Als die Major-Crime-Ermittler Ballard endlich aus ihren Klauen ließen, war es fast sechs Uhr abends, und sie hatte über vierundzwanzig Stunden nicht mehr geschlafen. Da ihre nächste Schicht in fünf Stunden begann, hatte es keinen Sinn, im Feierabendverkehr an den Strand oder zu ihrer Großmutter nach Ventura zu fahren. Deshalb machte sie sich auf den Weg zur Hollywood Station. Sie stellte den Streifenwagen auf dem Parkplatz ab, holte sich frische Sachen aus ihrem Transporter und nahm ein Uber zum W Hotel auf dem Hollywood Boulevard. Von früheren Aufenthalten dort wusste sie, dass sie Polizisten hohe Preisnachlässe gewährten, eine passable Zimmerservice-Speisekarte hatten und die Checkout-Zeiten recht großzügig handhabten. In einem Abstellraum der Station, der sogenannten Honeymoon Suite, gab es zwar mehrere Stockbetten, aber sie wusste aus Erfahrung, dass sie dort nicht schlafen könnte. Zu viele Störungen. In der begrenzten Zeit, die sie hatte, wollte sie Komfort, Essen und ungestörten Schlaf.
Sie bekam ein Zimmer mit Blick auf die Santa Monica Mountains, das Capitol Records Building und das Hollywood-Schild. Aber sie zog die Vorhänge zu, bestellte einen Salat mit Hühnerstreifen und duschte. In einen großen Bademantel gepackt, das nasse Haar nach hinten frisiert, saß sie eine halbe Stunde später auf dem Bett und aß.
Ihr Laptop lag aufgeklappt neben ihr und brachte sie von den weniger als vier Stunden Zeit zum Schlafen ab, die sie inzwischen noch hatte. Aber sie konnte nicht anders. Sie hatte sich von dem USB-Stick, den ihr Professor Calder am Morgen gegeben hatte, die GRASP-Daten heruntergeladen. Zwar hatte sie die Daten nur kurz überfliegen wollen, bevor sie sich schlafen legte, aber die Dusche hatte ihre Müdigkeit vertrieben, und sie konnte sich nicht mehr von ihnen losreißen.
Zunächst war ihr vor allem aufgefallen, dass es in der Hollywood Division nur zwei Nächte vor Daisy Claytons Entführung und Ermordung zu einem weiteren Mord gekommen war. Den Unterlagen zufolge war die Sache rasch aufgeklärt worden.
Auch wenn Ballard außerhalb der Station keinen Zugriff auf die LAPD-Datenbank hatte, konnte sie zumindest im Mord-Blog der Los Angeles Times, in dem jeder Mord in der Stadt dokumentiert wurde, zwei Meldungen über den Fall aufrufen. Der ersten zufolge wurde die Tätowiererin Audie Haslam in ihrem Tattoo-Studio ZooToo auf dem Sunset Boulevard von einem Kunden plötzlich mit einem Messer bedroht und ausgeraubt. Anschließend schleppte der Täter Haslam in eine Abstellkammer im hinteren Teil des Ladens. Dort stach er nach einem erbitterten Kampf mehrmals auf sie ein und ließ sie auf dem Boden liegen, wo sie verblutete.
Ballards Hoffnungen auf einen möglichen Zusammenhang mit dem Clayton-Fall erhielten rasch einen Dämpfer, als sie die zweite Pressemeldung las, der zufolge bereits am darauffolgenden Tag ein Mitglied einer Rockerbande namens Clancy Devoux festgenommen wurde, nachdem die Polizei einen blutigen Fingerabdruck vom Tatort mit ihm in Verbindung gebracht hatte. In Devoux’ Besitz hatten sich eine Tätowiermaschine und mehrere Ampullen Tinte befunden, an denen die Ermittler die Fingerabdrücke des Opfers fanden. Außerdem befand sich auf Devoux’ Unterarm ein frisches verschorfendes Tattoo eines Totenschädels mit Heiligenschein. Offensichtlich hatte sich Devoux von Haslam ein Tattoo stechen lassen und sie dann ausgeraubt und ermordet. Unklar war hingegen, ob der Mord geplant oder aus einem spontanen Impuls heraus erfolgt war, weil Haslam etwas Falsches gesagt oder getan hatte.
Einer späteren Meldung zufolge wurde Devoux im Men’s Central Jail festgehalten. Das hieß, dass er sich in der Nacht von Daisy Claytons Entführung im Gefängnis befunden hatte und somit in diesem Fall nicht als Verdächtiger infrage kam. Trotz ihrer Enttäuschung nahm sich Ballard vor, einen Blick in das Mordbuch zu dem Fall zu werfen. Denn im Mordbuch standen vielleicht Namen von Leuten, die zum damaligen Zeitpunkt in Hollywood gewesen waren und möglicherweise etwas über den Fall Daisy Clayton wussten. So unwahrscheinlich das auch war, schien es ihr zumindest einen Versuch wert.
Innerhalb des von den GRASP-Daten abgedeckten Vier-Tage-Zeitraums waren fünf Vergewaltigungen erfasst, mit denen Ballard sich ebenfalls eingehend beschäftigte. Sie rief alle dazugehörigen Informationen, auf die sie mit ihrem Laptop Zugriff hatte, auf und stellte fest, dass zwei der Vergewaltigungen als sexueller Missbrauch durch Fremde eingestuft worden waren. Bei den anderen drei Fällen kamen die Täter aus dem Bekanntenkreis. Eine der Vergewaltigungen durch einen Fremden ereignete sich einen Tag vor dem Clayton-Mord, die andere einen Tag danach. Die Resümees in den GRASP-Dateien legten den Schluss nahe, dass die Taten nicht von ein und demselben Mann, sondern von zwei verschiedenen Tätern begangen worden waren.
Um die zugehörigen Akten anzufordern, trug Ballard die Fallnummern des Mordes und der zwei Vergewaltigungen in ein dafür vorgesehenes Formular ein und mailte es mit der Bitte um eine beschleunigte Zustellung ans Archiv. Ihr war jedoch klar, dass ihre Aussichten schlecht standen, denn es handelte sich in allen drei Fällen um sogenannte »kalte« Unterlagen – einen zu den Akten gelegten Mordfall und zwei Vergewaltigungen, für die inzwischen die siebenjährige Verjährungsfrist abgelaufen war.
Nachdem sie die Mail abgeschickt hatte, verflog ihr Energieschub und wich tiefer Erschöpfung. Sie klappte ihren Laptop zu und ließ ihn auf dem Bett liegen. Nachdem sie ihre Wecker-App auf drei Stunden später gestellt hatte, schlüpfte sie, ohne den Bademantel auszuziehen, unter die Decke und schlief sofort ein.
Sie träumte, dass ihr jemand folgte, aber sofort verschwand, sobald sie sich nach ihm umdrehte. Als ihr Handy sie weckte, war sie im Tiefschlafstadium und entsprechend desorientiert, als sie die Augen aufschlug und ihre Umgebung nicht erkannte. Es war der dicke Frotteestoff des Bademantels, der ihr wieder alles in Erinnerung rief.
Sie bestellte ein Uber und schlüpfte in die frischen Sachen, die sie aus ihrem Transporter mitgenommen hatte. Der Wagen wartete bereits, als sie im Lift nach unten fuhr und das Hotel verließ.
Harry Boschs Entführung hatte es beim Appell in den Bericht des Sergeant geschafft. Sie wurde zur Sprache gebracht, weil sein Haus, in dem sie passiert war, genau auf der Grenze zwischen den Revieren von Hollywood und North Hollywood Division lag. Und damit Tranquillo Cortez nicht auf die Idee kam, Bosch ein weiteres Mal von seinen Männern entführen zu lassen, hatte die Metropolitan Division mehrere Streifenpolizisten und Zivilbeamte vor seinem Haus postiert.
Ansonsten dauerte der Appell nicht lange. Vom Meer war eine Kaltfront über die Stadt hereingezogen, und niedrige Temperaturen wirkten sich immer sehr positiv auf die Kriminalitätsrate aus. Sergeant Klinkenberg, ein alter Hase, der sich fit hielt und immer noch die gleiche Uniformgröße trug wie bei seinem Eintritt in die Polizei, verkündete, dass auf den Straßen Hollywoods wenig los war. Als darauf alles zum Ausgang strömte, steuerte Ballard gegen den Strom auf Klinkenberg zu, der hinter dem Rednerpult geblieben war.
»Was gibt’s, Renée?«, fragte er.
»Ich habe die zwei letzten Appelle versäumt«, sagte Ballard, »und wollte nur wissen, ob ihr den BOLO rausgegeben habt, den ich Lieutenant Munroe für einen Eagleton geschickt habe.«
Klinkenberg drehte sich um und deutete auf die Korktafel mit den Fahndungsaufrufen.
»Meinst du den Vogel da? Ja, den BOLO haben wir gestern Abend rausgegeben.«
Ballard sah den Flyer für den Mann, der sich Eagle nannte, an der Anschlagtafel hängen.
»Wäre es zu viel verlangt, wenn du die Flyer beim nächsten Appell noch mal verteilst?«, fragte sie. »Es ist wirklich wichtig.«
»Wenn so wenig los ist wie heute, kein Problem«, sagte Klinkenberg. »Druck mir einfach noch mal einen Packen von den Dingern aus.«
»Danke, Klink.«
»Wie geht’s Bosch? Du warst doch an seiner Befreiung beteiligt.«
»Ganz okay. Sie haben ihn allerdings ziemlich rangenommen und ihm mehrere Rippen gebrochen. Jedenfalls hat er sich schließlich doch überreden lassen, eine Nacht oben im Olive View zu bleiben. Mit einem Aufpasser vor der Tür.«
Klinkenberg nickte.
»Bosch ist schwer in Ordnung. Auch wenn er es hier nicht ganz einfach hatte, könnten wir ruhig ein paar mehr Typen wie ihn gebrauchen.«
»Hast du mit ihm zusammengearbeitet?«
»Na ja, so viel eine Uniform eben mit einem Detective zusammenarbeitet. Aber wir waren zur selben Zeit hier. Ich weiß noch, dass er sich von niemand was hat gefallen lassen. Nur gut, dass ihm nicht wirklich was passiert ist. Jedenfalls hoffe ich schwer, dass sie die Dreckskerle schnappen, die ihn entführt haben.«
»Da mach dir mal keine Sorgen. Und wenn es so weit ist, werden alle, die daran beteiligt waren, richtig lang aus dem Verkehr gezogen. Einen von uns entführt man nicht ungestraft, das werden wir denen in aller Deutlichkeit klarmachen.«
»Dann mal zu.«
Ballard ging nach unten in den Bereitschaftsraum, wo sie sich an einem Schreibtisch nicht weit vom leeren Büro des Lieutenant einrichtete. Als Erstes ging sie ins Internet und rief die Live-Cams des Haustierbetreuungszentrums auf, in dem sie ihren Hund abgegeben hatte. Sie hatte Lola schon über 24 Stunden nicht mehr gesehen und vermisste sie sehr. Ballard glaubte, dass sie mehr Befriedigung daraus zog als Lola selbst, wenn sie ihr den Kopf kraulte oder den Hals massierte.
Sie entdeckte Lola auf einem der Kameramonitore. Sie schlief auf einem ovalen Bett. Ein kleinerer Hund hatte sich dicht an sie gekuschelt. Ballard lächelte und bekam sofort ein schlechtes Gewissen, wie jedes Mal, wenn sie über die üblichen Dienstzeiten hinaus an einem Fall arbeitete und Lola länger in der Haustierbetreuung lassen musste. Was die Qualität der Betreuung anging, hatte sie keine Bedenken. Sie checkte die Live-Cams oft und zahlte für zusätzliche Leistungen wie Spaziergänge in der Gegend um den Abbot Kinney Boulevard. Trotzdem fragte sie sich immer wieder, ob sie eine schlechte Hundehalterin war und ob Lola besser dran wäre, wenn sie sie zur Adoption freigab.
Weil sie sich nicht länger mit dieser Frage quälen wollte, loggte sie sich aus und machte sich an die Arbeit. In den nächsten zwei Stunden ihrer Schicht befasste sie sich mit den Filzkarten, die sie beiseitegelegt hatte, um die Personen genauer zu durchleuchten, die in den Monaten um den Mord an Daisy Clayton in Hollywood von Streifenpolizisten kontrolliert worden waren.
Kurz nach zwei Uhr wurde sie zum ersten Einsatz dieser Nacht gerufen und musste zwei Stunden lang Zeugen einer Schlägerei vernehmen, die in einer Bar auf der Highland Avenue ausgebrochen war, nachdem der Türsteher das Lokal zur Sperrstunde zu räumen versucht hatte und vier USC-Studenten nicht hatten gehen wollen, weil sie ihr Bier noch nicht ausgetrunken hatten. Dem Türsteher war im Verlauf des Streits eine Bierflasche an den Hinterkopf geworfen worden, und er hatte vor Ort von Rettungssanitätern verarztet werden müssen. Seine Aussage nahm Ballard als Erstes zu Protokoll. Er konnte jedoch nicht mit Sicherheit sagen, welcher der vier Studenten die Flasche nach ihm geschleudert hatte. Nachdem er bestätigte, dass er gegen seinen Angreifer Anzeige erstatten wollte, ließ sie ihn von den Rettungssanitätern ins Hollywood Presbyterian bringen. Als Nächstes sprach Ballard mit dem Barkeeper und dem Geschäftsführer, und erst zum Schluss knöpfte sie sich die Studenten vor.
Die Studenten wurden jeweils zu zweit auf den Rücksitzen zweier Streifenwagen festgehalten. Ballard hatte ganz bewusst die zwei von ihnen, die am verängstigtsten aussahen, in ein Auto gesperrt und heimlich ihr Aufnahmegerät auf dem Vordersitz deponiert, wo sie nicht an es herankämen. Mit diesem Trick erhielt man manchmal ein unbeabsichtigtes Geständnis.
In diesem Fall hatte sie beim Abhören der Aufnahme jedoch keinen Erfolg. Beiden jungen Männern ging zwar ordentlich die Muffe, aber sie waren in erster Linie sauer, dass sie verhaftet werden sollten, obwohl keiner von ihnen eine Flasche nach dem Türsteher geworfen hatte.
Somit blieben noch die zwei im anderen Auto, die Ballard nicht mit einem Aufnahmegerät abhörte. Sie ließ sie einzeln zur Vernehmung aussteigen. Der erste Student leugnete, den Streit angezettelt und die Flasche nach dem Türsteher geworfen zu haben. Als er jedoch mit der Rechnung für 26 Bier konfrontiert wurde, die das Quartett konsumiert hatte, gab er zu, zu viel getrunken und den Barkeeper und den Türsteher provoziert zu haben, als diese das Lokal schließen wollten. Er entschuldigte sich bei Ballard für sein Verhalten und versprach, dies auch beim Barpersonal zu tun.
Die Vernehmung des letzten Studenten nahm einen anderen Verlauf. Er erklärte, der Sohn eines Anwalts zu sein und seine Rechte zu kennen. Er sagte, er werde nicht auf seine Rechte verzichten und nur im Beisein eines Anwalts mit Ballard reden.
Als das geklärt war, beriet sich Ballard mit Sergeant Klinkenberg, der der zuständige Streifenpolizist war.
»Was meinst du?«, fragte er. »Wir gehen der Sache auf jeden Fall weiter nach, oder? Sonst kommen diese Pupser noch mal her und ziehen wieder die gleiche Nummer ab.«
Ballard nickte und schaute auf ihren Notizblock, um sich zu vergewissern, dass die Namen stimmten.
»Okay, Pyne, Johnson und Fiskin kannst du laufen lassen«, sagte sie. »Aber Bernardo nimmst du mit. Er ist der mit der Glatze und glaubt, dass ihn sein Anwaltsvater raushauen wird. Und pass auf, dass die drei anderen nicht Auto fahren.«
»Wir haben sie bereits gefragt«, sagte Klinkenberg. »Sie sind mit einem Uber gekommen.«
»Okay, dann schreibe ich in der Station gleich mal alles zusammen und bringe es im Gefängnis vorbei.«
»Wenn die Zusammenarbeit bloß mit allen so einfach wäre wie mit dir.«
»Das kann ich nur zurückgeben, Klink.«
Zurück im Bereitschaftsraum, brauchte Ballard weniger als eine Stunde, um ihren Bericht über den Vorfall und den Haftbefehl für Bernardo zu schreiben. Nachdem sie den Papierkram dem zuständigen Sachbearbeiter gebracht hatte, sah sie auf die Uhr im Büro des Schichtleiters und stellte fest, dass es nur noch zwei Stunden bis Schichtende waren.
Sie war todmüde und freute sich darauf, im W Hotel fünf oder sechs Stunden schlafen zu können. Bei dem Gedanken daran fiel ihr der Traum ein, in dem sie das Gefühl gehabt hatte, von jemandem verfolgt zu werden. Unwillkürlich blickte sie kurz hinter sich, als sie den verlassenen Gang zum Bereitschaftsraum hinunterging.
Es war niemand da.