Ballard kletterte durch die Öffnung, hängte sich mit den Händen an ihren Rand und ließ sich auf das Dach des Trucks fallen. Bei der Landung verlor sie das Gleichgewicht und fiel auf den Rücken, sodass sie eine Delle im Dach hinterließ.

Nachdem sie ein paar Sekunden leicht benommen liegen geblieben war, kroch sie auf allen Vieren nach vorn, ließ sich auf das Führerhaus hinabgleiten und kletterte, die Füße auf Außenspiegel und Türgriff aufsetzend, an seiner Seite nach unten.

Sobald sie auf dem Betonboden stand, checkte sie die Türen und Tore des Lagerhauses, um zu sehen, ob sie notfalls rasch nach draußen entkommen könnte. Aber sie ließen sich auch von innen nicht ohne Schlüssel öffnen.

Im Schein ihrer Taschenlampe entdeckte sie neben der Vordertür mehrere Schalter, mit denen sich vermutlich das Tor bedienen ließ. Aber wie für die Türen brauchte man auch für sie einen Schlüssel. Ballard merkte, dass sie sich Gedanken machen musste, wie sie entweder wieder durch das Oberlicht entkommen oder eine der Türen aufbrechen könnte. Beides schien ihr wenig Aussicht auf Erfolg zu haben.

Unter den Schaltern für das Garagentor waren mehrere Lichtschalter, für die man keinen Schlüssel benötigte. Damit ließen sich zwei Reihen Neonröhren einschalten, die das Lagerhaus in helles Licht tauchten. Ballard stand lange da und studierte das Innere des Gebäudes. Die vordere Hälfte nahmen zwei nebeneinanderliegende Stellflächen für Fahrzeuge

Eine der beiden Stellflächen war leer, aber auf dem Boden befanden sich mehrere frische Ölflecken. Der Lkw auf der Stellfläche daneben war nicht der, den Ballard gesehen hatte, als sie Dillon getroffen hatte. Er war anders beschriftet. Auf der Fahrertür stand der vollständige Name der Firma, und auf der Seite des Aufbaus fehlten die großen Lettern von CCB. Außerdem war er älter, hatte wenig Luft in den Reifen und schien nicht mehr benutzt zu werden. Er strafte Dillons Behauptung Lügen, dass er vier Angestellte und zwei Fahrzeuge hatte und rund um die Uhr einsatzbereit war. Offensichtlich war CCB ein Einmannbetrieb.

Aufgrund all dessen wurde Ballard plötzlich klar, dass der Truck, den Dillon zurzeit verwendete, irgendwo da draußen auf den Straßen der Stadt unterwegs war, und es ließ sich nicht sagen, ob er jeden Moment hier auftauchen würde oder abends immer mit dem Truck nach Hause fuhr. Allerdings konnte sie sich nicht vorstellen, dass es bei seinen Nachbarn gut ankäme, wenn er seinen Giftmüll-Truck vor seinem Haus abstellte. Andererseits hatte sie in der näheren Umgebung des Lagerhauses keinen Privat-Pkw gesehen, der Dillon gehören könnte.

Sie beschloss, sich bei der Durchsuchung zu beeilen und begann bei dem Schreibtisch, der neben der Hintertür des Lagerhauses an der Wand stand. Sie hielt nach Hinweisen und Notizen Ausschau, die Rückschlüsse darauf zuließen, wo Dillon und der Transporter sein könnten. Als sie nichts dergleichen fand, versuchte sie, die Aktenschübe des Schreibtischs zu öffnen. Vielleicht befanden sich alte Unterlagen über Bestellungen bei American Storage Products darin.

Das Innere des Lagerhauses war sauber und ordentlich. An der Wand gegenüber dem Verbrennungsofen waren große Plastikfässer mit Reinigungs- und Desinfektionsmitteln, die sich mit Handpumpen in kleinere Behältnisse umfüllen ließen. In einer Reihe von Regalen waren leere Plastikcontainer gestapelt. Sie waren jedoch nicht groß genug, um eine Leiche zu fassen, und hatten auch kein ASP-Logo, wie es sich in Daisy Claytons Haut abgedrückt hatte. Ballard merkte, dass sie vergessen hatte, Mittleberg nach dem zeitlichen Rahmen der Bestellungen von CCB zu fragen, die er auf seinem Computer gesehen hatte.

Es gab ein kleines Bad mit einer Dusche, das aussah, als sei es erst vor Kurzem geputzt worden. Ballard öffnete den Spiegelschrank über dem Waschbecken. Er enthielt gängige Erste-Hilfe-Utensilien.

Neben dem Bad war ein Schrank, in dem auf Bügeln mehrere weiße Overalls hingen, auf deren Brusttaschen links CCB und rechts Roger gestickt war – ein weiterer Hinweis darauf, dass Dillons Behauptung, vier Angestellte zu haben, reine Übertreibung war.

Ballard schloss den Schrank und ging zum Verbrennungsofen. Es war ein viereckiges freistehendes Gerät mit Seitenwänden aus Edelstahl und einem kerzengerade zum Dach hinaufführenden Abzugsrohr. Auf seiner Vorderseite befand sich eine zweiflügelige Tür mit einer Edelstahlablage davor.

Ballard öffnete einen der Türflügel, worauf auch der andere automatisch aufging. Als sie mit der Taschenlampe in die Brennkammer leuchtete, wurde das Licht blendend hell zurückgeworfen. Die Innenverkleidung blitzte buchstäblich vor Sauberkeit, und der Aschekasten unter dem Ofenrost sah aus, als sei er nach der letzten Verwendung mit einem

Sie schloss die Ofentüren und drehte sich um. Ein Industriesauger oder sonst ein Gerät, mit dem der Aschekasten gesäubert worden sein könnte, war nirgendwo zu sehen. Dann fiel ihr ein, dass sie in dem Transporter, mit dem Dillon zur Arbeit gefahren war, alle möglichen Geräte gesehen hatte. Daraus folgerte sie, dass er Nass- und Trockensauger immer dabeihatte.

Dieser Gedanke lenkte ihre Aufmerksamkeit auf den Lkw auf der zweiten Stellfläche. Jetzt galt es, ihn unter die Lupe zu nehmen. Da er rückwärts eingeparkt war, blickte sie auf seine beiden Hecktüren.

Als Nächstes sah sie sich das Nummernschild an. Der Zulassungsaufkleber war seit zwei Jahren abgelaufen. Der Lkw war also eindeutig nicht mehr im Einsatz.

Sie zog an einem Hebel zum Lösen der Schließbolzen und öffnete einen der Türflügel. Als sie einen Schritt zurück machte, um ihn ganz aufzuziehen, sah sie, dass der Truck zwar nicht mehr im Außeneinsatz verwendet wurde, aber noch als Lager diente. Er war voll von Großpackungen mit Reinigungsmitteln und Behältnissen. Ein Stapel 24er-Packungen Küchenrollen, 5-Gallonen-Behälter mit Reinigungsflüssigkeit, ein Abfallkübel voller neuer Wischmopps, in Plastik eingeschweißte Kartons mit Reinigungssprays und Lufterfrischern. An einer Seitenwand des Laderaums lehnte ein dicker Packen Faltboxen.

Das ganze Arbeitszubehör war zu einer Wand aufgeschichtet, die Ballard den Blick in die vordere Hälfte des Laderaums verstellte. Sie setzte einen Fuß auf die hintere Stoßstange, hielt sich an einem Griff an der Innenseite der Tür fest und zog sich daran hoch. Da das Innere des Laderaums im Schatten der Neonlampen lag, leuchtete sie mit

Plötzlich wurde Ballard klar, dass es der Geruch der Angst war. Sie hatte ihn schon mal an sich selbst bemerkt. Sie hatte gehört, dass Hunde auf diesen Geruch abgerichtet wurden. Sie wusste, dass hier jemand zitternd um sein Leben gefürchtet hatte.

Als ihr etwas auf dem Boden neben der Matratze ins Auge stach, bückte sie sich und stellte fest, dass es ein abgebrochener rosa lackierter Fingernagel war.

Plötzlich begann der Truck leicht zu erzittern, und ein blechernes Scheppern erfüllte das Lagerhaus. Ballards erster Gedanke war: ein Erdbeben. Doch dann wurde ihr rasch klar, dass eins der Alu-Tore hochgerollt wurde. Gleich würde jemand hereinkommen.

Sie machte die Taschenlampe aus, zog ihre Pistole und überlegte, ob sie aus dem Lkw klettern sollte. Doch dann wäre sie vollkommen ungeschützt und gut zu sehen.

Wieder trat mehrere Sekunden lang Stille ein. Ballard konnte nicht einmal jemanden aussteigen hören. Dann setzte wieder das durchdringende Scheppern ein. Das Rolltor wurde nach unten gelassen.

Ballard konnte sich im Moment nur mithilfe ihres Gehörsinns orientieren und lauschte angespannt.

Sie musste davon ausgehen, dass der Fahrer des anderen Fahrzeugs Dillon war. Ihr kamen drei Dinge in den Sinn, die er bei seinem Eintreffen bemerkt haben könnte. Das Licht im Lagerhaus war an, die Hecktür des stillgelegten Trucks stand offen, und eins der Oberlichter auf dem Dach fehlte. Sie musste davon ausgehen, dass Dillon alle drei Dinge bemerkt hatte und bereits ahnte, dass jemand in sein Lagerhaus eingebrochen war. Ob er annahm, dass der Einbrecher noch hier oder schon wieder weg war, musste sich erst zeigen. Falls er die Polizei rief, würde sie aller Wahrscheinlichkeit nach verhaftet, und das wäre das Ende ihrer Karriere beim LAPD. Tat er das jedoch nicht, würde sich bestätigen, dass er wegen Dingen, die in seinem Lagerhaus vorgefallen waren, nicht wollte, dass die Polizei herkam. Unwillkürlich musste sie an den Verbrennungsofen denken, dessen Brennkammer vor Sauberkeit blitzte, während das Abzugsrohr auf dem Dach von einer dicken Rußschicht überzogen war.

Ballard blickte auf die dünne Matratze auf dem Boden des Laderaums. Sie fragte sich, ob sie jemals herausfinden würde, wer dort zitternd vor Angst unter der dünnen Decke gelegen hatte. Und wer sich bei dem Versuch, aus dem Lkw zu entkommen, einen Fingernagel abgebrochen hatte. Ihre

Dann hörte sie, wie die Tür des anderen Trucks aufging, jemand ausstieg und auf den Betonboden sprang. Alles, was sie vom Lagerhaus sehen konnte, war der von der offenen Hecktür begrenzte Ausschnitt des hinteren Bereichs. Ihr blieb nichts anderes übrig, als zu warten und auf Dillons Schritte zu lauschen. Aber es war nichts zu hören.

Plötzlich wurde die Hecktür des Lkws, in dem sie sich versteckte, zugeworfen, und es wurde vollkommen dunkel. Sie hörte, wie jemand von außen den Türgriff drehte und die Schließzapfen der Tür einrasteten. Jetzt saß sie fest. In einer Hand hielt sie die Pistole, in der anderen die Taschenlampe, aber sie knipste sie nicht an. Vielleicht war ihr Gehör im Dunkeln schärfer.

»Ich weiß, dass du da drinnen bist. Wer bist du?«

Ballard fuhr zusammen. Obwohl sie nur einmal mit Dillon gesprochen hatte, erkannte sie seine Stimme sofort wieder.

Sie antwortete nicht.

»Wie es aussieht, hast du mein Oberlicht geschrottet. Und das finde ich gar nicht gut, weil ich nämlich nicht das Geld habe, um es zu ersetzen.«

Ballard holte ihr Handy heraus und schaute auf das Display. Sie befand sich praktisch in einer Metallkiste im Innern einer Betonkiste und hatte kein Netz. Und das Funkgerät, das sie aus der Station mitgenommen hatte, steckte in der Ladestation ihres Autos, das zwei Straßen weiter stand.

Dillon begann, gegen die Hecktür zu dreschen, und es ertönte das durchdringende Scheppern von Metall auf Metall.

»Los, rede endlich mit mir. Ich mach dir einen Vorschlag. Du erklärst dich bereit, für den Schaden aufzukommen, und ich rufe die Cops nicht. Ist das kein Angebot?«

Sie zuckte zusammen, als er wieder gegen die Tür schlug.

»Hast du gehört? Ich habe eine Knarre, und ich fackle nicht lange. Sag mir, dass du mit erhobenen Händen rauskommst. Und zwar so, dass ich sie sehen kann.«

Jetzt sah die Sache anders aus. Ballard bewegte sich nicht mehr weiter auf die Tür zu, sondern ging für den Fall, dass Dillon durch die dünne Metallhaut des Lkws zu schießen begann, in die Hocke. Sie nahm die Pistole in beide Hände und versuchte abzuschätzen, aus welcher Richtung die Schüsse kommen würden, um das Feuer erwidern zu können.

»Na schön, dann eben nicht. Ich öffne jetzt die Tür und fange einfach an zu schießen. Reine Notwehr. Ich kenne ein paar Cops, und sie werden mir glauben. Mach ruhig schon mal dein Testament, weil ich nämlich gleich …«

In diesem Moment ertönte ein lauter Schlag gegen die Hecktür des Lkws, der sich nicht wie Metall auf Metall anhörte, und Dillon sprach seine Drohung nicht zu Ende. Stattdessen war zu hören, wie ein Gegenstand aus Metall auf den Boden fiel. Ballard vermutete, dass es Dillons Pistole war, die über den Beton rutschte. Da draußen musste eine zweite Person sein.

Jemand drehte am Griff der Hecktür, und die Schließzapfen lösten sich. Die Tür ging auf, und Licht flutete in den Laderaum. Ballard blieb in der Hocke und benutzte den

»Renée, sind Sie das da drinnen? Hier draußen ist alles klar.«

Es war Bosch.