Bosch war jetzt mit Dillon allein. Er hatte ihn aufgesetzt und gegen eins der großen Fässer mit Reinigungsflüssigkeit gelehnt. Als er ihm danach das Tape vom Mund gerissen hatte, hatte Dillon das mit lauten Schmerzensschreien und wüsten Beschimpfungen quittiert. Seine Augen waren noch zugeklebt.
Bevor er Dillon das Tape abgerissen hatte, war Bosch im Lagerhaus herumgegangen und hatte überlegt, wie er bei der Vernehmung am besten vorgehen sollte. Er hatte den Schreibtischstuhl geholt und etwa eineinhalb Meter vor Dillon gestellt. Dann hatte er das Tape um seine Fußgelenke durchtrennt und seine Beine auf dem Betonboden gespreizt.
Jetzt stellte Bosch auf beiden Seiten seines Stuhls einen blechernen Wischeimer auf den Boden. In einem waren etwa fünf Zentimeter Wasser. In den anderen hatte er eine Flasche Schwefelsäure geleert, die er in einem der Vorratsregale gefunden hatte.
Schließlich setzte er sich vor Dillon und fragte ihn:
»Sind Sie jetzt wieder bei Bewusstsein?«
»Was soll der Scheiß?«, maulte Dillon. »Wer sind Sie?«
»Wer ich bin, tut nichts zur Sache. Erzählen Sie mir von Daisy Clayton.«
»Ich habe keine Ahnung, was oder wen Sie meinen. Binden Sie mich auf der Stelle los.«
»Erzählen Sie mir doch nichts. Vor neun Jahren? Die minderjährige Nutte vom Sunset Boulevard, die Sie sich vor dem Getränkemarkt geschnappt haben? Wahrscheinlich war sie Ihre Erste – oder zumindest eine der Ersten. Das war, als Sie das Lagerhaus hier noch nicht hatten und sich noch Gedanken machen mussten, wo und wie Sie die Leichen am besten entsorgen.«
Dillons Zögern, bevor er antwortete, verriet Bosch, dass er richtig lag.
»Sie sind komplett verrückt«, schimpfte Dillon. »Sie kommen in den Knast. Was Sie hier machen … das ist so was von illegal. Es ist völlig egal, was ich Ihnen erzähle. Ich könnte sagen, ich habe Kennedy, Tupac und Biggie Smalls umgebracht, und kein Schwein würde es interessieren. Was Sie hier machen, ist eine illegale Durchsuchung und Festnahme. Ich bin nicht mal ein Cop, und trotzdem weiß ich das. Also melden Sie die Sache einfach, Sie Arschloch, und lassen Sie mich endlich frei.«
Der Schreibtischstuhl quietschte, als Bosch sich zurücklehnte.
»Das einzige Problem bei der Sache ist«, sagte er, »dass ich kein Cop bin. Und ich bin auch nicht hier, um irgendwas zu melden. Ich bin wegen Daisy Clayton hier. So einfach ist das.«
»Erzählen Sie mir doch nichts«, sagte Dillon. »Sie sind ein Cop.«
»Erzählen Sie mir, was mit Daisy war.«
»Da gibt es nichts zu erzählen. Ich weiß nicht, wen Sie meinen.«
»Sie haben Sie damals entführt und in Ihren Wagen gesperrt.«
»Ich höre mir diese Scheiße nicht mehr länger an. Ich will einen Anwalt.«
»Hier gibt es keine Anwälte. Über diesen Punkt sind wir schon lange hinaus.«
»Dann machen Sie eben, was Sie machen müssen, Mann. Ich sage jedenfalls kein Wort mehr.«
Boschs Stuhl quietschte wieder, als er nach dem Eimer mit der Säure griff. Er hob ihn vorsichtig hoch und stellte ihn zwischen Dillons gespreizte Beine.
»Was machen Sie da?«, fragte Dillon.
Bosch sagte nichts. Das Reden übernahmen die Schwefeldämpfe.
»Ist das Schwefelsäure?« In Dillons Stimme hatte sich Panik geschlichen. »Ich kann sie riechen. Was machen Sie da, verdammte Scheiße?«
»Was regen Sie sich denn so auf, Roger?«, sagte Bosch. »Sie haben doch selbst gesagt, ich bin ein Cop. Da werde ich Ihnen doch nichts tun, oder? Das ist bekanntlich streng verboten.«
»Also gut, okay. Ich glaube Ihnen. Sie sind kein Cop. Aber stellen Sie das Zeug woandershin. Damit ist nicht zu spaßen. Schon die Dämpfe können … Moment. Wo haben Sie die Säure reingeschüttet? Sie frisst sich durch Metall. Das wissen Sie doch, oder?«
»Dann haben wir wohl nicht mehr viel Zeit. Daisy Clayton. Was war mit ihr?«
»Ich sage Ihnen doch …«
Plötzlich hörte Dillon auf zu argumentieren und begann, aus vollem Hals »Hilfe!« zu schreien. Bosch saß nur wortlos da, und nach zwanzig Sekunden verstummte Dillon. Er merkte, dass das nichts brachte.
»Schon komisch, hm?«, sagte Bosch. »Sie haben den Schuppen hier so eingerichtet, dass niemand hier rauskommt und auch keine Hilferufe nach draußen dringen. Und jetzt … Sie sehen ja selbst. Nur zu, schreien Sie ruhig weiter.«
»Hören Sie doch, bitte, es tut mir leid.« Dillon schlug eine andere Tonart an. »Es tut mir leid, wenn ich Sie dumm angemacht habe. Es tut mir leid, wenn ich …«
Bosch streckte sein Bein und schob den Eimer ein paar Zentimeter weiter auf Dillons Schritt zu. Dillon versuchte zurückzurutschen, aber hinter ihm war kein Platz mehr. Er drehte sein Gesicht nach rechts.
»Bitte nicht«, flehte er. »Die Dämpfe sind schon in meiner Lunge.«
»Ich habe in der Zeitung mal von einem Mann gelesen«, sagte Bosch. »Er hat Schwefelsäure auf seine Hände bekommen. Darauf hat er sie sofort unter einen Wasserhahn gehalten, um sie abzuspülen. Davon wurde es aber nur schlimmer. Mit Wasser tut es doppelt so weh. Andererseits, wenn man die Säure nicht abspült, frisst sie sich durch die Haut.«
»Ich bitte Sie«, stieß Dillon hervor. »Was wollen Sie von mir?«
»Das wissen Sie ganz genau. Ich will wissen, was passiert ist. Mit Daisy Clayton. 2009.«
Dillon hielt das Gesicht weiter von den Säuredämpfen abgewandt.
»Machen Sie das endlich weg!«, schrie er. »Es verätzt mir die Lunge.«
»2009.« Bosch setzte sich zurück, und der Stuhl quietschte wieder.
»Und was genau wollen Sie jetzt?«, jammerte Dillon. »Wollen Sie, dass ich sage, dass ich es war? Na schön, ich war’s. Egal was, ich war’s. Und jetzt rufen wir die Cops. Ich weiß, dass Sie keiner sind. Aber wir rufen jetzt die Cops, und ich sage ihnen, dass ich es war. Ehrenwort. Ich sage es ihnen. Ich sage ihnen auch, dass ich es bei den anderen war. Ich gebe so viele zu, wie Sie wollen. Ich sage ihnen, dass alle auf mein Konto gehen.«
Bosch nahm das kleine Diktiergerät heraus, das er aus dem Auto geholt hatte.
»Wer waren die anderen?«, fragte er. »Sagen Sie mir ihre Namen.«
Er drückte auf den Aufnahmeknopf.
Dillon schüttelte den Kopf. Dann drehte er ihn wieder vom Eimer weg.
»Das ist doch kompletter Wahnsinn.«
Bosch legte den Daumen auf das Mikrophon.
»Ich will Namen hören, Dillon. Wenn Sie hier rauswollen, wenn ich die Cops rufen soll, dann müssen Sie mir Namen nennen. Wenn Sie mir ihre Namen nicht sagen, kann ich Ihnen nicht glauben.«
Er nahm den Daumen wieder vom Mikrophon.
»Bitte, lassen Sie mich laufen«, flehte Dillon. »Ich werde niemand was von hier erzählen. Es ist für mich einfach nicht passiert. Aber lassen Sie mich frei. Bitte.«
Bosch schob den Eimer mit dem Fuß weiter auf Dillon zu. Er berührte jetzt den Innensaum seiner Jeans. Er hielt das Mikrophon wieder zu und tat das im weiteren Verlauf der Vernehmung jedes Mal, wenn er selbst etwas sagte.
»Das ist Ihre letzte Chance, Roger. Sie fangen an zu reden, oder ich fange an zu gehen. Den Eimer lasse ich stehen, und vielleicht frisst sich die Säure durch das Blech, vielleicht auch nicht.«
»Nein, ich flehe Sie an. Das können Sie nicht machen. Ich habe nichts getan!«
»Eben haben Sie noch gesagt, die anderen gehen auch auf Ihr Konto. Was jetzt?«
»Also gut, egal. Ich habe sie umgebracht. Ich habe sie alle umgebracht, zufrieden jetzt?«
»Sagen Sie mir ihre Namen. Sagen Sie mir einen Namen. Dann kann ich Ihnen glauben.«
»Diese Daisy. Sie.«
»Ihren Namen wissen Sie von mir. Sie müssen mir einen anderen Namen sagen.«
»Ich weiß aber keine Namen!«
»Das ist aber blöd.«
Bosch stand auf, als wolle er gehen. Das Quietschen des Stuhls unterstrich seine Absicht.
»Sarah Bender!«
Bosch blieb stehen. Der Name kam ihm vage bekannt vor, aber er konnte ihn nicht einordnen. Er legte den Daumen auf das Mikro.
»Wer?«
Er nahm den Daumen weg.
»Sarah Bender. Sie ist die Einzige, von der ich weiß, wie sie hieß. Ihren Namen weiß ich nur deshalb, weil über sie etwas in der Zeitung stand. Ihr Vater hat sich einen Dreck um sie geschert. Erst als sie vermisst wurde, ging im Fernsehen plötzlich das große Geheule los.«
Daumen drauf.
»Und Sie haben sie umgebracht?«
Dillon nickte rasch.
»Sie stand vor einem Café. Daran erinnere ich mich noch, weil eine Straße weiter eine Polizeistation war. Ich habe sie mir praktisch unter ihren Augen geschnappt.«
Daumen drauf.
»Was haben Sie dann mit ihr gemacht?«
Daumen weg.
»Verbrannt habe ich sie.«
Bosch hielt inne.
»Und Daisy Clayton?«
»Sie auch.«
»Damals hatten Sie doch noch gar keinen Ofen.«
»Nein, damals hatte ich nur meine Garage. Ich hatte die Firma gerade erst aufgemacht.«
»Was haben Sie also gemacht?«
»Sie saubergemacht. Mit Bleichmittel. Die Säuregenehmigungen hatte ich damals noch nicht.«
»Haben Sie es in Ihrer Badewanne gemacht?«
»Nein, ich habe sie in einen meiner Sondermüllcontainer gelegt. Er ließ sich mit einem Deckel verschließen. Ich habe sie mit Bleichmittel übergossen und etwa einen Tag eingeweicht. Ich habe sie immer dabeigehabt, wenn ich zum Arbeiten rumgefahren bin.«
»Wen noch außer Daisy und Sarah?«
»Ich sage Ihnen doch, die Namen der anderen weiß ich nicht mehr.«
»Und die letzte? Das Mädchen mit den rosa lackierten Fingernägeln. Wie hat sie geheißen?«
»Ich weiß es nicht mehr.«
»Und ob Sie es wissen. Sie haben sie im Laderaum des Lasters eingesperrt. Wie hieß sie?«
»Kapieren Sie denn nicht? Ich habe sie nie nach ihrem Namen gefragt. Das hat mich nicht interessiert. Wie sie hießen, war mir völlig egal. Kein Mensch hat sie vermisst. Kein Mensch hat sich für sie interessiert. Sie waren Niemande.«
Bosch sah Dillon eine Weile an. Was er in puncto Bestätigung brauchte, hatte er. Aber er war noch nicht fertig mit ihm.
»Und was ist mit ihren Eltern? Ihre Mütter – Waren sie auch Niemande?«
»Sie werden es vielleicht nicht glauben, aber die meisten Mädchen, die auf der Straße leben, sind ihren Müttern so was von egal …«
Bosch musste an Elizabeth Clayton und ihr trauriges Ende denken. Das ging alles auf Dillons Konto. Er steckte das Diktiergerät ein, griff nach dem Eimer und hob ihn hoch, um Dillon die Säure über den Kopf zu gießen.
Obwohl Dillon wegen des Klebebands nichts sehen konnte, wusste er, welche Entscheidung Bosch gerade getroffen hatte.
»Nicht«, flehte er.
Bosch griff nach dem Eimer mit Wasser, hob ihn lautlos hoch und stellte ihn so zwischen Dillons Beine, dass etwas davon verschüttet wurde. Dann stellte er den Eimer mit der Säure lautlos auf die Seite.
»Seien Sie bloß vorsichtig!«, stieß Dillon hervor.
Bosch nahm die Rolle mit dem Klebeband und begann, es so um Dillon und den Wassereimer zu wickeln, dass er nicht aufstehen oder sich sonst irgendwie von der Stelle bewegen konnte. Zweimal schlang er es um Dillons Hals und ließ ihm so die Möglichkeit, das Gesicht vom Eimer abzuwenden. Als er fertig war, riss er ein Stück Tape ab, holte das Diktiergerät heraus, wischte alle Flächen und Knöpfe an seinem Hemd sauber und tapte es dann an Dillons Brust fest.
»Und jetzt bleiben Sie schön sitzen«, sagte er.
»Wohin wollen Sie?«, fragte Dillon.
»Die Polizei holen, wie Sie gesagt haben.«
»Und mich lassen Sie einfach hier?«
»Das hatte ich vor.«
»Das können Sie nicht tun. Schwefelsäure ist sehr flüchtig. Sie könnte sich durch den Eimer fressen. Sie könnte …«
»Ich werde mich beeilen.«
Bosch klopfte Dillon beruhigend auf die Schulter. Dann nahm er den Eimer mit der Säure und ging durch die Tür, die er Ballard aufgeschlossen hatte, nach draußen.
Ohne sie hinter sich abzuschließen, ging er in den schmalen Durchgang an der Seite von Dillons Lagerhaus, goss die Säure auf den Schutt, der sich dort angesammelt hatte, und warf den Eimer hinterher. Dann drehte er sich um und ging zu seinem Jeep.