sprachkenntnisse beschränkten sich auf das, was er als Polizist in den Straßen von L.A. und von Partnerinnen wie Lucia Soto und Bella Lourdes aufgeschnappt hatte.

»Was würde Tranquillo dazu sagen? Er will mich lebend haben. Willst du ihm das nehmen?«

Der Mann stand wie erstarrt da. Seine Pistole war immer noch auf Bosch gerichtet.

In jungen Jahren war Bosch fünfzehn Monate in Vietnam gewesen. Damals war kein Tag vergangen, an dem er keine Hubschrauber gehört hatte. Es war die Hintergrundmusik des Krieges gewesen. Wenn sie, im Elefantengras versteckt, auf den Abtransport der Verwundeten warteten, hatte er schnell gelernt, anhand des Geräusches Entfernung und Flugrichtung zu bestimmen. Jetzt wurde ihm schnell klar, dass der Hubschrauber immer weitere Kreise über ihnen zog.

Sein Bewacher ging wieder zur Tür und spähte nach

Der Mann mit der Pistole drehte sich um und sah ihn lange an. Er überlegte, was er tun sollte. Bosch wusste, dass sein Leben von dieser Entscheidung abhing. Er sah ihn unverwandt an.

Plötzlich drehte sich der Mann um und stieß die Tür weiter auf. Er schaute nach draußen und zum Himmel hoch. In der Ferne war der Hubschrauber immer noch zu hören.

»Sali!«, schrie Bosch. »Ahora!«

Er hoffte, es hieß »Hau ab! Sofort!« oder zumindest etwas in dieser Richtung.

Der Mann schob die Tür ganz auf, und der Schuppen füllte sich mit grellem Licht. Er steckte die Pistole in seinen Hosenbund und ging zu dem grünen Motorrad, das in der Ecke des Schuppens an der rostigen Wellblechwand lehnte. Er setzte sich darauf, trat den Kickstarter und rauschte zur Tür hinaus.

Boschs Augen gewöhnten sich an die Helligkeit, und er ließ den Atem entweichen. Er lauschte. Der Hubschrauber kam wieder hinter dem Berg hervor und wurde lauter.

Nachdem es im Schuppen inzwischen deutlich heller war, veränderte Bosch seine Stellung im Käfig und untersuchte ihn auf irgendwelche Schwachstellen. Ihm war klar, dass sich nicht sagen ließ, ob der Hubschrauber nach ihm suchte, nur einen Übungsflug absolvierte oder über einem Kojoten kreiste. Es stimmte, seine Entführer hatten gestern Abend einen Fehler gemacht. Sie hatten ihm das Handy erst abgenommen, als sie ihn aus dem Lieferwagen in den Jeep brachten, aber er wusste auch, dass er einzig und

Er musste sich rasch etwas einfallen lassen, um aus dem Käfig zu kommen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis der Mann auf dem Motorrad zurückkam.