, sondern medium size, mit Bäumen und Steinbänken, umzirkelt von einem kleinen Weg mit granitgesprenkelten Pflastersteinen. Er hat drei Brunnen, in denen die Erwachsenen Segelschiffchen schwimmen lassen, an schulfreien Tagen begleitet von ihrem Gekröse, nachdem sie aus ihren presbyterianischen, evangelischen, baptistischen, christlichen, muslimischen, buddhistischen, zoroastrischen, scientologischen, androgynen, bluesigen, jazzigen, souligen, arabesken, jupiterisch-thermopylischen, klabauterischen, katholisch-orthodoxen, heterodoxen, furzodoxen Kirchen gekommen sind, mitsamt Seelsorgern, Pastoren, Pfarrern, Priestern, Seelenhirten, Doktoren, Philosophen, Musikern, klingonischen Barbiturikern, Schwarzaugen, Weißaugen, atheistischen Spitzaugen, atheistischen Eigenbrötlern, Ungläubigen, adrenalinisierten Sängern, Rezitatoren und Quacksalberschwindlern.
Den Wells Park besuchten ebenso Mickerficker, Mackerfacker, Chicas, Chicos und Fipse. Weiße, Schwarze, Gelbe, Rosige, Bartlose, große wie kleine Affen. Manche führten in einem umzäunten Rund ihre Schoßhündchen Gassi, samt Plastiktüte für deren Karamellkringel. Andere joggten morgens oder abends, an die Hängeketten ihrer iPods gestöpselt, die ihre Ohren fesselten und sie mit Einsamkeit umgaben wie ein Schild. Die Musik im Ohr muss wohl eine Maske sein, mit der man ungestört umherziehen kann. Im Park gab es viele davon.
[Das erste Mal war ich im Wells Park gewesen, als mir der Chief eines Sonntags einmal freigegeben hatte, damit ich nach dem Bücherackern nicht aus lauter Langeweile Ameisen den Hintern abzwackte.
»Zieh los, dussliger Bastard, speck ein bisschen ab im Wells Park!«
»Was soll ich da, wo ich dürrer bin als Ihre Scheißmutter.«
»Was war das, du Wanze?«
»Bin gleich wieder da, Chief.«
An dem Tag bin ich in den Park gegangen, habe mich gesetzt, habe mir den ganzen Nachmittag die Eichhörnchen angesehen, die Knirpse, die im Brunnen planschten und ein versunkenes Schiffchen retteten. Das Herumpfoten der Hunde auf den Granitsteinen oder die Leute, die ebenfalls dasaßen und zusahen, ohne zu sehen.
An den nächsten Sonntagen schmuggelte ich ein Buch aus dem Laden und las unter einem Baum auf einem Hügelchen, das als Ankerplatz für Fahrräder diente und von wo aus man den gesamten Wells Park überblickte, nach Osten und Westen, nach Norden und Süden. Dort sah ich Rollschuhläufer, Rocktoniker, die sich mit voll aufgedrehten Lautsprechern wie Schlangen in der Luft einrollten, außerdem posaunende, fiedelnde, klampfende Straßenmusiker, auf der anderen Seite des Schlachtfelds.
Ein Park ist für mich eine Wimmelpyramide, in der alle zusammenkommen, sich aber nie mischen.
Dort hatte ich auch die Chica zum ersten Mal gesehen. Sie war mit einem Schäferhund an der Leine vorbeigegangen, in schwarzen Leggins und Top. Ihr Haar hatte sie zu einem einfachen, schnörkellosen Knoten gebunden, eine griechische, dorische Säule ohne Voluten oben am Kapitell, eine Venus, ja, wunderschön. Die Nase schmal, die Augen himmelweit. Ich sah sie und war schon unter ihren Rädern, vernichtet. Das Herz glitt mir aus den Poren. Der Atem blieb mir weg, und so tanzte ich atemlos unter den Wellen, die mir durch den Körper zuckten. Ich weiß nicht, ob es so was wie Scheißliebe auf den ersten Blick gibt, weiß es einfach nicht, jedenfalls hatte die Chica meine Pupillen verhext, seit ich vom Buch aufgeblickt und sie mich bis auf den Augenhintergrund versengt hatte. Sie hatte mir die Netzhaut zerkratzt. Sofort war das Gelesene vergessen, mein Blick fand nicht mehr zurück zum fokkin Buch. Wie sie dastand, bestialisch schön, wild, und den ganzen Park in einem Ruck mit sich selbst ausfüllte.
Vermutlich hatte sie mich im Vorbeigehen ebenfalls gesehen, denn die Frauen nehmen bestimmt alles wahr, auch wenn sie kein Aufhebens davon machen und scheinbar gar nichts sehen: Und doch sehen sie alles. Erdolcht blieb ich zurück, sahnig zerstrudelt unter dem Baum voller Eichhörnchen und Raupen.
Vernichtet.
Sie machte noch zwei Runden im Park, überquerte dann mit dem Schäferhund an der Leine die Straße. Verschwand hinter einem Haufen Autos und Menschen. Ich war bereits fahl und blau angelaufen, denn die Luft, die ich einatmete, drang nicht in meinen Leib, in meine tyrannischen, aufgewühlten Zellen.
Am folgenden Sonntag kehrte ich zurück, um sie wiederzusehen, mit Steilklippenpuls, sah sie aber nicht.
Ebenso am nächsten Sonntag: nichts.
Wäre ich ihr doch gefolgt, hämmerte es unaufhörlich in mir wie mein Kopf gegen die Wand, dazu der Gedanke: ja, ihr folgen und dann? Hasenfüßig, wie ich bin, wenn’s ums Ansprechen der schönen Chicas geht. Da werden mir die Hände feucht, Füße und Hintern, wenn ich nur dran denke. Und dann? Ich folge ihr und dann? Sie merkt es und ruft die Polizei, man locht mich ein, weil ich mörderisch-pervers den Lebensraum der Chica vergewaltigt habe, nimmt mich in die Mangel und expediert mich zurück an den Arsch der Welt. Aber das wäre mir egal gewesen, ihr bloßer Anblick hätte mir gereicht. Vermutlich kann man auch die Liebe bestaunen wie ein Kunstwerk, von weitem, ohne es zu berühren, ohne einen Raum, eine physische Dimension zu besetzen, bloß mit den Augen, mit den Sinnen, die sich verketten und einem dieses verdammte Kitzeln in die Eingeweide jagen. Wer weiß, ob sich jemand mal in eine Statue verliebt hat, ich glaube schon, pygmalionmäßig.
Und nein, sie kam nicht in den Park, ich sah sie erst Monate später wieder, als ich gerade ein paar stinkige spanische Romane im Schaufenster mit den Neuerscheinungen drapierte und sie in Pumps und Kostüm zur Bushaltestelle gegenüber ging.
»He, bescheuerter Bastard, schmeiß nicht mit den Büchern rum, weißt du, was die kosten? Die zieh ich dir vom Lohn ab, zippliger Schlotzer!«
Ich klebte an der Scheibe, in mir krampften die Scheißschmetterlinge. Sie ordnete sich mit der Hand das Haar. Ein Auto fuhr vorüber und hupte sie an, noch eins kam und hupte ebenfalls, fünf, sechs Hupen, bis der rote Bus anhielt und sie sich ganz vorn hinsetzte. Der Bus fuhr an. Unwillkürlich sprang ich aus dem Schaufenster und auf die Straße, um dem Bus nachzusehen.
»Schon wieder«, und ich rannte hinterher.
Zwei Blocks weiter hatte ich sie eingeholt und sah sie erneut. Sie blickte geradeaus, schön, wie die grandioseste Erscheinung, die mir je vor Augen gekommen war. Der Bus fuhr an, als uns das grüne Licht der Ampel entgegenschlug. »Und wieder«, sagte ich und lief los, wich den Leuten aus, die mir wie verstörte Pfosten im Weg standen. Noch viele Blocks weit folgte ich ihr, bis sie den Freeway erreichte und mein Atem ein Schwarm Schmetterlinge war, die vor Hast erstickten. Der verdammte Bus schrumpfte zu einem roten Fleck verlorener Liebe oder dergleichen, carajo. Am Firmament der Autos verlor ich sie aus dem Blick.
Als ich in die Buchhandlung zurückkehrte, erwartete mich der Chief in der Tür.
»Scheißbastard, einen Heidenschreck hast du mir eingejagt! Ich dachte schon, es kommt eine Razzia der fokkin Migra. Todesangst habe ich ausgestanden. Was war los, zum fokkin Teufel?«
»Nichts, Chief.«
»Was heißt hier, nichts! Niemand saust einfach so ab wie ein Furz! Was war denn?«
»Nichts, Chief.«
»Sag schon, Scheißkerl!«
»Okay, Chief. Hab gedacht, da wär Ihre Scheißmutter und treibt Esel an.«
»Na toll, du fokkin Bastard. Noch mal, und du kannst was erleben.«
»Ja, Chief, kommt nicht wieder vor.«
Aber in meinem Innern überschwemmte mich schon der Wolkenbruch. Wenn die Chica den Bus gegenüber genommen hatte, dann musste sie hier wohnen oder arbeiten. Bestimmt wohnte sie in der Nähe, weil sie einen Hund ausgeführt hatte, aber warum war sie so aufgeputzt, als würde sie außerhalb der Stadt arbeiten? Ob sie nach Hause gefahren war und bloß hier arbeitete?
Während der nächsten Tage putzte ich ausgiebig die Schaufenster, damit ich die ganze Zeit über mit einem Auge die Bratpfanne, mit dem anderen die Katze hüten konnte, vielleicht kam sie ja vorbei. Ich räumte den gesamten Fundus lateinamerikanischer Romane von einer Seite zur anderen: oben von den Feigenkakteen bis runter nach Patagonien. Dann kamen die dämlichen spanischen Romane dran und die der fokkin Yankees in spanischer Übersetzung. Ich ordnete die Bücher alphabetisch, von vorn bis hinten, nach Titel, nach Autornamen, von A bis Z. Dann kam mir die Idee, sie von hinten nach vorn zu ordnen, von Z bis A. Ich drapierte sie nach Farben, nach Größe, nach Seitenzahl. Nach Schriftart. Dann nach Themen. Fast alle waren fade Romane, die ich bereits in meinem Dachstübchen oder im Wells Park gelesen hatte, allesamt mit gedrilltem Satz-an-Satz ohne Seele, ohne Leben, bloß hübsche Wörtchen kreuz und quer. So knüpften die Schriftsteller ihre adretten, wurmigen Romane, ohne Atem, ohne Sauerstoff. Doch sosehr mein Auge blinkte, die Chica tauchte nirgendwo auf, carajo.
Mir gingen schon die Ideen aus, wie ich die Romane ordnen könnte, doch dann sortierte ich sie nach den Fotos ihrer Autoren: Die lumpigsten, hässlichsten Mickerficker stellte ich in die erste Reihe, damit die wenigen, die sich in die Buchhandlung verliefen, sie gleich sahen, und die fokkin gestriegelten Schriftsteller, herausgeputzt wie ihre verdammten Anstandsvokabeln, mit Krawatte und der intellektuellen Pose blasierter Mackerfacker, schob ich in die letzte Reihe, weil sie so arrogante Schlappschwänze waren, nicht mal ihre Mutter sollte sie in den tiefsten Tiefen der Bücherhölle erspähen.
Am dritten Tag der letzten Sommerwoche sah ich sie endlich wieder. Sie trug Bermudas, Sandalen mit violetten Blümchen und ein Top. Ihr Haar war zum Pferdeschwanz gebunden, keine Spur Schminke im Gesicht.
Mein Herz hob klopfend ab zu den surrenden Fliegen.
Die Chica nahm die graue Treppe zu dem Backsteinbau gegenüber und ging durch die Glastür.
»Lass es wahr sein, lass es wahr sein, lass es wahr sein«, wiederholte ich mir, ich weiß nicht, ob leise, vemutlich nicht, denn der Chief schrie mir von der Theke zu:
»Affenarsch, hör auf zu beten, man kann ja nicht mal in Ruhe die fokkin News lesen.«
So beobachtete ich, ohne Wortgesabber aus dem Mund, was draußen vorging, und ließ mir kein Detail entgehen.
»Chief, kann ich einen Moment raus?«
»Nein, wozu?«
»Ich will die Scheiben von draußen putzen.«
»Hast du das nicht eben getan?«
»Ich hole mir eine Limo.«
»Wolltest du nicht die Scheiben putzen?«
»Ich habe Durst.«
»Hier gibt es Wasser.«
»Nein, ich will was Sprudliges.«
»Dann quirl mit einer Scheißgabel in einem Schweißwasserglas und kipp es runter, gierschlundiger Bastard.«
»Chief.«
»Was?«
»Lecken Sie mich.«
»What!«
»Ob ich Ihnen eine Limo mitbringen soll.«
»Ich hab dich gehört, Scheißbastard. Los, hol dir schon deine Dreckslimo.«
Bevor der Chief den Satz beendet hatte, war ich auf der Straße Richtung rotes Haus. In großen Sätzen nahm ich die Steinstufen, zu allem bereit, was da kommen sollte. Fuck. Zu allem, na ja, nun war ich schon mal hier, dachte ich und schwitzte Blut und Wasser, was machten da ein paar Schritte mehr. Als ich die fokkin Tür öffnete, um ins Haus zu gehen, kam sie heraus. Ich blickte ihr in die Augen, und sie sah mich an, das weiß ich, denn ein Hammer sauste auf jede meiner Pupillen nieder. Eine gewaltige Explosion im Bruchteil einer Sekunde, als hätte man in einem Moment das Universum atomisiert.
Die Kehle verklumpte mir.
Ich öffnete die Tür sperrangelweit, trat zur Seite, senkte den Kopf bodenwärts und ließ sie vorbei.
»Thanks«, sagte sie. Bloß »thanks«. Sie ging mit schwingenden Hüften die Stufen hinunter, und ich spürte ihre Druckwellen, die mich schmelzen ließen, meinen fokkin Körper Millimeter für Millimeter zu Wackelpudding machten. Ich wusste nicht, was tun, mein Hintern kräuselte sich hinauf bis zum Hals, ich ging ins Haus und schloss die Tür hinter mir.]
»Dicke Biene sticht in Hintern«, sagt die Schwarze im Vorbeigehen.
Ich sitze immer noch auf der Bank im Wells Park. Es ist Nacht. Ich habe Lust auf gar nichts. Die Mickerficker, die über dem Morgendämmer kreisen, sind noch nicht da. Der Park wird nachts zu einem Ameisenhaufen aus Lumpen wie mir, ja, carajo, aus unwirklichen Wimmlern der Schattenufer. Die Schwarze treibt ihr Metallwägelchen ein bisschen weiter vor sich her, zum kleinen Brunnen, wo es Büsche gibt und das Gras dichter wächst. Sie zieht ein paar Kartons aus ihrem Gerümpel, breitet sie auf dem Boden aus und lässt sich darauf fallen. Dann zerrt sie noch einen zerfransten Poncho hervor und deckt sich zu.
»Sackfratze«, wiederholt sie, »Biene sticht in Hintern«, sie stößt ein irres Lachen aus, dann knurrt sie: »Friedlich schlaf«, sie schließt die Augen.
Wie soll ich die fokkin Augen zukriegen!, wenn mir die Seele an den Eiern baumelt.
Ich sehe anderen zu, die näher kommen und die Nacht auf die Hörner nehmen. Abgerissen. Streunend.
Tagsüber werden die Schlieren in den Augen der Stadt von kilometerlangen Reklameschildern übertüncht, von glänzenden Autos und hübschen Menschen. Nachts, wenn nur die Geräusche bleiben, werden wir Fixer, Junkies, Illegale, Kids, Mickerficker, Fipse und Mackerfacker in Dämonen verwandelt, erdrückt von unserer rachitischen Insolvenz.
»Verdammt, da wollt ich nicht ertrinken und stürz mich in den Brunnen.«
Ich krümme mich, weil eine Böe zwischen den Bäumen hindurchkriecht und mir die Poren aufspeltert.
»He, du da. Die Bank gehört uns!«, sagen vier fipsige Hosenscheißer. Wäre ich bei Laune, müsste ich sie tüchtig einreiben, damit sie mich respektieren, aber ich habe schon zu viele Stacheln in der fokkin Visage. Ich stehe auf und lasse sie rund um die Bank ihre Sachen vertickern. »Recht so, Bastard, zur Hölle mit dir!«, rufen sie mir hinterher.
Ich kreuzundquere über die Steine, bis ich den Baum sehe, unter dem ich so viele Sonntage gelesen habe. Ich lasse mich zu seinen Wurzelfüßen fallen. Von dort aus überblicke ich den ganzen Park. Ein paar Chicos rollen auf Skateboards Richtung Osten, im orangefarbenen Laternenlicht voller Mottenmonster. Man hört ihr Gelächter, ihre Fucks, wenn sie ins Schleudern geraten, auf dem Boden aufschlagen und zwischen ihren Pirouetten Hautfetzen verlieren. Dann stehen sie auf, als wäre nichts geschehen, machen weiter mit ihren Entgleisungen in Höchstgeschwindigkeit, ein ums andere Mal. In der anderen Richtung, bei den durchgebrannten Laternen, sind die spenglerischen Candymen, die Junkies, die Tütchenhändler. Dort halten die Autos drei Sekunden, feilschen um Chupetes, um Kokssäckchen oder Methamfokkinmine als Crack, dann furchen sie wieder durch die Straßen und lassen sich vom Speed die Nasen schärfen.
Jesses, yes, irgendwie nistet das fokkin Elend überall, vom rasanten Yuppie bis zum bettelarmen Lumpenpack schäumt ein fokkin Katarakt von Scheiße, denn da kommt ein geschäftskurbelnder Rastaknirps vorbei, der an einer Tüte Lösungsmittel bläst und pumpt, immer hinein in den geweiteten Schlund.
Wenn ich schlafe, bin ich am Arsch, denke ich, da bin ich schneller in der Hölle, als ich kucken kann. Ich falte mich zusammen. Umschlinge mit den bloßen Armen die Beine, mir fehlen nur noch Charro-Hut und Poncho zur perfekten Bettlerstatue.
Ich senke die Lider ein wenig, die Abreibung und Schlafmangel ohnehin zusammenzwingen, aber hier muss man mit offenen Augen schlafen, damit nichts passiert. Ich kann nicht, muss nicht mehr denken. Je mehr ich sie senke, desto deutlicher sehe ich die Chica vor mir.
Lässt die Scheißliebe immer Spiegel regnen, die uns das Bild der eigenen Leere zurückwerfen?
Ich will unsichtbar werden, damit die Chica aus meinem Kopf verschwindet, will mich dematerialisieren, um sie zu dematerialisieren. Bleischwer zerrt sie an meinen Gedanken. Ich sehe, wie sie lächelnd jede Faser meines Hirns durchquert und mich von innen häutet. Ah, was ich fühle, geht mir durch und durch. Ich atme tief ein, erschlappe nach und nach. Die Nacht wird immer tyrannischer, langsam bezwingt mich ihr Nebel; allmählich sinke ich als verzwirbelte Tilde in ihre umrankenden Arme. Ich gehe. Gehe jetzt. Bin fort.
Ich spüre einen Schlag auf die Schulter. Es ist noch dunkel, die Nacht in vollem Gang. Ich bin restlos erledigt. Wieder ein Stoß gegen die Schulter, etwas kräftiger. Die Schwellung meiner Scheinwerfer ist nun fokkin Schlieren aus Stahl gewichen. Tonnenweise Klebstoff pappt mir an den Wimpern. Ich kann die Augen nicht öffnen. Ein dritter Schlag auf die Schulter läuft den gesamten Unterarm entlang und tröpfelt am Schlüsselbein aus.
»Hey, hey, du, not sleep in the park.«
Ich höre im Schlaf, aus der Ferne. Bin wie ein Blinder, eine tumbe Marionette ohne Fäden.
»Hey, hey, hey.«
Zum vierten oder fünften Mal schlägt es auf meine Schulter.
»Ist er death?« Ich höre einen verkappten Latinfloor-Akzent.
»Yes, watch mal, atmet scheint’s nicht mehr«, antwortet der andere.
»Ob er Money hat?«
»I don’t know. Wart, ich kipp ihn mal.«
Als ich ihre Krallen über mein Skelett wandern spüre, winde ich mich wie ein Wurm im Salzregen.
»Carajo, Bastarde, lasst mich schlafen!« Nun habe ich die Lidketten gesprengt, und meine Augen platzen auf wie Quesadillas. Sie halten im Befummeln inne.
»Fuck«, schreit der Latino-Fummler, »der lebt.«
»Hey, hey, hey, boy, boy, boy. You don’t sleep in the park.«
Ich öffne meine schlaftrunkenen Augen und sehe zwei Securitywächter oder Polizisten, genau erkenne ich das nicht. Scheiße, hat mir gerade noch gefehlt, denke ich. Bevor es vollends den Bach runtergeht, beschließe ich, ihnen die Stirn zu bieten. Tiefer kann ich sowieso nicht fallen.
»Wollt ihr mich verarschen? Was ist mit den fokkin Scheißern, die da drüben pennen?«, sage ich, ohne auf ihre spitzen Schlagstöcke zu achten, mit denen sie mich gepiekst haben. Sie machen einen Schritt rückwärts, zweifelnd, die unsichere Sicherheit. Sie tragen Uniform und fokkin Helme. Am Gürtel ein Funkgerät, die Stiefel hochgewichst. Sehen aus wie Marsmännchen.
»Do you have money?«
»Bitte was?«
»Man muss blechen, um hier zu sleepen, Scheißkerl.«
»What?«
»Money.« Er kratzt sich den Daumen mit dem Zeigefinger.
»Meine Abreibung habe ich heute schon weg, Bastarde. Zieht ab. Ich rühr mich nicht vom Fleck«, sage ich. Sie weichen noch einen Schritt zurück, fiffimäßig, wie erschrocken. »Keine Chance, fokkin Bastarde, zur Hölle mit euch, ich bin hundemüde.«
Noch ein Schritt rückwärts, und sie blicken einander in die Augen wie zwei fokkin Verliebte.
»Fuck«, sagt einer.
»Fuck«, sagt der andere.
»Fuck, fuck«, und dann fallen sie mit kantabrischem Blick über mich her, mit ihren Stiletten, ihren Banderillas, als wär ich ein Scheißkampfstier. Sie heben ihre vernichtenden Tonfas und verpassen mir meine Abreibung schön der Reihe nach, auf Rücken, Schultern, Haupt. Ein gezielter Knüppelschlag hinter den Trichter, und mein Stecker ist gezogen. Sie betten mich künstlerisch, liebevoll zum Schlafen wie ein Scheißbaby am Fuß der Trauernachtweide.
Fuuuuuuuck!
Ja, man weiß es nicht, weiß es nie, aber immer fällt man noch weiter runter, in ein noch unteres Unten, noch tiefer, gruftiger, ein Grab, in dem die Würmer ruhen.
»Bin ich tot?«, frage ich im Traum, den Bauch himmelwärts gestreckt, als ich das Gesicht der Chica sehe, das sich über mich beugt. Der Hals tut mir weh, Arme, Quanten, Schwanz. Es ist schon Tag, ich weiß nicht, wie spät, alles funkelt so.
»He, Sackfratze«, sagt die Schwarze, »hast’n Schädel aus Stein.«
Da fährt eine lange Zunge über meine Stirn, als leckte mir ein fokkin Engel die Wunden. Ich blicke auf und sehe, dass mich ein großer Schäferhund beschnüffelt.
»Candy, aus«, befiehlt die Chica, richtet sich auf und zieht den Hund an der Leine.
»Bin ich tot?«, wiederhole ich.
»Ha!«, ruft die Schwarze. »Granitbirne! Den stechen Bienen in Arsch, und der lebt fort.« Sie zieht mit den drei, vier Zähnen, die ihr geblieben sind, eine Grimasse, nimmt ihren Rumpelkarren und schiebt ihn Richtung Weg, wo die Fahrräder festgehakt werden. Sie murmelt im spaßen Hohn: »Ha! Sackfratze is wie Unkraut. Ha!«
Ich senke die Lider. Vielleicht ist alles ein Traum, ein liebeselixierter Toloache-Traum, oder ich bin tatsächlich tot und löse mich im nächsten Moment auf wie ein Pyrrhuslöffel voll Salz im großen Teich des Universums.
»Ich wollte 911 anphonen, aber die Schwarze hat gesagt, besser nicht, das könnte schlimmer für dich sein.« Ich höre die Stimme der Chica. Öffne die Augen und sehe sie erneut, sie blickt mich an. Blickt mich an. Ja, ich bin tot. Bestimmt. Ich muss tot sein, das ist die einzige Möglichkeit. »Gebrochen hast du scheint’s nichts.«
»Äh?«, bringe ich mühsam hervor, als würde ich innerlich beben, ich weiß nicht, warum, aber das sage ich da flach am Boden. Sonst finde ich keine Wörter in meinem Vokabular, alle sind sie verschrumpelt, kein lebender Buchstabe flattert um meine Zunge.
»Ich hätte nicht … Weißt schon. Ich war gestern nicht nett zu dir. I’m sorry. I’m so sorry.«
Ich kann nichts scharf stellen. Kapiere gar nichts. Ich sehe sie an, schön, wie sie ist und den Raum um sich krümmt: Wenn so der Tod sein sollte, wünschte ich mir Engel wie sie.
»Ich muss gehen«, sagt sie nach einer Pause, in der ich nichts höre als das Rascheln ihrer Flügel im Park, das Zilken ihrer Federn, die sich an den Spitzen aufbauschen und mit den Passanten verschwimmen, und das Geräusch des Metallwägelchens der Schwarzen, das sich auf dem Steinweg verfitzt und in dem Lärm untergeht, den die wirbelnden Autos in der Ferne veranstalten.
»Was ist heute für ein Tag?«, frage ich mit einer Stimme aus brüchiger Glut. Die Chica mustert mich. Sie trägt eng anliegende Jogginghosen, das Haar hochgesteckt, Ohrringe mit kleinen Brillanten, und zum ersten Mal erkenne ich eine kleine Tätowierung hinter dem Ohr, als sie den Kopf zum Schäferhund wendet. Es ist eine Vogelfeder.
»Thursday.«
»Hmmm … was?«
»Heute ist Donnerstag, Chico«, sagt sie.
Ich schlucke mühsam. Meine Hände spüren das Gras, das sich in meinen Finger verheddert. Mein Lesebaum wiegt sich dort oben. Der Himmel ist blau und wolkenlos.
»Ich habe Sie einmal gesehen, an einem Sonntag, einem schönen Sonntag, dem schönsten aller Sonntage«, sage ich mit blau angelaufenem Mund.
Sie weiß nicht, wovon ich rede, denn sie entgegnet:
»Ich muss los, ist schon too late für mich«, sie zieht an der Hundeleine. »Komm, Candy, come on.«
Bevor sie weitergeht, dreht sie sich zu mir:
»Hör mal, Chico, hast du was fürs Food?« Ich nicke. »Okay. Also, bye.«
Sie kehrt zum Weg zurück und entfernt sich rasch, vom Schäferhund gezogen, Richtung Parkausgang. Mir tun alle verdammten Knochen weh, dennoch richte ich mich auf und sehe, wie sie die Straße am Park überquert und fortläuft, bis sie aus meinem Blickfeld verschwunden ist. Der Körper schmerzt, jawohl, und wie, aber in mir drinnen tut sich etwas Unerfindliches. Irgendwas. Ich lehne mich wieder zurück, der Kopf himmelwärts. Ich weiß nicht, an was denken, denke also nichts. Lasse einfach die Graswurzeln meine Knochen wieder ordnen.
Augenblicke später rolle ich auf die linke Seite, bevor die Sonne zu einer Salve entfesselter Pulverblitze wird.
Ich taste mich ab, ob noch wirklich alles dran ist. Ja, nichts fehlt. Drei Abreibungen in Folge, und ich bin unbeschädigt. Bloß die Beulen schmerzen, aber nicht allzu sehr, carajo, die Gewöhnung drückt den Preis des Schmerzes.
Taumelnd stehe ich auf. Stütze eine Hand gegen den Baum und versuche, die Kontrolle über die Vertikale wiederzuerlangen. Hunger habe ich scheint’s nicht, mein Magen muss vollgestopft sein mit fokkin Killerschmetterlingen. Davon hatte ich irgendwo gelesen, von diesen verliebten Viechern, die uns mit ihren Flügeln die Eingeweide aufschlitzen und den Hunger mit Messern erdolchen. Ich schiebe die Hand in die Tasche meiner blutbefleckten, staubigen Jeans. Fokkin polypathetische, dreckspestende Scheißgreifer, carajo, Mist Mist Mist: Meine fokkin Dollars haben sich die Polizistenärsche in die Pfeife gesteckt. Ich sehe im Gürtelgeheimfach nach, wo ich die beiden Zehn-Dollar-Scheine von Mister Abacuc verstaut hatte, und nichts: Die haben mich geplündert, haben nur den verdammten Zettel dagelassen, den er mir geschrieben hat. Ich wühle noch ein bisschen tiefer, und da kommt das kleine Medaillon meiner Mutter zum Vorschein. Ich stecke es wieder zurück, falte Mister Abacucs Zettel zusammen, als Erinnerung an die verlorenen Scheine. Was soll’s, sage ich mir wieder einmal, damit ich nicht das Gefühl habe, tatsächlich immer der Verlierer zu sein.
Ich hinke zum Schiffchenbrunnen. Niemand ist dort, heute ist nicht Sonntag, sondern Donnerstag, und an einem Donnerstag bin ich noch nie im Park gewesen. An einem Nichtsonntag treiben sich dort nur ein paar verblassende Passanten herum, Härmetiker, verschluckt von Grünflächen und geblähten Bäumen. Zwei, drei Radfahrer rollen über den Hundeweg. Ein paar Bänke sind mit Pärchen besetzt, die nicht auf mich achten. Ich löffle Wasser mit der Hand und bespritze mir das Gesicht. Verflüssigtes Blut rinnt Richtung Brunnen, Tropfen, die sich auflösen, einfach so, wie sich auch das Scheißuniversum in einem Salzkorn auflösen kann. Ich sehe zu, wie das Wasser sich beruhigt, sehe mein Spiegelbild.
»Scheiße. Fuck. Fuck. Fuck.«
Spontan werfe ich mich ins Wasser, in den Brunnen, um ein für alle Mal ein Ende zu machen, das Einzige fortziehen zu lassen, was mir gehört. Das Wasser deckt mich zu, ich versinke, will ertrinken, mit den fokkin Fischen verschmelzen.
Verdammte Scheißwelt, man sollte den Dreck in öffentlichen Brunnen verbieten, damit einer so sauber gehen kann, wie er gekommen ist.
Das Brunnenwasser wird trüb und schmutzig, Kleiderstaub und Blut werden zu grauen Atomen. Ich tauche auf, als mir die Luft ausgeht, lasse mich zügellos treiben. Schließe die Augen, döse weg, wasche mich rein von all meinem Schweiß, eine aquaplane, transaquatische Teichblüte.
Das Wasser ist eiskalt.
Aus unerfindlichem Grund fühle ich mich besser. Ich weiß nichts von morgen, weiß gar nichts. Das kalte Wasser reinigt gerade mal meine Haut. Ich hänge mich an den Rand und klettere, triefend von Wasserkrumen, aus dem Brunnen heraus. Das Pärchen auf der Bank wirft mir schräge Seitenblicke zu, als ich vorbeigehe, das Gras bespritzend, und sie hören auf, einander die Mandeln einzusaugen. Ich gehe wieder zurück zu meinem Baum, und während die Sonne mit ihrem Feuer den Granit einweicht, lege ich mich zum Trocknen hin wie ein fokkin Drecklappen. Die Augen tun nicht mehr so weh, ich spüre, dass nichts für immer wehtut. Ich setze mich unter den Baum, lehne mich an den Stamm. Blicke in alle Richtungen. Dahinten die Autos, drüben die Pärchen, zwei weitere Radfahrer kommen und steigen auf ihre Drahtgestelle an der Radstation. Ich komme mir plusterpolstrig vor, lasse meine Nervenstränge Richtung Baumwurzeln fließen, bin schwerelos, wie trunken, belämmert von Wasser und Feuer.
»Was ist jetzt schon wieder passiert, Chico? Du bist ja patschnass!«
Ein Schauer überläuft mich, polyedrisch, hämatös; er klettert von den Ohren bis zum Herzen und wieder zurück. Sofort wende ich den Kopf zur linken Schulter und sehe wieder die Chica hinter meinem Rücken, die ein Tässchen Instantsuppe hält.
»Und Ihr Hund?« Eine andere Frage fällt mir bei meinem Zipperlein nicht ein.
»Candy? Ah, you know, die habe ich wieder bei ihrem Herrchen abgeliefert.« Sie macht eine Pause, dort zwischen Baum, uns und dem Himmel. Ihre runden Lippen zirkulieren in meiner gesamten Pupille. »I think, du hast kein Money, Chico, also hab ich dir Suppe gebracht; ist nicht viel, bloß Chickensuppe.«
Sie reicht mir die dampfende Styroportasse.
»Waren Sie nicht spät dran?«, frage ich sie auf den Kopf zu, als ich die Suppe entgegennehme und beinahe ihre schönen Finger streife.
»Hätte es fast nicht geschafft. Das Hundeherrchen geht um zehn, später kann ich ihm Candy nicht bringen, dann müsste ich sie bis abends behalten. Mit quietschenden Sohlen bin ich angekommen, you know!«
Ich puste über die Suppe und nehme einen Schluck, damit meine Hände beschäftigt sind und mein Gebibber nicht auffällt. Sie ist siedend heiß, und ich verbrenne mir die Zunge. Seit vorgestern habe ich nichts mehr gegessen, nur Luft im Wanst. Die Schmetterlinge erwachen allmählich wieder zum Leben, erhitzen sich, flattern im Labyrinth meiner mit Instantsuppe besprengten Eingeweide herum.
»Was ist also los mit dir, Chico, und mit der Spanish Book?« Sie beugt sich zu mir, sieht zu, wie ich mir Bröckchen von rehydriertem Huhn, Erbsen, Mais und Möhren einverleibe. »Die Book war heut Morgen ganz umbändert«, fährt die Chica fort, »mit diesem gelben Band, you know, wie wenn was Grässliches passiert ist.«
Ich kippe die Suppe in einem Schwupp runter, verbrenne mir den kurzen Filter, durch den ich atme, und erwärme mir jeden Millimeter des restlichen Körpers. Ich war tatsächlich halbtot vor Hunger gewesen und hatte es nicht mal gemerkt.
»Der Chief ist gestern abgetaucht«, sage ich der Chica nach dem letzten Schluck Suppe, die leere Tasse in Händen, und harke mir mit dem Unterarm über den Mund, um die Suppenperlen abzuwischen.
»Ah …« Sie wird kurz nachdenklich, dann ruft sie, als kehrte sie auf den Planeten zurück: »Aber jetzt muss ich wirklich weg, you know. Und ehrlich, vielen Dank für deinen Einsatz gestern. Ich weiß nicht, Chico, ich bin so was nicht gewohnt. Was gibt’s nicht alles in der Welt, da weiß man nicht mehr, was denken. Thanks. Goodbye.«
Sie richtet sich auf und geht an mir vorbei, zum Steinweg am Parkbrunnen. Da springe ich schlagartig auf. Meine Beine sind hüpfende Schleudern geworden, eine gespannte Zwille.
»Hören Sie«, schreie ich aus sicherer Distanz, vertrottelt von der Allüre des Stoikers, des Im-Stillen-Liebenden, schreie mit endemischer Freude, gepaart mit einer unerfindlichen Glut in der Brust: »Nicht der Rede wert.«
Die Chica hält inne, dreht sich um und lächelt mich an.
»Pass auf dich auf, Chico, und dass deine Kleider bald trocknen.« Dann geht sie rasch zum Steinweg zurück und die kleine Böschung hinunter zum Fahrradständer. Ich sehe ihr nach, wie sie sich zwischen den Bäumen auflöst, aber sie entschwindet mir nicht, denn ich stelle sie mir als Blume vor, eine schöne Blume, die der Luft in den Locken steckt, dem Universum ins Zentrum gepflanzt. Sie erreicht den Parkrand, überquert die Straße. Von fern höre ich, wie sie angehupt wird, höre die röhrenden Motoren, das Schmatzen der Mickerficker und Fipse, die ihre Sabberzungen entrollen, um ihr nachzupfeifen, ihre gesamte Oberfläche zu umschleimen, über alle Falten ihres herrlichen Rasters zu reiben. Dann springt die Ampel wieder auf Los, und die Autos tollen erneut umher, euphorisch, wie brünstige Hunde.
Da wird mir klar, wie stark sie ist, wie mächtig inmitten dieser fokkin Welt, und ich Fitzel verteidige sie. Überall bepflastert.
Fuck. Fuck. Fuck.
Mit meinen Triefstiefeln, der Jeans, die Dampfbrösel aussendet, und dem nassen Buchladenhemd gehe ich los, lasse mich zwischen den Parkbäumen treiben. Ich habe keine Vorstellung, was tun, aber etwas werde ich tun müssen. »Etwas. Etwas. Etwas, verdammter Mist.« Ich quetsche die Styroportasse. Mein Hirn sticht wie damals, als ich in der fokkin Buchhandlung angefangen hatte, diese dämlichen, verlogenen, ekelhaften Schwulettenromane zu lesen. Alle mit fetten Protzbuchstaben, aber ohne Seele. Fast alle weit weg von der Welt, dem Leben.
Abgesoffen von all den hohlen Wörtern.
Das Hirn sprengt mir die Schädeldecke. Ich muss etwas tun, fühle mich eingepfercht, ein Scheißaffe, der einen Anfall bekommt. Ich umrunde ein ums andere Mal den Rasen, die Bäume, trete in die Luft. Ich muss mich bewegen, sonst fressen mich die fokkin Würmer, spüre, wie sie mir durchs Fleisch marschieren, wie sie mit ihren Suppenlöffelkiefern jede einzelne meiner Zellen schlucken, jeden einzelnen meiner lebensnotwendigen, neuentfesselten Follikel. »Was mache ich? Was mache ich?« Ich weiß nicht, dennoch laufe ich los, ohne es zu merken, wie ein wütiger, irrer Verrückter.
In vollem Lauf erreiche ich den Parkrand. Ich habe keine Zeit, aufs Rotlicht zu warten, das Herz entwischt mir polternd unter den Fingernägeln. Ich renne mitten durch den Bach vorbeischießender Autos. Die Autos pfeifen auch mir nach, schimpfen, hupen. Ihre Motoren röhren mir nach, während ich den Reifenwald der Straße durchquere. Sie fluchen, wettern mir nach:
»Fuuuuk yooou!«
Zwei Autos lassen Gummi quietschen und geraten ins Schleudern, damit sie auf dem Asphalt keine Tortilla aus mir machen. Ich habe nicht die Zeit, mich umzublicken, die Zeit drängt, die Zeit bringt mich jede Sekunde um, seit man mir das Herz amputiert hat.
An der Ecke stoße ich mit einem zerstreuten Mackerfacker im Anzug zusammen, der ins Handy spricht und eine schwarze Aktentasche trägt. Ich zerzause ihn und laufe weiter.
Dort sind noch zwei Leute. Ich versuche, den Zusammenstoß zu vermeiden, zickzacke durch sie hindurch, spüre überraschte, dann knirschend erzürnte, wutentfachte Blicke, als wäre rennen, um sich zu retten, der Zivilisation nicht würdig.
Ein Fips mit Schnuller im Mund läuft mir in den Weg, ein Blondschopf mit langen Locken. Ich springe über ihn hinweg. Seine Mutter ruft mir hinterher:
»Fuuuuuck you, Blödmann.«
Ich habe keine Zeit, das Leben entweicht mir.
Ich zische wie eine kurze Lunte.
Ich biege um die Ecke der Buchhandlung und steuere das rote Haus der Chica an, habe keinen Schimmer, was ich tun oder sagen werde, aber etwas wird sich schon ergeben. Mit einem Satz nehme ich die Steinstufen und öffne die Tür. Atme schwer, das Brunnenwasser vermischt sich mit meinem Schweiß. Der Gang führt zu den Wendeltreppen. Die Beleuchtung ist schummrig. Ich nehme zwei, drei Stufen auf einmal bis zur Tür der Chica, wo ich so oft hatte klopfen wollen und doch immer zurückgeschreckt und wieder abgezogen bin, die Fingerknöchel fieberglühend von Feigheitsviren.
Ich erreiche ihre Tür, eine vergilbte Holztür, unten mottenzerfressen. Ein verwaschener Abtreter verkündet BIENVENIDO — WELCOME. Ich halte inne, schlürfe Luft und wische mit der Hand den Schweiß ab, den ich auf der Stirn mitschleppe. Dreimal noch röchle ich, bis ich spüre, dass mein Atem weniger heftig wird. Ich klopfe kräftig, die Knöchel kommen mir nun vor wie mächtige Harpunen.
»Es ist offen.« Eine prähistorische Männerstimme drinnen. Ich drücke gegen die Tür und setze einen Fuß hinein. Als Erstes fällt mein Blick auf einen Stuhl mit einer Vase, in der statt Blumen eine Pfauenfeder steckt. Das Wohnzimmer wird vom Tageslicht beleuchtet, das durch ein großes offenes Fenster tritt, dessen glatte Vorhänge beiseitegeschoben sind. Ferner gib es zwei mattierte Sessel und ein Couchtischchen aus kupferfarbenem Holz, raurötlich, mit getönter Glasscheibe, darauf ausgebreitet ein paar Tücher mit Glasperlen und Hanfgarn. Zur Linken steht ein Tischchen mit Computer und Bürostuhl. An der Wand darüber ein riesiges Gemälde mit vielen Strichen und Spritzern, als hätte jemand Farben ausgespien, als hätte ein Schwindsüchtiger ganze Liter von Farbe inhaliert und sich mit der Leinwand die Nase geputzt. Die Wohnung hat Holzdielen, wie alle diese Altbauwohnungen, eine hohe Decke und ist nicht sehr elegant, auch wenn sie wie ein Palast wirkt. Ich wage mich weiter vor, und die Dielen ächzen mit allen Nervensträngen.
»Na, heute hat dein Hahn wohl nicht verschlafen«, sagt da auf einmal dieselbe Stimme, die am Fenster in einem hohen Lehnsessel sitzt.
»Was für ein Hahn?«, frage ich.
»Wie bitte?«, entgegnet der Mann von seinem Sessel aus.
»Ich habe keinen Hahn!«, sage ich.
»Wer bist du?«, fragt er.
Ich mache zwei weitere Schritte Richtung Fenster. Von dort ist eine Ecke der Bushaltestelle zu sehen.
»Ich suche …!«, und da merke ich, dass ich den Namen der Chica nicht kenne. Ihn nie gekannt habe. Ich hatte ihr nie einen gegeben. Niemals. Auf der Straße ist alles unspezifisch, multipliziert, addiert, subtrahiert und dividiert, weil alles sich gleicht, scheißglobalisierte Namen: Fipse, Mackerfacker, Mickerficker, Chicos, Chicas, Candymen, Schnorrzecken, ja sogar die peinlichen Vollidioten aus dem Osten der Stadt. Fette Spañoleros mit Zigarre, Baskenmütze, wild behaart wie die Makaken.
»Suchst du meine Enkelin?«, fragt er, während er sich langsam, ganz langsam im Sessel dreht.
»Ich weiß nicht«, sage ich versprockt, weil ich nicht weiß, ob sie seine Enkelin, seine Tochter, seine Aushilfe, die Señorita, der Engel, mein Frieden, mein Krieg, die Haushälterin, die Chirurgin ist, die mir gerade mit ihrem bloßen Blick das Herz herausoperiert hat, oder vielleicht habe ich mich auch in der Tür geirrt, und es war die gegenüber. Schwer angekratzt frage ich: »Und Sie, wer sind Sie?«
»Ha!« Er lässt einen Lacher über drei Banden los, der an den Wänden abprallt und durchs Fenster hinausfliegt. Als er sich beruhigt, murmelt er in sich hinein: »Ach, was ist das für eine Welt, hahaha, und das in meinen eigenen vier Wänden, hahaha, wo gibt’s denn so was.« Nun hat er den Sessel gedreht, und ich sehe einen Großvater mit blauen, grünstarigen Augen, wie Dattelsülze. Er hat einen Stock mit silbernem Griff, den er mit beiden Händen hält. Die Haare sind lang, die breite Stirn queren zahllose Falten. Er hat einen wuchernden weißen Bart. Bekleidet ist er mit einem zinnblauen Schlafanzug, kariert und mit Ornamenten, an den Füßen braune Pantoffeln. »Wenn ich in deinem Alter wäre«, sagt er immer noch lachend, »würde ich dich tüchtig mit meinem Stock versohlen, damit du nicht einfach so reinschneist und einen alten Mann auf den Arm nimmst … ha! Aber mit den Jahren lässt man mehr durchgehen als früher, also los hilf mir auf die Beine, damit ich dir nach Herzenslust eins mit dem Stock überziehen kann.«
»Fuck«, sage ich, »im Ernst?«
»Nein, wo denkst du hin. Ich will aufs Klo, und meine Enkelin ist schon zur Arbeit gegangen. Ich warte auf den Jungen von der Fürsorge, aber da du schon mal hier bist, kannst du mir helfen. Los, meine Blase platzt!«
Ich trete vorsichtig zu dem Opa, nicht, dass er mir doch mit dem Stock aufs Haupt haut.
»Und was jetzt?«
»Hilf mir bloß hoch, und wenn ich Schlagseite bekomme, ziehst du mich in die andere Richtung, ein Mann muss seine Würde, die Vertikale bewahren, finde ich, bis zum letzten Moment.« Er reicht mir seine fleckigen Hände mit den kantigen Adern. Ich ziehe kräftig. »Tatsächlich, aus dieser Höhe sieht die Welt ganz anders aus, nicht wahr? Schon mal von der Theorie der großen Männer gehört? Die wegen ihrer Größe die besten Stellen bekommen, weil ihr Ego sie wie Popcorn aufbläst und sie auf die restlichen Sterblichen herabsehen. Ach, nichts als natürliche Auslese.«
Ich zucke mit den Schultern, wie aspartamisiert. Ja, die Welt ist fokkin scheißverrückt.
»Und jetzt?«, frage ich den dürren Binserich, der die Arme ausstreckt, damit ich ihn erwische, falls er Schlagseite bekommt, und er sich nicht den Schädel aufschlägt und durch den Boden bis ins Erdgeschoss des Backsteinhauses bricht.
»Gar nichts jetzt. Ich marschiere schön aufrecht los, und du folgst mir, für den Fall, dass ich rückwärtskippe.«
Er wackelt los wie eine gebrechliche, spirane Schildkröte, als zöge er die Last von hundert Elefanten hinter sich her, die im Büschel an seiner Schulter hängen. Langsam, als stünde ihm die ganze Zeit zur Verfügung. Ein Schrittchen voran, ein Schrittchen zurück, ein Schrittchen voran, ein Schrittchen zurück, ein Schrittchen …
»Hören Sie«, sage ich, »und wenn ich Sie trage?«
»Was denn tragen, kommt nicht infrage! Die Würde zuerst, du Holzkopf.«
Dreihundert Jahre später erreichen wir endlich das Badezimmer. Er öffnet die Tür und sagt:
»Hier gehe ich allein weiter. Bin ich in zwei Stunden nicht wieder draußen, ruf den Klempner.«
»What!«
»Dann eben das Bestattungsinstitut.«
»What!«
»Lach doch, Junge.«
»Warum?«
»Wenn jemand was Lustiges sagt, lachen die Leute gewöhnlich.«
»Aber ich habe jetzt keine Lust zu lachen.«
»Na, ist gut, dann lach nicht. Hast jedes Recht dazu. Ich mach nicht lange.«
Er schließt die Tür, und ich höre, wie seine Pantoffeln den Holzboden schleifen. Einige Minuten später höre ich die Spülung und nach weiteren den Wasserhahn.
Einen aufgeblähten Augenblick später öffnet er die Tür.
»Du bist immer noch da? Ich hatte schon gedacht, du wärst eine Halluzination. Wenn man alt wird, findet man neue Reisegefährten, indem man bloß auf die kahlen Wände starrt. Oder siehst du etwa alle meine Freunde?« Er macht sich zu seinem Sessel auf.
»Sind Sie reif für die Klapsmühle?«, frage ich mit Stirnkräuseln.
»Ha!«, ruft er, »den Ausdruck habe ich seit Jahrhunderten nicht mehr gehört! Aber leider nein, ach wär ich’s doch. Als Verrückter erträgt sich die Bescherung in der Welt leichter. Die Vernunft taugt nur dazu, sich allein aufzuhängen.«
Eine Ewigkeit später gelangen wir, mit all der Geschwindigkeit der Ruhe, zum Sessel. Er dreht sich um, bereit, wieder auf dem Hintern zu landen.
»Reich mir die Hände, das Schwierige ist das Hinsetzen und Aufstehen. Eine Bruchlandung, und ich bin meine Hüfte wieder los.«
Ich klammere mich in seine Hände wie ein Kran, diene als Hebel, und nach und nach lasse ich ihn herab, bis er wieder in seinem Meer verankert ist.
»Also«, sagt er, zieht den Pyjama zurecht, packt den Stock und stützt sich beidhändig darauf, »du willst also zu meiner Enkelin Aireen?«
»Aireen?« Ich wiederhole ihren Namen, und er löst in mir ein ungeahntes, endloses Echo zwischen Kopf und Herz aus; ihr Name hallt wider in meiner Brust wie eine Kanone aus Luft, Erde, Wasser und Feuer. »Ich dachte, Sie sind verrückt und vergessen ständig was«, sage ich dem Greis, ein momentaner Reflex. Wie ein zappliger Zwengel verbrutzle ich zwischen meiner Lust, die Chica zu sehen, und ihrer Unnahbarkeit; zwischen meiner Lust, sie als einzigen lebensspendenden Duft einzuatmen, dieser Liebeshast der äußeren und der Langsamkeit der inneren Welt.
»Ach nein, du Gimpel, noch erinnere ich mich an vieles. Das Alter ist kein Synonym für Schwachsinnigkeit.«
»Beleidigen Sie mich wieder, Señor?«
»Keineswegs, Junge. Der Gimpel ist ein Vogel mit Hühnerhirn und Schweinsköpfchen.«
»Ach so.«
»Und sieh dir das Foto hier an«, sagt der Großvater, »das ist Aireen mit drei. Die hinter ihr ist ihre Mutter, meine Tochter. Meine einzige Tochter.«
»Keine der beiden sieht Ihnen auch nur im Geringsten ähnlich«, sage ich und versuche, mir einen Reim auf die Familie zu machen.
»Sie ist eben bloß die Tochter ihrer Mutter.«
»Was?«
»Ach, Junge«, sagt er. »Jeder hat seine eigene Geschichte. Manche sind länger als andere. Vor einem Berg von Jahren habe ich eine bildschöne Frau kennengelernt …«, und er verstummt. Eine Mammutpause materialisiert sich zwischen uns, als suchte er mit den blauen, alten Augen, zerkratzt von den langsamen Lidern, an den kahlen Wänden seine Erinnerungen. Der Stock erstarrt. Er schluckt. Wie abwesend, bernsteinfarben, mit all den Falten, die seinem Gesicht Ewigkeit verleihen. Da klopft es an der fokkin Tür. »Es ist offen«, ruft der Großvater, losgekorkt von seinen Gedanken. Dann wendet er sich an mich: »Ich sage bloß, nicht der Erzeuger ist der Vater, sondern der Erzieher. Kannst du das verstehen?«
Ein weißer Latinfloor-Warrior öffnet die Tür und kommt zu uns herüber.
»Good morning«, sagt er, während sein Blick an mir auf und ab fegt, und macht sich zum Sessel des Alten auf.
»Gut, Junge, jetzt ist es Zeit für meine Therapie.«
Ich lege die Fotos zurück auf das Couchtischchen neben die Glasperlen.
»Wie geht es meinem Lieblingspatienten heut Morgen?«, platzt der Warrior dazwischen, blaues Hemd, Nike-Turnschuhe, Funkgerät am Gürtel, und verunsichtbart mich vollständig. Ich mache mich zur Tür auf.
»Nicht sehr gut, Zubirat. Ich bin mit leerem Magen, zerzaustem Haar und steifem Nabel aufgewacht.«
Der Warrior Zubirat lacht auf, freut sich am Witz des Großvaters.
»Ach, Sie sprühen immer vor Einfällen und guter Laune, man mag’s kaum glauben! Na, und wie steht’s mit Aireen?«
Ich gehe durch die Tür und lausche.
»Du weißt ja, ständig unterwegs. Sie arbeitet viel. Sie will weiterstudieren, aber heute muss man sich schwarzschuften, um wie ein Weißer zu überleben.«
»Dann sagen Sie ihr, sie muss mir bloß ihr Jawort geben und fertig, kein Moneytrouble mehr.« Ich höre diese eingebildete, hündisch-räudige Stimme des Latinfloor-Warrior.
»Wenn das so einfach wäre, Zubirat«, entgegnet der Großvater, »dann würde sie sich jemanden suchen, der mehr Gold hat als der König von Persien«, und er lacht dröhnend auf, als ich die Tür schließe.
Im Gang flimmert die Beleuchtung absinthen-eisig. Ich denke an die Chica und die Fotos, vor allem an das mit der Torte, auf dem sie mit geblähten Backen drei Kerzen ausbläst, die gewaltige Schönheit, die sie Jahre später erlangen wird, schon als Skizze angelegt.
Ich erreiche die Wendeltreppe aus Granit und Holz und gehe hinunter zur Straße. Das Licht ohrfeigt mich, als ich die Tür öffne. Drinnen, im roten Haus, herrscht eine andere Zeit, eine Zeit der Nostalgie, von dieser Wortlosigkeit, mit der sich die Seufzer vollsaugen, wenn das Glück abgezogen ist.
Ach, das Scheißglück, was zum Teufel ist das?
Ich blicke zur fokkin Buchhandlung, während ich die erste Steinstufe nach unten nehme. Sie ist geschlossen und voller Bänder, umschleift wie ein Scheißgeschenk. Von hier aus kann man hineinsehen. Die Regale liegen noch am Boden. Wo die zerscherbten Scheiben waren, schließen Bretter den Bruch. Ich setze mich auf die Treppe vor dem Haus. Meine Kleider sind fast trocken, nur noch die Unterhose ist feucht. Die Sonne drischt mit voller Wucht auf den Gehweg, ich spüre ihre Hitze am Hintern. Die Bushaltestelle ist der einzige Schattenplatz. Die Autos rollen wie besessen. Nur drei, vier Wagen parken auf der anderen Straßenseite, fast gegenüber der Buchhandlung, wo zwei Gorillas im schwarzen Hemd am Kofferraum eines Straßenkreuzers lehnen. Eine Chica schiebt einen Kinderwagen mit einem Babyfips vorbei.
Ich könnte versuchen, in die fokkin Book zu gelangen, und wenigstens die Wolldecken rausholen, die gehören nämlich mir, denke ich. Wie hüpf ich da rein? Da an der Seite könnte ich mich an den Laternenmast hängen, ein Bein auf den Vorsprung hieven und von oben zum Dachboden gelangen, wo das Fenster zugenagelt ist. Ich trete es ein und schlüpfe durch. Niemand wüsste, dass ich drinnen bin. Ich könnte sogar dort pennen, niemand würde es merken. Und raus komme ich durch die Lagertür. Die auf die hintere Gasse geht. Die der Chief niemals benutzt, die hinter dem Regal mit der weichgespülten, nervigen, klebrigen Poesie, die bloß den Bauch bemüht, nie das Gehirn. Dahinter ist der Lieferanteneingang.
[»Das war halt vorher so ein fokkin Restaurant mit Mexican Food, und durch die Tür haben sie den fokkin Müll rausgetragen, deshalb verspinnwebt hier der Dreck die Decke, du pikarotischer Bastard. Putz ordentlich, da drüben, bei dem schwarzen Fleck.«
»Und wenn ich runterfalle, Chief?«
»Nein, fällst schon nicht runter. Die Leiter gibt nicht nach, und wenn doch, tiefer als zum Boden geht’s nicht.«
»Sollten Sie nicht besser irgendwas Deftiges verkaufen anstatt Bücher, Chief?«
»Halt den Mund, du klugscheißender Wichser, und dass ich kein Fleckchen mehr sehe, sonst gibt’s was mit dem Buch.«]
Oder ich könnte ins Nachbarhaus gehen, aufs Dach und rüberspringen, obwohl das an die sechs Meter sein müssten, über den Daumen gepeilt. Da schlag ich mir den Schädel ein. Oder ich spinne die Regenrinne hoch und dann aufs Geländer der Feuerwehrtreppe, obwohl man von da aus an die zwei Meter weit auf den Vorsprung springen muss. Wenn ich den nicht erreiche, geht’s einen Haufen Meter abwärts bis zur Straße, und ich lande als Pflaumenmus. Das geht erst später, wenn weniger Leute da sind und mich nur die Straßenlaternen sehen.
Ein Bus fährt vorüber, stoppt an der Haltestelle, setzt Passagiere ab und gabelt die Chica mit dem Kinderwagen auf. Sie steigt mühselig ein, das Baby im einen Arm, im anderen das Gefährt. Der Bus rollt los und biegt um die Ecke. Die Gorillas in Schwarz überqueren die Straße, als der Bus fort ist. Ich blicke zur Buchhandlung. Vielleicht bekomme ich das Brett ab, das sie mit einem der Tische für Neuerscheinungen festgeklemmt haben.
[Dieser Büchertisch, auf dem die Schwärme von den Zimperverlagen aus Übersee landeten, mit ihren fokkin Steinzeitkonjunktiven, die alle Verben unmanövrierbar machten, mit all ihrem Etepetetevokabular, ihrem Gebrabbel, ihren Stelzwörtern wie Pneu für Reifen, Appartement für Wohnung, schlappe Zierereien, gespreizt, witzlos, word world wlobalizyd, die aber manch aufgedonnerte Tussi voll Ungeduld erwartete.
Da war auch der verrückte Latinfloor mit Pickelgesicht, eckiger Brille und Sprottenmuskeln, der alle zwei Wochen nach irgendeinem Literaturpreisträger fragte, der gerade neu herausgekommen war. Einmal hörte ich, wie er dem Chief erzählte, er wolle ein berühmter Writer werden, und zwar im großen Stil.
»Auf der Bombastikskala so groß wie die Welt«, denn er hatte eine Wahnsinnsgeschichte von Raumschiffen auf Lager, die wollte er an Hollywood verkaufen, damit sie verfilmt wurde. »Denn Raumschiffe sind der Renner, und dann die Spezialeffekte. Stellen Sie sich vor, Señor, ein Riesenraumschiff kommt zur Erde, hat aber keine Bremsen, was würde passieren, eh? Die Apokalypse!«
»Ja wirklich. Tolle Geschichte«, würgte ihm der Chief rein, während er die Scheine zählte, die er gerade vom Latin Writer für den letzten Fiction-Pulitzer bekommen hatte.
Ich sah sie mit Trottelmiene an und versuchte mir so ein Scheißraumschiff vorzustellen. Das wurde wohl mit Kohleöfchen angetrieben, in die man irrsinnig blasen musste, damit es irgendwo im Universum abhob.
»Sagen Sie mal, Chief, was gibt’s da draußen im Universum?«
»Schwatzschwanz, lausch nicht immer, was ich mit den Kunden bespreche, kneif dich in den eigenen Arsch.«
Einmal hatte der Chief sich aufgeregt, weil man ihm den Buchladen hatte abluchsen wollen, um ihn in einen fokkin nice Coffeeshop zu verwandeln.
»Na, verkaufen Sie ihn doch, was soll’s. Dann klingelt das Geld in der Kasse, und Sie beschweren sich nicht mehr auf Schritt und Tritt, dass kein Money für nichts bleibt.«
»Bleib mir ja vom Fell, du finstere Filzlaus! Von wegen verkaufen! Die sollen ihren Kaffee kriegen, aber in den Arsch.«]
Wenn ich der Eigentümer wäre, der Megamaster der Buchhandlung, denke ich jetzt, würde ich da drüben sehr wohl einen fokkin Coffeeshop eröffnen, dann könnte ich den Rest meines Lebens die Chica sehen, sie vielleicht sogar erobern, hätte Heu im Schober, grüne Lappen, um sie in meine Arme zu flechten und zu küssen, zu küssen, wie ich niemanden zuvor geküsst habe. Ja, auf die eine Seite die Tischchen und auf die andere, wenn ich’s dem Chief nachtun wollte, ein Bücherregal für die wenigen Romane, die durchgehen, weil sie lebendig sind; die anderen würde ich zu Fetzen zertrampeln. Und ich weiß sogar den Namen, den ich meiner Bude geben würde: »Aireen«. »Aireen’s Love«. Ja, genau. Wo ist jetzt bloß der Chief, damit er sehen kann, dass ich sehr wohl etwas aus seiner fokkin Buchhandlung machen könnte?
Da stellen sich mir die Nackenhärchen auf; steif geworden, warnen sie mich wie der Schnurrbart einer Katze. Fast über mir spüre ich die Gegenwart der beiden Gorillas in Schwarz. Ich mache einen Satz über die drei, vier Stufen, die mir bis zum Gehweg fehlen, und renne los, einer von beiden, der tätowierte Glatzkopf mit Ohrring, erwischt mich am Arm, und ich taumle gegen den anderen, etwas schmaler, aber kompakt, seine Brust zwei Marmorpanzer. »Scheiß drauf, noch eine Abreibung.« Sie sind bei weitem größer und schwerer als ich, aber bei den Straßenkämpfen zu Hause im Dorf habe ich gelernt, dass ich sie nicht stemmen muss, und je höher die Nase, desto schmerzlicher ihr fauliger Fall zu Boden.
Bei den Straßenkämpfen geht es nicht um Kampfsport oder konfuzianische Schlagtechnik, es ist ein Querfeldeingerangel, eine Feldschlacht, und alles gilt.
Ohne nachzudenken, ramme ich in Lichtgeschwindigkeit ein geschwungenes Knie in den Marmorbrüstler, dass er sich in der Mitte faltet. Mag er auch alle fokkin Gewichte der Welt heben, alle Muskeln seines Körpers stählen, sogar bei Superman bleiben die Eier weich.
Der andere Gorilla versucht mich mit Schreien zurückzuhalten, aber ich bin tauber als ein Klotz, höre nur das Geräusch meines Atems. Er bekommt einen Tritt gegen das Schienbein und zugleich, weit über der Schulter ausgeholt, einen Punch aufs Ohr, wo sein Navigationssystem sitzt. Der Gorilla schnaubt benommen, seine Augen treten hervor, und er versucht mir ins Gesicht zu schlagen, aber ich bin schneller, weiche mit einer Hüftbiegung aus, bombe ihm eins in die Eier, und platt ist er.
»Fuck«, sagt er noch, bevor er sich zusammenlegt.
Da spüre ich riesige Krakenarme, die mich von hinten packen und wie eine verdammte Feder in die Luft heben.
Jetzt bin ich echt am Arsch, den hatte ich nicht kommen sehen.
Ich versuche, um mich zu treten, werde aber bei dem verflixten Riesentintenfisch bloß ein paar Hackenschläge gegen die Waden los. Er drückt fester zu, und mir geht allmählich die Luft aus. Wenn sich die fokkin Irren erholt haben, denke ich, spalten sie mich mit einem Hammerschuss.
»Take it easy, Bro. Ganz ruhig«, sagt mir der Riese, der mich umklammert, ins Ohr.
»Fick deine Mutter«, entgegne ich und verpasse ihm einen Kopfstoß gegen die Nase. Er drückt noch fester. Ich spüre, wie sich mein Skelett zusammenquetscht wie die fokkin Styroportasse meiner Suppe. Wenn er noch fester drückt, scheiß ich mir in die Hose.
»Ruhig, Bro«, wiederholt er, obwohl ihm Soße aus der Nase rinnt. Die beiden anderen Gorillas geben erst langsam wieder Lebenszeichen.
»Lass mich los, du Arschloch«, schreie ich wütend, mein gesamter Körper eine Posaune, »lass mich los, und du wirst sehen, wer hier aus welchem Leder ist, Bastard.«
»Take it easy«, sagt er wieder. »Will bloß mit dir speaken.« Dann wendet er sich an seine Bestien. »Na, Schlappschwänze, das Häufchen Elend hier hat euch eine schöne Abreibung verpasst.«
Er lockert die Arme ein wenig, und ich darf atmen.
»Ich lasse dich jetzt los, aber renn nicht weg, kapiert?«
Von wegen, denke ich. Wozu hab ich Beine, wenn ich Boden unter den Füßen habe.
Er lockert weiter den Druck auf meine Arme.
»Ich will mit dir über ein Bisnes reden, Bro«, aber einen Scheiß will ich reden, ich keuche wie ein fokkin Köter. »Fuck, man, I know, was good für dich ist.«
»Leck mich«, entgegne ich.
»He, Gipskopp«, sagt er einem der untergebutterten Quetschsäcke, der sich seine blau angelaufenen Eier reibt. »Hol dein verdammtes iPhone raus und zeig’s ihm.«
Der Gorilla mit dem Ohrring zückt sein iPhone und hält es mir vors Gesicht. Ich sehe seine geröteten Augen. Noch schlimmer müssen seine Eier dran sein. Er drückt auf eine Taste, und ein Youtube-Video startet. Ich erkenne das Haus der Chica, dann die Bushaltestelle. Sehe, wie ich die Straße überquere. Sehe, wie ich mich auf die Bank der Haltestelle setze. Sehe, wie der in die Chica verknallte Mackerfacker von hinten auf mich zukommt und mich als Brummkreisel flachlegt. Die Kamera verlässt den Wagen und kommt näher. Ich sehe, wie ich am Boden liege, dann, wie mich zehn, zwölf Scheißmickerficker und Fipse vergnügt umringen und nach Herzenslust mit Tritten bearbeiten. Dann hören sie auf und verduften so flink, wie sie gekommen sind. Das Video bricht ab, als Mister Abacuc neben mir niederkniet und mir ein Taschentuch reicht. Dann sieht man das Foto, bei dem ich der Kamera den Stinkefinger zeige, und den Titel des Videos: »Wie lange noch?«
»Bist du das, Bro?«, fragt mich die Krake.
»Nein.«
»Von wegen, verdammt, trägst ja noch dieselben Mistklamotten.«
»Was wollt ihr Scheißer?« Ich spritze ihnen meine Zunge in die Ohren.
»Bloß schwätzen«, sagt der Krakengorilla. »Ich lasse dich jetzt ganz vorsichtig los, Bróder, also schön ruhig.«
Er setzt mich langsam ab, und meine Füße erreichen die Steintreppe. Ein paar Schaulustige gehen bereits weiter, auch die paar Mickerficker verziehen sich wie Kakerlaken unter die Steine. Die Show geht zu Ende, und bestimmt fühlen sie sich um die Keilerei des Tages betrogen. Mich überkommt das dringende Bedürfnis, loszurennen, so schnell wie möglich von hier zu verduften. Fliehen ist der Prügelei immer vorzuziehen. Die Gorillas merken das und umringen mich zu dritt wie eine Mauer aus Fleisch, damit ich ja nicht entkomme.
»Na, ruhiger?«, fragt er, bevor er mich loslässt.
Ich nicke, bin aber nicht ruhig. Seit ich dieses Land betreten habe, bin ich nicht ruhig. Nicht einen Tag bin ich ruhig gewesen. Immer auf der Lauer und belauert, mich ständig umsehend und auf dem Sprung, ich trage einen Sumpf als Bauchladen vor mir her, weil ich nie sicheren Boden unter den Füßen habe.
»Das Bisnes ist ganz einfach, Bro. Ich brauche jemanden, der Dresche aushält wie du.«
»Warum ich?«
»Weil man sieht, dass man dich nicht einfach zerlegen kann. Bei all den Tritten müsstest du jetzt very dead sein.«
»Spielt da Geld mit rein?«
»Yes.«
»How much?«, frage ich.
»Nicht viel, aber wenn alles gut läuft, reicht’s vielleicht für neue Kleider.«
»Ihr habt die Buchhandlung niedergemacht?«
»What!«
»Die da drüben«, ich deute mit dem Kopf hinüber. Sie drehen sich um und glotzen wie Idioten.
»Fuck, man«, sagt der Ohrringgorilla, »was ist eine Buchhandlung, Chub?«
Zack! Der Schwinger in die Fresse muss ihm die Schrauben gelockert haben. Oder vielleicht ist er wie ich, als ich sie zum ersten Mal gesehen hatte.
[Ich erreichte die Stadt, in Scheiße gebadet. Beim Gehen sah ich, dass es Arbeit gab. Zur Ernte wollte ich nicht mehr, denn Pepe und die anderen waren inzwischen wohl drüben. In der Stadt fand ich an der Scheibe der Buchhandlung einen Aushang auf Spanisch, denn Englisch verstand ich keinen fokkin Tick: »Aushilfe gesucht«.]
»Lass uns drüber speaken, Bro, und bequemer anderswo«, sagt der Riese, »in einer Bar, einem Restaurant, einem Diner. Gibt’s hier ein Plätzchen, das dir behagt? Ich bin Chuby Jon, und die beiden Fettwänste sind Sakai Dark und Deamon Dean. Na, was sagst du, Bro, machen wir uns irgendwohin auf und plaudern?«
»Scheiße, nein«, antworte ich. »Wenn wir reden, dann hier. Hier quatschen wir. Und nicht wie in den Scheißromanen, wo sich die Leute, wenn sie sich was zu sagen haben, immer ein fokkin behagliches Plätzchen suchen und dann bloß sagen, was sie auch im Stehen hätten sagen können, ohne fokkin Time zu verlieren.«
»Na gut«, sagt der Krakerich benommen, er trägt einen Kinnbart, den Kopf kahlgeschoren, die Arme mit Schlangen oder dergleichen tätowiert, eine Jeans und Motorradstiefel. An den Vorderzähnen sehe ich blitzende Kronen. Mit dem Handrücken wischt er das Blut von einem kleinen Riss an der Nase, Resultat meiner Kopframme. »Zur Sache, Bro«, sagt er. »Ich bin Ringer, aber vor zwei fokkin Jahren hat man mich wegen so einer fokkin Antidopingsache aus der Liga geworfen. Ich bin für alle Zeiten draußen, habe aber jetzt ein Boxstudio, wo ich ein paar Chicos trainiere, und zwar richtig, kein Pfusch. Ich will schöne Scheinchen gewinnen mit einem Kerl, der wie ein Pferd zuhaut. Beim Ringen habe ich nichts mehr zu melden, aber beim Boxen kennt mich niemand. Also no prob. Aber ich habe keinen passenden Sparringspartner, der meinen Champion stählen könnte. Auf Youtube habe ich dein Video gesehen. Die Chronica News hat es hochgeladen und angegeben, wo die Abreibung war. Ich habe dich gesehen, und da hat es klick gemacht, Bro.«
»How much?«, unterbreche ich ihn.
»I don’t know«, sagt er, aus dem Tritt gebracht.
»Was? Ich soll mich vor den Zug werfen, und du weißt nicht mal, für wie viel?«
»Hundert die Woche«, sagt er hastig, als wollte er mich für bescheuert verkaufen.
»Hundert pro Tag oder vergiss es.«
»Ha!«, ruft er auf. »Nicht mal, wenn du aus Gold wärst, Bro!«
»Bis dann, ihr wilden Mackerfacker.« Ich nehme eine Stufe, stoße sie beiseite, um den Weg frei zu machen, will verduften. Hundert lausige Dollar fürs Zerpauken, nicht im Scheißtraum.
»Dreihundert die Woche, mehr nicht«, sagt mir da die Molluske ins Gesicht.
»Aber mit Verpflegung, mit freiem Donnerstag und Sonntag und einer Anzahlung von hundert Dollar hier und auf der Stelle.« Ich drehe mich zu ihnen um.
Der Gorilla sieht mich an, runzelt die Stirn wie eine Riesenrobbe und streicht seinen Kinnbart.
Der Affe scheint nachzudenken.
»Okay, hast gewonnen, Bro. Aber bloß für jetzt. Bis wir unseren Champion vorbereitet haben.«
»Wie auch immer«, sage ich. Ein paar Prügel mehr, was macht das schon, denke ich, und anderes fokkin Work ist nicht in Sicht.
»Hier ist die Adresse.« Er wirft mir ein Kärtchen zu, das durch die Luft strudelt, gemeinsam mit fünf zerknitterten Zwanzigern. »Morgen um acht fangen wir an, wir müssen bereit sein für die Golden Gloves Championship dieses Jahr.«
»Ciao, ihr Scheißer. Bis dann.«
Ich entferne mich Richtung Ecke, während die Gorillas wie verdammte x-beinige Charro-Reiter über die Straße schellen und in ihren Kreuzer steigen. Arme, dämliche Zipfelhirne, ihre Eier sind Pudding. Ich sehe zu, wie sie starten und verdunsten. Dann blicke ich zum Fenster der Chica auf und seufze. Aireen arbeitet um diese Zeit bestimmt wie eine Ameise. Ich seufze erneut. Es wird rot, und die Autos halten an.
Ich überquere die Straße Richtung Mall. Wenn ich in der Buchhandlung bleiben will, brauche ich Proviant. Ja, das ist der fokkin Plan, der mich am Leben halten wird. Ich lächle aus dem Nichts heraus: Ich habe etwas Kies und die Möglichkeit, der Chica nah zu sein. Jetzt, da ich weiß, welches ihr Fenster ist, kann ich mich in seinem Schatten in den Schlaf wiegen. Ich gelange zu dem Gässchen mit der Hintertür der Book und gehe weiter.
Nach zwei Querstraßen kommt der 7-Eleven. Ich überlege, was ich kaufen soll. Haltbares. In denke an Thunfisch-, Chili-, Mais-, Erbsen- und Mohrrübendosen, ein paar Colas. Die billigsten Kekspäckchen. Mit einer Gallone Wasser kann ich überleben, wie ein Dromedar: Ich bin ans Wenig-Essen, Wenig-Trinken gewöhnt, überlebe mit so gut wie nichts: eine Krume, ein Tropfen, wie damals, als ich aus dem Scheiß-Río-Bravo geklettert war, meine schwarze Plastiktüte um den Hals. Ohne Wasser oder sonst was, wie ein Scheißkraut am Wegrand.
[»Weil jetzt ist es verzwickter als früher«, hatte der Coyote mir gesagt. »Früher war Rüberkommen fast ein Kinderspiel, aber jetzt haben die Arschlöcher sogar Laser, verdammte Fuckgringos, und spähen uns von oben aus mit ihren Fucksatelliten. Nicht mal mehr in Frieden scheißen kann man in der dämlichen Wüste, wenn sie einem aus Sternenperspektive den Hintern ablichten. Aber wenn du willst, bringe ich dich für fünfzehntausend Lappen rüber und in Sicherheit, Kleiner.«
Aber ich hatte nicht ein Gramm Bares dabei, war einfach drauflosgegangen, um mich zu retten, ohne jeden Plan. Da waren bloß die Flucht und der Traum, der fokkin Traum, sich das, wovor du fliehst, von der anderen Seite anzusehen. Immer verwegener wurde ich nach stundenlangem Marsch durch die Wüste, habe meinen Schweiß getrunken und nach weiteren Stunden sogar meine Pisse, bin ganz allein rüber, auf Teufel komm raus.
»Schau«, sagte mir ein zerlumpter Wetback auf mexikanischer Seite, »hier machst du geradewegs rüber, fängst zu schwimmen an, und weil die Strömung bei den Wirbeln da recht heftig ist, landest du halt etwas weiter oben. Wo du den halb umgestürzten Baum siehst, da klammerst du dich fest, denn wenn du den nicht erwischst, treibst du geradewegs ins Jenseits.«
Also habe ich mich ins Wasser gestürzt, zack!, in Unterhose, die Kleider in einer schwarzen Plastiktüte. Fange zu schwimmen an, erst langsam, denn der Zerlumpte hatte mich gewarnt: »Nicht zu hastig, sonst kratzt du ab.« Die Strömung wurde immer holpriger, türmte grünen Schaum auf grünen Schaum, bis mir die Augen zu Gras wurden. Dann buckelte die Strömung so wild, dass ich den gekippten Baum kommen, vorbeirauschen sah und ziehen ließ; aber mich dem Tod zu übergeben, daran dachte ich niemals, denn bis hierher war ich schon gekommen und wollte nicht die miesen Fische füttern. Also fing ich an, mit den Armen zu rudern, bis die Muskeln vor Schmerz trompeteten, aber so war’s nun mal, »kneif den Arsch zusammen, das Leben kommt nicht im Blumentopf«. So sah ich Jahrtausende später einen Felsen, an den ich mich klammern konnte wie ein Scheißleguan. Ich packe ihn mit all meinen Krallen und bleibe wie tot darauf liegen, bis die Sonne untergegangen ist.
Da war mir, als atmete ich zum ersten Mal, als wäre ich ein beschissenes Spermium, das eine Eizelle gezeugt hat. Ich zog mich an und trabte los wie ein Ochse, immer geradeaus, »einfach Richtung Berge«, so hatte man mir gesagt. Ich steuerte so weit nach links, dass ich wer weiß wohin gelangte, aber eine Straße tauchte auf, als meine Kräfte nur noch Kumuluswölckchen aus Dampf waren. Die Füße von Blasen zerfetzt, die Kehle bleiern, verstopft mit Staub wie Sägemehl.
Nach und nach zog ich die Kleider aus, denn nun war mir von innen heiß, ich flammte auf wie ein Scheiterhaufen. Zuerst legte ich die Jacke ab, dann Hemd, Hose, Unterhose, alles, denn so viel Feuer war in mir, dass ich mich fühlte wie geschmolzene Glut im Lehmöfchen.
Ein Auto kam vorbei und verlor sich in diesem Zittern heißer Luft, das Ferne und Sonne über den Landstraßen erzeugen. Und da, verflucht, schon ohne Worte, ausgetrocknet, nackt, sank ich auf die Knie und erwartete den Tod.]
Ich ziehe zwei Zwanziger heraus, den Rest verwahre ich im Geheimfach des Gürtels — das so geheim nicht mehr ist —, zusammen mit Mister Abacucs Zettel und dem Boxstudio-Kärtchen, und gehe in den 7-Eleven. Ich brauche Dosen, Wasser und Chips, Frittiertes, was sich hält und einen aufplustert. Ich gehe durch die Gänge des Minisuper. Versuche normal zu wirken.
[Das hatte man mir eingeschärft, nach der Plackerei bei meinem ersten und letzten Erntejob:
»Wenn du einen Policeman siehst, nicht rennen. Wenn du rennst, sacken sie dich ein.«
»Tu so, als wär nichts, schau ihnen in die fokkin Augen, dann wird kein Schwein was wittern.«
»Die riechen die Angst. Wenn sie deine Angst spüren, sacken sie dich ein. Aber nicht allzu sicher fühlen, sei immer auf der Hut; aber tu keiner Fliege was zuleide, sonst sacken sie dich ein, sie machen dich fertig, stopfen dich ins Kittchen und scheißen dich in deinem fokkin Land wieder aus.«]
Ich greife nach Dosen und werfe sie in den Plastikkorb. Dann weiter zu den Chips. Ich nehme zwei Kerzen, damit ich Licht habe, und am Ende noch eine Gallone Wasser. Zum Überleben brauche ich nicht viel. Ob zum Leben, weiß ich nicht.
[Einmal bin ich nachts durch die City spaziert, vorbei an ihren Restaurants mit den blitzenden Scheiben, den Palmen und Lichtern, die ihre prächtigen Gärten erleuchten, ihre Fassaden und Dächer; wo Valets funkelnde Autos parken. Da sah ich die Aufgefixten mit kilometerhohen Schuhen und schimmernde Candymen, die in winzigen Bissen Mammutfilets von der Größe einer ganzen Kuh attackierten. Ich sah Restaurants mit Kerzen und ohne Kerzen, im Schummerlicht, fast dunkel; sah auch Klubs mit Lichtern wie Wunderkerzen, die im Rhythmus des grellen Bom-bom-bom die Pupillen glasierten. La Vida Loca. Da hörte ich vor einer Latino-Spelunke drinnen einen Kerl mit Namen Calle 13, und der haut mich um.
»Sagen Sie, Chief, haben Sie die gehört, die Rap auf Spanisch singen?«
»Ich höre nicht mal meine selige Mutter singen, du Rostpelle. Bei Musik kann man nicht klar denken.«
»Verkaufen Sie deshalb keine Platten oder Filme in der Buchhandlung?«
»Eben drum.«
»Und woran denken Sie, wenn keine Musik spielt und Sie blöd in die Gegend starren?«
»Fahr zur Hölle, Krittlerlaus.«]
Ich gelange zur Kasse und hebe das Plastikkörbchen hoch. Die Kassiererin scannt die Produkte und steckt sie in Plastiktüten. Ich verlange Streichhölzer, für die Kerzen im Dachstübchen. Die Kasse zeigt 39,80 an. Das Mädchen scheint eine Latina zu sein, spricht aber Englisch mit mir. Ich bezahle mit den zwei Scheinen. Sie gibt mir das Wechselgeld, ich nehme die Tüten und gehe. Noch ist es nicht dunkel. Ich setze mich auf eine Bank neben einem Blumenkasten gegenüber dem 7-Eleven, ziehe eine Chipstüte heraus, öffne sie und fange zu essen an. Dann schraube ich den Wasserkanister auf und nehme einen Schluck. Ich kaue in Zeitlupe, als sollten die Kartoffeln nicht knacken, sondern sich auflösen wie eine fokkin Hostie. Ich kaue in Zeitlupe, bis die Sonne allmählich verdampft.
Die Straßen färben sich blau ein, langsam leuchten die Laternen auf. Oben in den höchsten Gebäuden gehen die Lichter in den Büros an. Unten schalten die Geschäfte ihre Leuchtreklamen ein, und die Läden erhellen sich. Die Autos werfen die Scheinwerfer an. Leute gehen an mir vorüber. Immer wieder habe ich beobachtet, dass die Candymen aufrecht gehen; wir anderen, wir Massenware, ob Mickerficker, Fipse oder Chicos, wir gehen vorbei wie die Affen, als hätte uns die Evolution nicht erreicht. Als wären wir gar nicht wir selbst, sondern beugten immer noch den Rücken, weil wir ein rosa Mandrillenschwänzchen tragen. Als wären wir bereits von Anfang an besiegt, aufgrund einer göttlichen Totenschifferklausel des fokkin unumkehrbaren Schicksals.
Ich leere die Chipstüte. Nehme einen letzten Schluck Wasser und schraube den Kanister zu. Das wird bis morgen reichen. Ich schließe die Tüten mit Doppelknoten und bleibe noch einen Moment sitzen. Die Beulen sind nun zerschmolzen und abgeschwollen. Jetzt ist mein Gesicht wie immer, abgesehen von einem kleinen Ritzer über der rechten Braue. Ein wenig plagt mich nur noch der Nackenhieb, den ich im Park abbekommen habe. Der Rest ist fast wie immer.
Als ich spüre, dass die Nacht ihre Schokolade einrührt und sich in der Luft verdickt, nehme ich die Tüten und gehe zurück Richtung Book.
Bevor ich die Ecke erreiche, biege ich in das Nebengässchen. Es ist nicht beleuchtet und stinkt nach Pisse. Zwei Müllcontainer stehen neben der Hintertür des Nachbarhauses. Da ist die Tür der Buchhandlung. Zugenäht mit Spinnweben und Staub. Seit Jahren hat sie niemand geöffnet. Ich erreiche das Ende des Gässchens. Nehme den Gürtel ab, binde die Einkaufstüten daran und hänge ihn mir quer über die Schulter, als wollte ich einen Fluss überqueren. Ich nehme Anlauf, springe wie ein Affe und klettere in die Book.
Ich träume, aber etwas macht mir einen Strich durch den Traum, sofort öffne ich die Augen, ein Opfer der Verarmung, und merke, wie spät es ist. Auf dem Dachboden ist alles dunkel. Mit einer Handbewegung reiße ich die Kerze um. Höre sie rollen, bis sie am Ufer meiner Decken stoppt. Hatte nicht einmal mitbekommen, wann ich abgetanzt war. Ich hatte das Fenster geschlossen und die Plastiktüten wie einen Keil davorgeschoben, die Decken auf dem Boden ausgebreitet, das Licht gelöscht, mich zum Taco gerollt und war so geblieben, die ganze Nacht, ohne mich zu rühren, wie ein fokkin Wurm in seinem Kokon, in Erwartung seiner verflixten Stunde.
Ich schäle mich aus den Decken und versetze der Luke einen Prankenhieb. Sie geht auf, und solide Sonnenstrahlen treten ein. Tragen mich. Ich rolle nach vorn, bis ich meine Schuhe erreiche, ganz schön runtergelatscht, aber meine einzigen.
[»Und wofür gibst du dein Money aus, Knickerbastard?«
»Bei dem, was Sie mir zahlen, Chief, für nichts als Luft, zu mehr reicht’s nicht.«
»Keine Sorge, Satanskrähe, bald erhöhe ich dir den Lohn, damit du mir die Miete für die Dachkammer bezahlen kannst, wo ich dich wohnen lasse.«]
Vorsichtig klettere ich die Leiter hinunter. Das Gute an der fokkin Buchhandlung ist, dass sie einem Gespenst gleicht: ein leerer Raum zwischen Gebäuden, als gäbe es sie nicht, ein wüster Saustall, ein schwarzes Loch. Fast niemand blieb stehen, um sich die Bücher im Schaufenster anzusehen. Manchmal landete ein verirrter Spatz davor, zog aber ab, ohne etwas zu kaufen. Ich gehe auf allen vieren, umkurve die umgestürzten Regale zwischen den gerupften Büchern, krabble zum Hintertürchen. Das Regal der steifkragigen Lyrik mauert die Tür zu, diese fokkin Bücher, honigklebrig und voll karamellisiertem Stroh, so liebesprall wie die Därme von Kühen, wenn sie tüchtig Gras gekaut haben und schöne, süße Fladen in Braun gebären. Seine Bretter verbergen die Hintertür zur Gasse, in die ich gelangen muss. Ich räume die Bücher aufs Bord für die Horrorromane, die jetzt am Boden liegen, mausetot vor Lachen. Dann rüttle ich kräftig am Lyrikregal. An einer Seite splittert es, schließlich bekomme ich es los, lade es mir auf den Rücken, drehe es um und verkupple es mit dem Eckregal, in das der Chief immer seine Lieblingsbücher gestellt hat, die er ein ums andere Mal las.
[»Man muss nicht viel lesen, sondern nur das Unerlässliche. Mit den Jahren kehrt man zu seinen ersten Büchern zurück, und bei denen bleibt man dann, in trauter Einsamkeit, bis der Tod uns scheidet, bescheuerter Bastard.«
»Jetzt verstehe ich, warum die Leute Ihren Dreck nicht kaufen, Chief: Mit einem fokkin Buch haben sie mehr als genug für den Rest ihres Lebens.«]
Ich greife mir einen Ziegelstein spanische Lyrik und hämmere damit auf das Schloss. Es gibt nach, und ich schiebe es weg, versuche, die Tür aufzudrücken. Die Nähte aus Spinnweben und Staub halten stand, aber es gibt nichts, was ein paar Lanzenattacken nicht erreichen.
Beim dritten Hieb mit der Machete meiner Schulter gibt die Tür nach, und ich schieße auf das Gässchen hinaus. Schnell ducke ich mich, spähe umher. Wie zum Teufel bekomme ich jetzt den fokkin Eingang wieder zu? Ich nehme mir ein Büchlein mit den hundert besten Liebesgedichten, auf Spanisch, und schiebe es als Keil in den Türspalt. Drücke kräftig dagegen, sie sitzt fest. Ich teste, ob sie hält: Sie rührt sich nicht vom Fleck. »Carajo«, ich lächle, »endlich taugt die fokkin Lyrik zu was.«
[Schönes Schlamassel, gleich nach den Heftchen mit den Comics hatte ich mir einen Gedichtband vorgenommen, weil das Büchlein so schön schmal war und nur wenige Wörter enthielt, aber dazu, mannomann, musste ich das fokkin zentnerschwere Wörterbuch lesen, weil ich nicht einen Scheißbuchstaben von dem verstand, was der beknackte Dichter da sagte.]
In der Gasse mache ich mich zur 47. auf, wo der Boxklub ist. Keinen Cent verschwende ich für den Bus, laufe los und fülle das Loch, das ich mir gerade in der Zeit geschaufelt habe. Ich renne am Haus der Chica vorbei, vorbei am Wells Park, vorbei am Century-Kino. Erreiche das Gelände der Ford Foundation. Laufe weiter, und vor der Kreuzung zum Baseballstadion biege ich rechts ab und nehme die 39. Hinter der 41. stoße ich auf eine andere Welt.
Alles kaputt und beschmiert. Verrenkte Absperrgitter, als wäre dieser Stadtteil Kriegsgebiet. Hier sieht man sehr wohl fokkin Köter zwischen dem Müll. Die Leute gehen vorbei, als schwebten sie auf ihren Quanten. Sie scheinen mehr im Arsch zu sein als ich. Ein paar bekiffte Fipse rüsseln sich zu, die trübe Rübe an böhmischen Äther gestöpselt.
In der Höhe überfliegt uns ein Freeway, auf dem die Autos rauschen; die Pfeiler sind voller Graffitis. In den Blumentrögen wächst kein Halm, drinnen nichts als trockene Körner. Die Bäume sind so rachitisch, dass sie sich nicht einmal im Wind wiegen.
Ich gehe auf eine Reihe kleiner Lagerräume zu, die sich vis-à-vis von einem breiten Mittelstreifen drängen, der auf drei- und vierstöckige Taubenschläge zuführt, wo sich menschliche Gerüche mit dem Elend vermischen.
Endlich erreiche ich die 47., triefend von Schweiß. Da taucht ein kleines Schild auf, eine bedruckte, halb zerfetzte Leinwand: CHUBY G M BOX. Draußen parkt das Mutterschiff der Gorillas. Fuck. Fuck. Fuck, sage ich mir, der Mickerficker, die Scheißmolluske, wird mir nicht mal die Hälfte des Versprochenen zahlen können.
Durch eine Tür aus Glas und zerbeultem Aluminium trete ich in den Trainingsraum. Die Lampen sind ausgeschaltet, nur durch ein paar Dachluken fällt Licht, weshalb das lausige Bild verschwommen bleibt. Die Decke ist hoch, wie in einem Lagerraum. Links zwei lange Hanteln mit Scheiben. Dahinter ein paar Bänke mit weiteren Hanteln und Gewichten. In der Mitte ist ein Boxring, wo sich zwei Knirpse, mickrig wie ich, backpfeifen. Auf der anderen Seite sieht man die Lockers, und ganz hinten ist zu lesen: BATROOM. Eine Tür führt zu einem weiteren Schild: OFFICE, daneben ein Fenster mit heruntergelassener Jalousie. Zwei weitere Knirpse dreschen auf einen Sack ein, der an einer Kette hängt, und ein älteres Semester streichelt eine Birne mit Fäusten voller Bandagen, eine fokkin Mumie. Ein Chico macht Sit-ups auf einer Matte aus schwarzem Vinyl. Der ganze Raum ist blau gestrichen, an der Wand gilbt eine riesige Freistilringermaske vor sich hin, daneben ein paar Poster mit blonden, muskelprotzigen Dusseln. Ein paar Spiegel lassen den Raum größer erscheinen, als er ist. Ich bleibe am Eingang stehen. Mich überkommt die fokkin Lust, postwendend abzuhauen. Noch ist Zeit, niemand hat mich gesehen. Ja, sollen sie zur Hölle fahren, die Scheißer. Ich spiel hier nicht das Fallobst. Ich drehe um und pralle mit einem geschorenen Fips zusammen, der gerade hereinkommt. Er stößt mich kräftig gegen die Brust und zieht weiter.
»He, Bastard«, sage ich, aber er scheint kein Spanisch zu verstehen.
Er geht Richtung Office und schlägt die Tür hinter sich zu. Ich sehe, wie er eine der Jalousien hochzieht und mich mit tollwütigen Augen von drinnen mustert. Ich zeige ihm den Stinkefinger, und sofort wendet er sich ab. Scheißarschloch, denke ich, der hält sich bestimmt für einen Obergringo, so ein Spross von eingebürgerten Zuwanderern, die ihren eigenen Landsleuten das Leben zur Hölle machen, ihren eigenen Leuten, und die Herkunft verleugnen, die ihren Chromosomen eintätowiert ist.
Ich drücke gegen die Tür und speie mich aus dem Trainingsraum, mache mich Richtung Grünstreifen auf, als ich die Klammersülze des Mollusken spüre.
»Fuck you, Bro, um die Zeit kommst du erst?«
»Hab mich verlaufen«, sage ich, damit er sich von mir lospfropft. Ich sehe, dass er ein weißes Pflaster auf der Nase trägt, wo ich ihm gestern den Kopf hineingerammt hatte.
»Wherehin?«
»Sonne tanken, da drinnen ist es wie in einer fokkin Gruft.«
»I know, ist nicht hübsch, mein Laden, aber er hält sich, Bro, und wenn der Champ sich zum Champion ausgewachsen hat, geht’s ab in die Wolken.«
»Da wächst wohl nichts als Hämorrhoiden«, sage ich. Er sieht mich belämmert an, bestimmt weiß er nicht, wovon zum Teufel ich rede. »Hämorrhoiden sind so Fischchen, die dir aus der Rosette sprießen.«
Keine Reaktion.
»Und deine Trainingskleidung?«, fragt er und wechselt das Thema.
»What?«, entgegne ich.
»Gut, brauchst ja keine, weil du sowieso nicht trainierst; machst bloß das, was wir gestern gespoken haben: bisschen Sparring.«
»Und du bezahlst mir, was wir verabredet haben?«
»Yes.«
»Na toll«, sage ich, und wir gehen wieder hinein. Er nimmt mich am Arm, nein, fokkin Lüge, ich schleppe seinen Gelatinearm auf den Schultern; klebrig fühlt er sich an und voller Saugnäpfe. Die schmacke Masse nimmt mehr Platz auf der Netzhaut der Leute ein, denn jetzt glotzen uns alle an. So schlaffe Würstchen wie ich tauchen wohl in die Netzhaut und berühren sie nicht mal.
»Weißt du, Bro, bin in den fokkin Abgrund gepurzelt, weil ich mich mit jeder Pille aufgeblasen habe, die ich nur finden konnte, und stand am Ende mit scheißgarnichts da, aber nach und nach geht’s voran, man klappert sich durchs Leben. Ist nicht viel, aber ich hab die fokkin Lektion gelernt, Bro. Bezahl’s nach und nach ab«, sagt er, während er mich zum Ring zieht, wo zwei Knirpse wie zwei kleine Mädchen tänzeln. »Sieh mal, Yorkie, der Sparring für den Crazy Loco.«
Eine grauhaarige Schwarzwurzel, gebeizt von der Sonnendusche, steht von einer Bank auf, die hinter dem Ring verborgen ist, gähnt und streckt sich wie eine Katze.
»Nichts dan an dem«, sagt der Schwarze, »den hat dein Loco gleich inne Mitte geknickt.«
»Schläfst du etwa?« Der Krakerich bäumt sich auf.
»Nein, Señó. Hab bloß die Glupsche zugemacht.«
»Spiel hier nicht den Esel!«, entgegnet die Riesenmolluske.
»Nein, nicht den Esel«, die Schwarzwurzel schüttelt mit zahnlosem Lachen den Kopf, »diesmal das Mumeltie.«
»Fuck, York, anstatt zu watchen, was im Ring passiert, lässt du deine Jalousien runter. Da können sich die Jungs umbringen und die Eingeweide rausreißen, und du merkst es nicht mal, he?«
Die Schwarzwurzel blickt in die Richtung, in der die Kleinen herumfintieren, trippeln, sich an die Luft klammern, tänzeln. Yorkie lächelt.
»Die Bastade fassen sich nicht an, nicht mal, wenn sie sich den Asch küssen. Ha!«
Auch ich stoße zwanglos einen rauen Lacher aus, improvisiere im Flug. Die Molluske sieht mich spitzfindig an, wirkt auf einmal verärgert, sagt mit ektopisch-gruftiger Stimme:
»Weg mit den beiden Schwuchteln und rauf mit der gerupften Landkrähe. Der soll lernen, Gott in fremden Landen zu ehren, mal sehen, ob er was taugt.«
Mit ausholenden Schritten zieht er ab und verschwindet grummelnd Richtung Höhle.
Die Schwarzwurzel sagt fröhlich:
»Ganz schön angeätzt, de Wanst, jetzt helf di Gott, weil du den Clown makiet hast.«
Schwerfällig steht er von der Bank auf, und ich sehe, dass seine Stelzen krummer sind als die fokkin Äste des Baums vor der Tür.
»Na los«, sagt er. »Haste Spotkleidung dabei?«
»Yes«, sage ich, »die ich anhabe, alter Sprotzkopf.«
Er dreht sich um, mustert mich von oben nach unten und lässt dann noch einen zahnlosen Lacher los.
»So wist du bestimmt nich alt.«
Er geht los, als würden seine Eier über den Boden schleifen, und steuert eine Kiste unter dem Ring an, zieht eine Maske und zwei rote Handschuhe heraus.
»Schon mal benutzt?«
»Ja«, sage ich, »am Schwanz.«
Die Schwarzwurzel bleibt ernst, wirft mir alles zu.
»Zieh’s an, so gut es geht, Scheißechen.«
Ich fange sie auf. Habe keinen Schimmer, wie man die Schnüre einfädelt, aber ich bin nicht bescheuert, ahme also die Tänzer nach, die die Schwarzwurzel gerade schreiend herabscheucht:
»He, muchachas, come on unte, sonst kieg ich noch nen Infat bei all dem Honig.«
Die Kleinen murren schwitzend, hören aber auf die Schwarzwurzel. Sie schwingen sich zwischen den Seilen vom Ring herunter und setzen sich erschöpft auf eine Bank ringside. Sie sehen aus wie zwei fokkin Tauben, die sich auf einem Hochspannungskabel einen Stromschlag geholt haben. Sie nehmen den Kopfschutz ab, und ich sehe, dass sie kurzgeschoren sind, voll labyrinthischer Voluten, wie Soldaten im Rokoko-Stil. Ich setze den Kopfschutz auf und streife dann die Scheißhandschuhe über. Drinnen werden meine Fäuste zum Ball. Ich komme mir vor wie eine fokkin Katze mit Pantoffeln.
»He«, ruft mir die Schwarzwurzel zu, »ziehst du nich das Hemd aus?«
»Nö«, ich schüttle den Kopf. Hab es so viele Tage, so viele Nächte getragen, dass eine mehr oder weniger auch nichts ausmacht.
[»Was machst du da, Chico?«, hat mich ein Landsmann bei der Ernte gefragt, als er sah, dass ich mir die Unterhosen verkehrt herum anzog.«
»Nichts weiter, ich recycle bloß die Wäsche.«
Denn es war meine einzige Unterwäsche und nirgendwo Wasser oder Seife. Ebenso bei den Fußlappen: Ich wendete sie ein ums andere Mal, um sie zu lüften und nicht ständig nach dem Schweiß der Pestquanten zu stinken.]
Ich passe die Handschuhe an, ziehe die Schnüre mit den Zähnen fester. »Und jetzt what?« Die Schwarzwurzel geht zu den Täuberichen, nimmt ihnen die Polster weg, die sie am Körper tragen, und wirft sie eins nach dem anderen in die Kramkiste unter dem Ring. Na toll, sage ich mir. Ich drehe mich um und betrachte mich im Spiegel der Protzgringo-Poster. Fuck! Ich bin spindliger als meine Scheißmutter, mit den roten Riesenhandschuhen und der roten Riesenmaske sehe ich aus wie eine rote Scheißrübe mit Freilufthoden.
Chuby kommt heraus, im Schlepptau den Bastard, mit dem ich an der Tür zusammengestoßen bin, schon jetzt gehüllt in einen goldenen Boxermantel mit Kapuze. Er vollführt kleine Hüpfer wie eine Heuschrecke mit Durchfall und wischt Haken in die Luft. Wenn man sich für einen Champion halten will, muss man wohl wie einer aussehen, denke ich. Um den Hals trägt er ein Handtuch.
Hinter ihm kommt der Gorilla mit dem Ohrring und nimmt ihn mit seinem iPhone auf.
Sie erreichen den Ring. Die Molluske schreit der Schwarzwurzel zu:
»Fuck you, Yorkie, vorbereiten sollst du ihn, I told you. Er hat sein Shirt an und den fokkin Kopfschutz verkehrt herum.«
Die Schwarzwurzel speit von hinten heraus:
»Is nicht mein Mist, hat mich nicht gelassen, is wie ein tollwütige Hund, wie Unkaut.«
Die Molluske baut sich vor mir auf, nimmt mir die Maske ab und setzt sie mir richtig herum auf. Unter meinem Kinn zieht er sie fest. Es wird zappenduster. Ich komme mir vor wie ein Pferd mit Scheuklappen, das nur nach vorn sehen kann. Dann bindet er mir die Handschuhe fest, mit einem gordischen Knoten, damit ich sie mir im Leben nicht mehr ausziehen kann.
»Hast du einen Mundschutz mit?«, fragt mich die Molluske.
»What?«
»Egal, springst ja sowieso nur ein, damit wir sehen, ob du taugst. Lass aber ja die Zunge drinnen, sonst schnippelst du sie dir mit den Zähnen ab, wenn du eine reinkriegst, you know!«
»What!«
»Na los, rauf in den Ring«, und er klapst mir eins auf die Birne.
»He, Bastard«, sage ich, aber er hört mich nicht, weil da der Kahlkopf mit dem Ohrring und dem iPhone kommt und sagt:
»Willst du die beiden nicht wiegen, fokkin Chub?«
»Nein«, entgegnet der Krakerich. »Der Kleine hat fast die gleiche Lattenlänge wie unser Champ.« Er geht hinüber zu seinem lackierten Rockstar, der Rumpf- und Kniebeugen macht und mit den Handschuhen schattenboxt.
Ich gehe nicht übers Treppchen in den Ring, sondern klettere seitlich hinauf und rolle mich unter den Seilen hindurch, stehe auf und klopfe mir den weißen Staub ab, mit dem ich mir Jeans und Buchhandlungshemd paniert habe. Ich blicke mich um.
Der Kahlkopf mit dem Ohrring umhummelt uns immer noch mit seiner Kamera. Die Chicos und Mickerficker nähern sich dem Ring: der an der Boxbirne, die Chicos beim Sack, der Schwachkopf mit den Sit-ups und einer, der aus der Toilette kommt und den ich vorher nicht gesehen hatte. Ich spüre ihre Blicke wie in einem fokkin Schaukasten im Museum.
Die fette Molluske nimmt das Treppchen und stellt sich in die Mitte des Rings. Sie weiß nicht, was sagen, wirft mir also das Nächstbeste an den Kopf:
»Kotz mir bloß nicht die Plane voll, sonst hau ich dich windelweich.«
Was soll ich schon auskotzen, denke ich, wo in meinen Eingeweiden bloß Leere zirkuliert.
Mit einer Hand winkt er den Loco Crazy herbei. Der Junge kommt hoch, begleitet von der Schwarzwurzel und dem Gorilla mit dem Ohrring. Der Typ hüpft immer noch, er sieht aus wie eine Beutelratte mit einem Streichholz im Hintern. Yorkie nimmt ihm Boxermantel und Handtuch ab und hängt sie sich selbst um. Verdammt, was sehe ich da: Der Junge hat auf dem Bauch ein Waschbrett über dem Waschbrett. Muskeln wie bei einem Rennpferd. Man sieht die Adern an Armen, Hals und Beinen, ich bin mir sicher, dass man sie pochen spürt, wenn man ihnen zu nahe kommt, denn die prallen Adern bringen bestimmt die Luft ringsum in Wallung. Er hat eine Tätowierung auf der Schulter und eine auf dem Rücken, Ziegenhörner, allerdings solche in Waffenform, die automatisch losballern. Seine kurze Hose ist blau-rot, seitlich golden aufgestickt »Loco Crazy«, hinten auf dem Hosenboden »American Champion«. Er presst die Kiefer aufeinander und sieht mich hasserfüllt an.
Yorkie reibt ihm das Gesicht mit Vaseline ein, damit meine rote Schote daran abgleitet.
Der Ohrring spaziert umher und hält überall mit dem iPhone drauf, filmt die Sitzenden, die Chicos, die umhergehen und zusehen. Chuby winkt uns zur Ringmitte, nachdem sie den Furzaffen Crazy Loco endlich herausgeputzt und ihm den Mundschutz eingesetzt haben. Mit seinen Tentakeln nimmt der Krakerich uns beide bei den Schultern, wendet sich aber an seinen Schüler:
»Schön ruhig, Champ, soll bloß ein bisschen weichgeklopft werden, aber dass er uns ja länger hält als die anderen. Ich will hier kein Unglück wie beim letzten fokkin Mal. Wenn ich sage stopp, dann heißt das stopp: Du hörst auf, nichts von wegen weitermachen wie crazy, he, Crazy Loco?«
Der Loco tänzelt weiter, nickt aber. Er sagt keinen Mucks. Ich sehe, dass er um ein Viertel größer ist als ich.
»Und du, Bro«, jetzt wendet er sich an mich, »halt schön durch, und Gott erbarme sich deiner Seele, you know!«
Ich nicke, denn das wird von einem verlangt in dieser fokkin Scheißwelt, nicken. Ja sagen, bis man eines natürlichen Neins stirbt.
Der Fettwanst betätschelt uns, stößt mich in meine Ecke und mimt den Ringrichter.
»Gib’s ihm, fokkin Loco«, sagt er, »wir gehen aufs Ganze, you know.«
Er macht ein Zeichen zur Ringside, und Yorkie schlägt mit einem kleinen Hämmerchen auf eine Glocke, ting oder ding, als haute er auf eine fokkin verbeulte Mülltonne.
Augenblicklich wirft sich der Loco mit aller Wut der Welt auf mich. Ich sehe seine zornentflammten Augen voller Feuer, die mich auf Biegen und Brechen vierteilen wollen. Sehe, dass er die Kiefer so fest zusammenpresst, dass ihm in jedem Moment die Zähne oder die Adern an den Schläfen bersten können. Sehe ihn so wild entschlossen, mich umzubringen, dass mir nichts anderes einfällt, bevor dieser Scheißloco noch einen weiteren Schritt tut und mich zerfetzt, als ihm einen fokkin Tritt in die Eier zu versetzen, damit er Ruhe gibt. Zuuuum fuuuuck! Ich schwinge ihm einen wilden Tritt zwischen die Beine, und sogleich rollt er sich ein wie ein Laubblättchen im Herbst, ein verkrampftes, selbstmörderisches Blatt, das von den gelben Bäumen segelt, und sein Mundschutz saust über die Seile hinweg. Er kippt erst nach vorn und sackt dann wie ein betäubter Schlafwandler nach hinten, stürzt wie ein Meteorit mitten in den Ozean. Sein Körper wirbelt auf der Plane eine Staubwelle auf.
»Puta madre!«, schreit Chuba, während er ihm zu Hilfe eilt. »Du hast ihn mir kaputtgemacht! Fuck, fuck, fuck!«
»Mir hat niemand was gesagt, kein Scheißsterbenswörtchen«, schreie ich meinerseits.
Der Crazy windet sich am Boden, flennt um seine Klunker. Man sieht nur das Weiße im Auge. Geschwind klettern die Schwarzwurzel und der Ohrring zu ihm. Ich höre, wie die Chicos von unten rufen:
»Fokkin Feigling. Feigling. Feiiiigling.«
Sie spritzen dem Crazy Loco Wasser ins Gesicht und legen ihm einen Lappen in den Nacken. Die Molluske Chuby beugt ihm die Beine, damit er sich erholt. Sie ist so besorgt, dass mir plötzlich der Gedanke kommt, sie könnte ihm mit einer ihrer Tentakeln in die Unterhose fahren und die sensiblen Goldeier streicheln. Nach und nach bekommt der Kleine wieder Farbe, die Netzhaut geht von einem Fuck-mich-Rot in ein unruhiges Bohnenblau über, das Schau-mich-an gellt.
»Idiot«, schreit mich Chuby an, der neben dem Champion kniet und ihm mit einem kleinen Handtuch Luft zufächelt. »Man haut mit den fokkin Händen zu, Idiot, nicht mit den Füßen, Idiot. Dieses fokkin Bisnes funktioniert mit den verdammten Händen, nicht mit den verdammten fokkin Füßen.«
»Was kann ich fokkin dafür«, entgegne ich, »mir hat niemand was gesagt. Jedenfalls ist die Sache für mich gestorben; bis hierhin und nicht weiter, ich mache mich jetzt aus dem Staub.«
»Nicht im Traum«, zum ersten Mal gibt der Loco Crazy etwas von sich, »du bleibst fokkin da, denn ich schlage dich jetzt zu Brei«, improvisiert er mit verrenkter Zunge, während ihm die Galle aus den Mundwinkeln sprießt.
»Schön langsam, Champ«, quetsche ich hervor, »find erst mal deine Eier, dann können wir uns keilen.«
Ich nehme die Maske ab, lasse sie auf den Boden fallen und will gehen. Genug ist genug. Für heute habe ich die Nase voll. Und zwar gehörig. Ich bearbeite die Handschuhschnüre mit den Zähnen, um die Knoten zu lösen. Es gelingt mir nicht, die Molluske hat sie zu festgezogen. Ich beiße immer noch in die Ösen, als mich ein Megastromstoß am Rücken erwischt, dazu der Konterschrei:
»Fuck you, Scheißdrecksmex, ich bring dich um.«
Der Bastard Crazy Loco ist auf den Beinen und will mir mit seinen verflixten Handschuhen voll Chloroform noch einen Prankenschlag verpassen. Ja, er schlägt hart zu, knüppelhart, wie mich noch nie jemand geschlagen hat. Ich spüre eine Taubheit in der Rippe, die mich fast in die Knie zwingt, drehe mich um meine Achse und sehe, dass der Kerl wie besessen ist, die Augen, der Teufel in Person.
Chuby und Yorkie knien noch immer auf dem Boden. Ein weiterer Keulenschlag, und ich bin im Nu in der Hölle, Arsch voran. Wenn er trifft, lande ich im Wunderland, wo alles vage ist, das ahne ich, bevor ich es denke, denn beim Prügeln hat man keine Zeit zum Denken. Beim Prügeln sind die Gedanken wie Funkenschläge, da ist Zeit für gar nichts, man kann nur erahnen, was am meisten schaden könnte, und alle Wut darauf konzentrieren, wie ein Präzisionsinstrument, all die widerspenstige Kraft auf einen Punkt konzentrieren, den man in sich trägt, damit man nicht als Toter endet, denn überleben muss man um jeden Preis.
Der fokkin Crazy Loco kommt auf Touren und schickt noch einen Hammerschlag in meine Richtung, der mordsmächtig wirkt, vernichtend. Er kommt heran wie ein Atomprojektil, verdrängt alle Luft in seiner Bahn, ein Komet aus Glanz und Glut, also machen meine Beine im Automatikmodus einen Satz zurück, ohne zu denken; und als wären meine Zellen zu mikroskopischen Sprungfedern geworden, vom Feuer angetrieben, haue ich zu, indem ich alle meine Moleküle ins Zentrum seines Handschuhs werfe.
Zuuuuuuuuuum!
Beide Fäuste stoßen in Lichtgeschwindigkeit zusammen. Wutentbrannt. Verflochten mit dem Feuer. Wir explodieren, weil es kein Morgen gibt. Beim Prügeln existiert das Morgen nicht. Und in ebendem Moment spüre ich, wie sein Handgelenk, Millimeter für Millimeter, Zelle für Zelle, nachgibt, wie eine Kette immer am schwächsten Glied bricht; ich sehe, wie sich sein Handgelenk zum Luftballon aufbläst, als es gegen meines prallt, und dann wieder zusammenschnurrt, als hätte man es angepiekst. Ein Splitter des Handgelenkknochens steht ab, und sein ganzer Arm sackt zusammen wie tot, ohne Fäden, ohne Kern.
Ich gehe gleich wieder in Deckung, in den Modus Argusauge, falls es dem Crazy Loco einfallen sollte, das Messer zu zücken, wie ich es so oft erlebt habe; aber nein, der Kerl starrt seine zermalmte Extremität an und lässt ein Jaulen los, das bis in die Stratosphäre hallt, über den Kosmos hinaus, wo sich die Schreie sammeln, um eines Tages den ganzen Groll auf uns abzuregnen.
Niemand sagt etwas.
Alles wie erstarrt.
Niemand rührt sich.
Nur Schweigen.
Der Kerl hebt den Arm, aber der Handschuh samt Faust und Handgelenk hängt wie ein rotes Pendel herab, das die Zeit anhält. Er schickt die Augen himmelwärts, und in dem Moment, die Stirnadern geschwollen, voll geronnener Sternchen, kippt er nach hinten.
»Mann«, sagt der Ohrringgorilla nach einer Ewigkeit, während er weiterfilmt.
In der Sekunde setzt sich alles wieder in Bewegung, in schwindelerregendem Tempo.
Yorkie stürzt zu dem Champion, nimmt das Handtuch, das er um den Hals trägt, und umwickelt den zertepperten Unterarm wie eine Bratwurst.
Chuby fasst sich an den Kopf und schreit:
»Jetzt hast du ihn mir hingemacht, kaputt, fuck, fuck. Hast ihn hingemacht.«
Die Chicos kommen herauf und wollen den Crazy vom Ring schleifen.
»Ins Kankenhaus«, schreit die Schwarzwurzel, hat vor Dringlichkeit wieder die Eier beisammen.
Mit vereinten Kräften heben sie den Crazy Loco durch die Seile und bringen ihn im Laufschritt fort wie einen fokkin Torero, den ein Stier auf die Hörner genommen hat.
Der Ohrring folgt ihnen auf dem Fuß wie ein fokkin Reporter, während Chuby die Schlüssel seines Kreuzers zückt, um ihn ins Krankenhaus zu fahren.
Ich renne auch hinterher, aber anstatt ihnen zu folgen, stürze ich vor der Boxklubtür in die entgegengesetzte Richtung. »Carajo, spiel das Unschuldslamm, fokkin Scheißkerl«, zische ich mir zu, während ich mich von dem Ort entferne, an dem sie den Kleinen einladen und alles ein einziges Chaos ist, ein Wirbel, der mir in Augen und Ohren gellt.
Alle stoßen zusammen, rennen durcheinander, schwingen Ellbogen, schreien. Wie die Fliegen drängen sie in den Kreuzer und starten. Reifen quietschen bei Volldampf. Sie schießen los und verschwinden hinter der Ecke.
Ich mache mich hastig zur Freewaybrücke auf, zu den Graffitis und den Hunden, zu den Mickerfickern, die sich Landeiträume in die Venen spritzen. Die sacken dich ein, sage ich mir wieder und wieder, haue mir mit den Handschuhen gegen die Stirn. Und wenn sie dich einsacken, massakrieren sie dich, stecken dir eine Rakete in den Hintern, schießen dich in eine andere Galaxie. Und wenn sie mich in den anderen Teil des Universums schicken, sterbe ich. Ich sterbe, sterbe ganz einfach, weil ich dann die Chica nie wiedersehe, niemals mehr Aireen. Und wenn ich sie nicht sehe, sterbe ich. Sterbe.
Ich weiß nicht, warum ich losweine. Weiß es nicht. Ich bin kein Flenner, nie einer gewesen, aber die Tränen kommen von allein, als gehörte mein Kopf jemand anderem, als wären die Augen nicht meine. Mir laufen die Tränen runter, in den Mund, und kullern dann vermutlich bis zum Herzen weiter, salzig, wie sie sind, eine gewaltige Träne ohne Membran, ein Meer. Nicht einmal trocknen kann ich sie, denn ich trage diese fetten Handschuhe. Ich bin ein Scheißfleck, der durchs Fokkinland segelt. Es gibt nichts Schlimmeres, als Tag für Tag die Liebe deines Lebens zu sehen und nicht berühren zu können, mit Küssen, ja. Ja, mit Umarmungen. Ja, mit meinem Körper, den ich ihr entgegenwerfe, damit sie damit macht, was sie mag.
Ich gehe jetzt langsam, ganz langsam, damit alles innehält, als diktierten meine Schritte allen Uhren der Welt den Takt. Ich brauche Time, diese Time, die ich nicht mehr habe und die, wie ich ahne, schnell abgelaufen sein wird. Sobald sie mich erwischen, wird alles zu Ende sein. Ich werde in den Strudel der Ängste gespült, bis mir unten am Grund die Luft ausgeht, wo ich einsam vor Liebe fern von mir sterbe.
Unter meinen Latschen schwindet der Abend dahin. Ich gelange zu einer Bank im Nirgendwo und lasse mich fallen. Meine Tränen werden abgehackter, Auslassungspunkte zwischen dem Wind und mir. Ich wische sie mit dem Unterarm ab und seufze tief, während ich vergifteten Speichel schlucke. Meine Augen blicken ins Leere, als wäre es mir egal, was es außerhalb zu sehen gibt. Die Welt dreht sich, und ich bin nicht da. Ich bin ein Occupy, überall im Exil. Vor mir ist ein baufälliges Haus mit verdorrtem Garten. Ich sehe ein paar Fipsen, nicht größer als Flöhe, beim Ballspielen zu. Sie sind so winzig, dass sie kaum die Vertikale halten können. Einer tritt den Ball zu einem anderen und trifft ihn in den Bauch. Sie lachen, lachen ständig. Mehr brauchen sie nicht. Sie jagen sich, tollen umher, verheddern und entheddern sich. Ich schaue ihnen immer aufmerksamer zu. Sie wälzen sich auf der bleigrauen Erde. Wieder lachen sie, sanft, schrill, leise, laut, überall zwischen dem dürren Laub ihrer toten Wiese. Und wennschon? Und wennschon! Das Leben sind auch diese kleinen Dinge, die man weder mit den Händen messen noch mit den Augen fassen, die man nicht an Wurzeln und Blättern packen kann.
Ich stehe auf. Und wennschon! Und wennschon! Wenn ich mich beeile, ist womöglich noch zu retten, was sich da in mir verunheilt, bevor man mich innerlich entkaramellisiert und ich ein Grab mit mir herumschleppe, wo immer ich hingehe.
Hedonistisch setze ich meinen Weg fort, trockne mir die Tränen und laufe weiter, ein Kopist der immergleichen Ausholschritte. Ich hüpfe über Büsche. Rolle unter den Autos durch. Klettere über die megalithischen Mauern der Stadt. Durchquere Parks und Gärten. Hänge mich an Bäume und Laternen, beiße die Zähne zusammen und komme gerade rechtzeitig an, um zu nachtschlafender Zeit die Chica zu erwarten, die von ihrer Arbeit zurückkommt in diesem Mitternachtsbus, der sie aus dem Gebrodel der Mickerficker ausspuckt. Ich bin dort, um sie zu erwarten, auf den Knien, um ihr zu sagen, wie sehr ich sie liebe, wie sehr ich sie in mir trage, wie sehr ich ohne sie nicht leben kann, ja. Ohne dich, Aireen, my love.
»Mann, du kleiner Hosenscheißer, dich findet man ja nicht mal mit ’ner Lupe. Wo hast du gesteckt? Himmel, Meer und Erde habe ich abgesucht, und nichts. Verflixter Springteufel. Und was ist mit deiner Buchhandlung passiert? Ist die hinüber?«
Die Ñora steigt aus dem weißen Pick-up, den sie mit angeschalteten Scheinwerfern vor der Treppe geparkt hat, wo ich schon seit einiger Zeit auf die Chica warte.
»Kommst du jetzt mit, oder willst du Prügel?«, sagt sie und lacht zugleich röhrend wie eine läufige Eselin.
»Wenn Sie mich anrühren«, sage ich und richte die fokkin Handschuhe auf sie, die ich nicht mal mit den Zähnen losbekommen habe, »können Sie noch so alt und Frau sein, ich mache Brei aus Ihnen.«
»Ha«, sie lässt ein noch schrilleres Lachen los, wie ein sprudelnder Kakadu. »Immer die Ruhe, Kleiner, mach nur Spaß. Darf ich mich hier in die Nähe pflanzen? Ich berühre dich nicht mal mit ’nem Blütenblatt, versprochen.« Sie rückt näher und versucht, sich neben mich zu setzen, aber ich mache mich breit, damit sie nicht mehr auf die Stufe passt. Sie trägt eine weite Matrosenhose, Sandalen, Cowboyhut und ein Tuch um den Schädel. »Wenn du mir nicht Platz machst, setze ich mich auf deinen Schoß, ja?«, und bevor ich etwas entgegnen kann, hockt sie schon auf mir. »Au, bist du knochig, Kleiner.« Ich versuche, sie abzuwerfen, aber meine Handschuhe funktionieren bloß wie fokkin Krebsscheren. »He«, sagt sie, »zwick mir nicht in die Titten mit deinen Keulen.« Ich höre mit dem Gefuchtel auf und versuche, sie mit der Hüfte wegzustoßen, damit sie aufsteht. »He, Braunpelz, stellen wir einander doch erst mal vor und geben uns ein Küsschen, was? Oder soll’s geradewegs losgehen?« Ich höre auf, ihre Hüfte mit meiner zu bearbeiten, und halte still, ganz zerstrudelt, im Zweifel zwischen ihrem Körper und meinen Gedanken. Ich spüre, wie ihr Hintern mir das Vögelchen plattdrückt und ihr Rücken meine Brust. »Hör mal, was machst du hier so mutterseelenallein?« Ich antworte nicht, bin wütend. »Na los, Papi, antworte«, sagt sie, während sie ihre Arschbacken in meine Eier knotet.
»Was geht dich das fokkin an!«, sage ich, damit sie endlich stillhält.
»Ist ja gut, Kleiner, aber schrei mich bloß nicht an, als wärst du verliebt!«
Ich siede vor Wut.
Sie merkt es und redet nun, als hätte sie sich literweise Klebstoff in die Kehle gesaugt.
»Na, versauter Zwerg, bist ja schon ein großes Schweinchen und verliebt. Wer hätte das gedacht, so ein schmales Fischchen und schlägt mit der Schwanzflosse um sich wie die Großen. Und wer ist die Glückliche?«
Sie wippt auf mir und taucht ihre Hektoliter Fleisch noch tiefer in meinen Bauch.
»Ich bekomme keine Luft«, sage ich.
»Verkauf mich nicht für blöd«, antwortet sie wie festgewachsen: »Liebe erstickt, aber bringt nicht um.« Sie dreht ihren Kopf zu mir, und unsere Nasen stoßen fast zusammen. »Ach, Kleiner«, sagt sie auf einmal und kräuselt die Nasenlöcher, »du riechst supermies.« Sofort schnellt sie in die Vertikale, rückt im Stand den Cowboyhut zurecht und zieht die Hose höher. »Wendoline«, und sie reicht mir die Hand.
»Alte Spinnerin«, sage ich.
»Na dann wenigstens High five, Kleiner, man lässt doch keine Lady mit der Flöte im Mund stehen«, sagt sie, die Hand noch immer ausgestreckt. »One … two …« Ich schlage mit dem linken Handschuh ein. »So ist’s fein«, sie spritzt ein Lachen heraus. Dann wird sie ernst und legt los wie ein Maschinengewehr: »1. Bist du Linkshänder? 2. Nimmst du Boxunterricht, damit du nicht mehr als Punchingball herhalten musst? 3. Warum hast du immer noch die Handschuhe an? 4. Wie heißt das Mädchen, in das du verliebt bist?«
»Was geht dich das an?«
Sie starrt mich an wie eine Kehrmaschine.
»Na gut, dazu später! Ich wollte dich zum Abendessen einladen, weil ich ein paar Kleinigkeiten mit dir zu besprechen habe, die mich interessieren, aber jetzt weiß ich, wo wir uns besser miteinander beschäftigen können.«
Sie grashüpfert vor mir her und klatscht in die Hände, plock plock plock. Die Ñora ist wirklich restlos plemplem, hirnwütig bis in die Zehen.
»Bin schon beschäftigt!« Ich schäume wie eine gestörte Entelechie.
»Ach ja? Wärmst du etwa die Steine mit dem Hintern? Nein? Prima.« Sie zieht mich am Arm auf die Füße und lacht dabei weiter. »Sieh mal, Rotzteufel, wenn du auf jemanden wartest, dann solltest du dich unbedingt waschen, denn so, wie du stinkst, stürzen sich höchstens die Flöhe auf dich. Komm, steig in meinen Pick-up, dir passiert schon nichts.«
Etwas rumpelt in mir drinnen, denn ich muss tatsächlich nach Kadaver stinken.
[Das hatte mein Chief immer gesagt:
»Mensch, wasch dir die fokkin Flüchtel, du Giftmüll, die stinken bis zur letzten Ecke Patagoniens. Dein Schweiß sollte man als Rohrreiniger benutzen, nein, besser als Treibstoff für Massenvernichtungswaffen.«]
Ich zögere, denn immer, wenn es heißt, es passiert nichts, passiert etwas.
»Los, du Promenadenmischung, hässlich und dreckig wie sonst was.« Die Ñora schleift mich zum Bordstein, vor die Beifahrertür ihres Pick-ups. »Ach, Verzeihung, Euer Majestät«, sagt sie, während sie die Tür öffnet, »mit diesen roten Q-tips an den Händen kannst du dir nicht mal einen runterholen.«
Sie verbeugt sich und lässt mich einsteigen. Als ich sitze, knallt sie die Tür zu. Sie umrundet vorn den Wagen, ihr Bauch leuchtet im Scheinwerferlicht auf. Sie ist nicht sehr groß, im Gegenteil, eher winzig. Sie öffnet ihre Tür und klettert hinein.
»Sie reichen tatsächlich bis zu den Pedalen?«, frage ich, genervt von all dem, was sie mir an den Kopf geworfen hat.
»Ach, Scheißerchen«, sie lässt wieder ihr grottiges Lachen hören. »So gefällt’s mir, Kindchen, allmählich fassen wir Zutrauen zueinander.« Sie startet den Pick-up, und wir nehmen die Avenue bis zur ersten roten Ampel. »Was magst du für Musik?«
Ich sehe mich nach allen Seiten um, vor allem nach hinten, ob uns jemand folgt und Schabefleisch aus mir machen will.
»Calle 13.«
Sie beugt sich vor und öffnet das Handschuhfach. Wühlt zwischen allem möglichen Kram und zieht einen USB-Stick heraus. Dann drückt sie auf einen Knopf, und — tatam — ein Minibildschirm fährt heraus, Gott weiß woher, jedenfalls mit einem Fliegensirren: bzzzzzzzzz. Dann steckt sie den Stick ein, und der Bildschirm erhellt sich. Sie sucht und wählt ein Album aus. Die Woofer und Tweeter dröhnen los wie ein Erdbeben, als wären wir in einem der Klubs, die ich nur von außen kenne, bloß die bunten Scheinwerfer fehlen.
»Hat meine Jukebox nicht einen Wahnsinnssound?«
»What?«, frage ich, denn ich verstehe nichts.
»Hörst du nichts?«
»Nein!«, schreie ich.
»Ah, gut, dann kann ich dich also Bastard nennen, und du merkst es nicht mal!«
»Selber Bastardin!«, schrei ich zurück, denn das hatte ich sehr wohl gehört.
Beide sehen wir uns einen Moment in die Augen, senken die Lider, als würden wir uns gleich beißen, und zum ersten Mal seit langem lächle ich, während sie laut herauslacht und begeistert dazu johlt. Sie lacht aus vollem Hals, hemmungslos, dreckmotzig, während Residente von Calle 13 unsere Ohrtrompeten mit sechstausend Meilen pro Stunde zupfropft.
Sie biegt in die Sechste und steuert die Hügel von Palatine West an. Wir lassen das letzte Einkaufszentrum hinter uns, sein Parkplatz prallvoll von Autos. Wir nehmen die Umgehungsstraße und münden in den Freeway. Plötzlich stellt sie die Anlage leiser, als brauchte sie Stille zum Denken, und das Lachen rinnt ihr nur noch wie Lava aus den Mundwinkeln, flambiert vom rasenden Inferno.
»Weißt du, ich habe einmal Bücher in deiner Buchhandlung gekauft, der Fettwanst mit Brille hat mich bedient. Das ist wohl dein Chef. Er hat dich eine Leiter hochgeschickt, damit du ein Buch vom Doktor Spengler runterholst, du weißt schon, das über die urbanen Stämme der Warriors, die hier in den Grenzstädten leben. Ich wollte mich mit der Sprache vertraut machen, die ihr Jungs benutzt, denn ich habe damals etwas für die Sun geschrieben, natürlich, als ich noch für die Sun News gearbeitet habe. Vielleicht erinnerst du dich nicht an mich, denn damals hatte ich noch Haare und habe im Sommer wie im Winter ultrakurze Klamotten getragen. Aber als du den Wälzer runtergeholt und mir in die Hand gedrückt hast, da warst du plötzlich wie vom Schlag getroffen, er fiel dir fast aus den Händen, als deine Finger meine berührt haben. Mann, warst du ein Küken, noch nicht mal Federn hattest du. Jedenfalls hat dich der Fettwanst ordentlich zusammengestaucht. Ach, damals habe ich alles so ernst genommen im Leben und habe nichts getan. Hätte mich einmischen und der Schwuchtel eins mit dem Buch überziehen sollen, aber was soll’s, man lernt erst dazu, wenn man schon die Elle sieht, mit der man gemessen werden wird.«
Der Pick-up rollt weiter. Ja, jetzt erinnere ich mich, ich denke nach, während sie redet. Aber die Chica von damals gleicht nicht im Geringsten der, die da am Steuer sitzt und an der Kreuzung abbiegt. Damals kroch ihr das Feuer wie Ameisen die Beine hoch. Und die hier scheint ein Nussknacker zermahlen zu haben.
»Ich erinnere mich nicht«, sage ich schließlich. Sie sieht mich an und dreht wortlos die Musik lauter, die den gesamten Pick-up überflutet.
Wir fahren die Hügel hinauf und bei der ersten Ausfahrt ab. So geht es zwei Meilen weiter, bis sie allmählich das Tempo drosselt. Wir passieren ein Wachhäuschen mithilfe eines Chips, der im Wagen implantiert ist. Ich bestaune den Ort mit offenem Mund, schillernd, noch nie hatte ich so etwas gesehen, nur in den Zeitschriften, in denen ich in der Buchhandlung blätterte.
[Manche Zeitschriften kaufte der Chief nur widerwillig:
»Hör mal, du beschissene Indigestion, beim Blättern in diesem Reader’s Digest wird dir deine ohnehin spärliche Grütze noch wegschmelzen.«
»Und weshalb bestellen Sie es dann, Chief?«
»Damit sie all den Aufgedonnerten wegschmilzt, die hier reinschauen.« Und er lachte spöttisch, mit seinem kleinen Alebrije-Dämon drinnen.]
Die Häuser auf den Hügeln zeigen von Laternen erleuchtete Gärten. Manche haben draußen Klubsessel und kleine Brunnen; manche Spielgeräte und Teakliegen zum Arschplätten. Stünde dieser dekorative Ramsch in meinem Dorf drüben, man hätte ihn bereits in einen Sack gepackt und auf der Straße verkauft wie Schmalzkringel.
Wir gelangen zu einem Haus mit Steinwegen, drum herum ein paar geteerte Bäume. Eine Laterne erhellt den kleinen Weg zur Tür des eleganten Backsteinhauses. Sie parkt den Pick-up und stellt den Motor aus. Sofort stoppt die Musik, und der Bildschirm fährt automatisch ein.
»Wir sind da.« Ich mache nicht einmal den Versuch, die Tür zu öffnen. »Ach, die habe ich ganz vergessen!«, ruft die Ñora, als ihr Blick auf meine Handschuhe fällt. »Du bist ein Esel, und Hufe taugen nicht für menschliche Verrichtungen.« Sie schmiert ein Lachen über die Windschutzscheibe. »Ich mach dir gleich auf, mein Prinz.« Sie lehnt sich über mich, bohrt den Ellbogen in meinen Bauch und zieht mit der anderen Hand am Hebel. »Verzeih, wenn ich deinen Pimmel gequetscht habe«, entschuldigt sie sich, »aber ich wollte ihn noch einmal spüren.«
»What!«
»Nur die Ruhe, Kleiner, du bist nicht mein Typ, aber trotzdem wollte ich kurz nachforschen, ob gestimmt hat, was ich vorhin gespürt habe«, und sie lacht noch dröhnender, während sie hinausspringt.
Ich mache einen Satz auf den Rasen.
»Hier lang«, sie führt mich zum Weg. Während wir den Garten durchqueren, wechselt sie die Themen wie Unterwäsche. »Manchmal hätte ich gern mehr Zeit für meine Pflanzen, sieh nur, ganz schlaff vor Scham. Eine Pflanze ist wie eine Frau, sie braucht Liebe, und das sage ich, weil vielleicht eine hervorragende Lesbe aus mir geworden wäre, denn ich weiß, was eine Frau braucht, aber nein, ich hatte immer eine Vorliebe für den Spargel«, und sie lacht legasthenisch stotternd, als hätte sie Schluckauf.
Sie öffnet die Tür und macht das Licht in einer riesigen Eingangshalle an. Dann erhellt sie ein noch größeres Zimmer. Jede Menge Bilder an den Wänden, viel mehr als beim Chief zu Hause und weit mehr als in der Wohnung der Chica. Vermutlich hängt man sich Bilder auf, damit der Blick nicht an den nackten Wänden verelendet.
»Das ist ja wie im Museum!«, sage ich.
»Genau das habe ich meinem Exmann gesagt, und der Scheißer hat mir aus Rache, dass ich ihm das Haus weggenommen habe, seinen ganzen Ramsch hinterlassen. Bis zu den Kakerlaken, Mann.«
»Hier gibt es Kakerlaken?«
Die Ñora sieht mich an und lächelt.
»Ach, Kleiner, das ist so eine Redensart. Manchmal wirkst du weniger bescheuert, weil du so komische Wörter von dir gibst, aber manchmal bist du entsetzlich naiv.«
Sie schaltet überall die Lichter an. Das Haus ist tatsächlich ein Museum. Es ist riesig, aber überall voller Dinge: hier Vitrinen, da Bilder, gedrechselte Tischchen, die antik zu sein scheinen. Hinten erstreckt sich ein gewaltiger Speisesaal mit zwölf Stühlen, es folgt ein großes Wohnzimmer mit vier Sesseln, die wie Betten wirken. Da steht auch ein Flügel und weiter rechts eine Vitrine mit goldgerahmter Spiegelwand und Kristallfiguren, weiter unten die Skulptur einer Fischfrau.
Auf der anderen Seite schließt sich eine große Küche an, mit Herd in der Mitte; nun ja, Herd ist auch nur eine Redensart für eine schwarze Glasplatte, auf die mehrere Kreise gemalt sind, darüber eine Abziehhaube. Drum herum hängen Pfannen, Töpfe, Schöpflöffel. Links ist eine Theke mit zwei Barhockern, und hinten, abgetrennt durch halbtransparente Vorhänge wie aus Gaze, ist ein beleuchteter Garten zu sehen und etwas, was ein Swimmingpool zu sein scheint. Die Ñora geht zu einer Schublade.
»Und jetzt, Muckefucker, empfiehl dem Herrn deine Seele, denn gleich erlebst du dein blaues Wunder«, und sie zeigt mir ein Zwiebelmesser. Mit starren Augen kommt sie auf mich zu und schreit dann wild heraus. »He, nicht wegrennen, das ist ein Scherz, Muckefucker. Das ist für die Handschuhe.«
Ich weiß nicht, zweifle an der Tür, während ich vergebens versuche, den Scheißtürknauf zu fassen. Ich zweifle noch immer, während meine Beine mir sagen, dass ich schleunigst das Weite suchen sollte. Immer soll man zweifeln, das sage ich mir, solange ich denken kann. Aber egal, meine Hände sind bereits taub. In den roten Boxhandschuhen sind sie bestimmt schon blau angelaufen. Ich gehe langsam auf sie zu und halte sie ihr hin. Ich bin in Gottes Hand, denke ich.
Die Ñora sieht mich an.
»Hast schon recht mit dem Weglaufen, aber heute nicht.«
Sie fährt mit der Messerspitze zwischen die Handschuhschnüre und zieht kräftig, sie geben nach und knospen auf. Sie legt das Messer auf ein Tischchen und zieht mir die Handschuhe aus. Tatsächlich, meine Finger sind abgestorben.
»Und der Bluterguss da?«, fragt sie, als sie meine Hände mustert.
»Nichts weiter, noch ein Prankenhieb.«
Sie reibt meine tomatigen, verkrampften Fingerglieder. Ich spüre, wie ihre Wärme meine Finger wachst. Das Rheuma verzieht sich nach und nach.
»Du bist schon ein komischer Knirps«, sagt sie eher ernst, »als hätte noch nie jemand deine Hände angefasst.«
Ich weiß nicht, wohin blicken, also blicke ich zu Boden und werde Kakerlake. Sie streichelt weiter, bis die Finger munter werden.
»Komm«, sagt sie untertönig und zieht mich an der Hand. Sie führt mich in einen breiten Gang und öffnet eine Tür.
Das Licht geht automatisch an. Ein riesiges Badezimmer. Eine ganze Wand ist ein Spiegel, der den Raum noch größer macht. Das Waschbecken sitzt auf einer breiten Kommode mit mehreren Glastüren, hinter denen man weiße Handtücher sieht. Es gibt zwei verchromte Borde mit Glasplatten, auf denen Ziergegenstände stehen. Die Scheißschüssel ist mit Muscheln bedeckt, der Sitz aus Holz. Die Dusche befindet sich linker Hand, hinter einer Glastür, gegenüber ein Reliefbild mit kleinen Fischen. In der Mitte thront eine runde Badewanne, weiß mit blauem Rand, in der drei Esel Platz hätten, drei Kühe und vielleicht, wenn alle eng zusammenrücken, drei Legehennen. Darüber an der Wand ein Fernseher mit Flachbildschirm, so groß wie ich selbst.
»Frieden finde ich nur, wenn ich ins Jacuzzi tauche«, sagt sie wie weggetreten. »Da drinnen verschwindet die Welt, und nur ich existiere.«
Sie geht zu ein paar Schaltern an der Wannenwand, drückt darauf, und nach ein paar Sekunden dringen Dampf und heißes Wasser aus mehreren Löchern.
»Zieh dich schon mal aus, während ich dir was zum Anziehen suche, denn was du da trägst, hat seine Glanzzeit hinter sich. Stinkt wie die Pest.«
Sie verlässt das Zimmer, und ich weiß nicht, was tun.
Das Wasser blubbert, die Blasen crashen ineinander wie Eisberge aus Dampf. Ich betrachte meine Hände: Sie sind verschrumpelt von all der Zeit in den Handschuhen, stinken nach Ziegenstall, nach einem Sud aus Vinyl und Leder. Ich weiß nicht, vielleicht riechen sie nach Maultier, das sich mit der Last herumschleppt, dass es niemals eine Familie haben wird.
»Du hast dich nicht ausgezogen, Braunpelz?«, sagt sie und kommt mit einem Haufen Kleidern herein. Sie legt sie auf die Waschkommode. »Na los, Mosquito, bist ja wie ein Kleinkind!«
Wohin fliehen? Ich zittere. Wenn ich mich kopfüber in diesen Ozean aus Seifenblasen stürze, kann ich vielleicht durch den Abfluss zur Hölle fahren oder von Tropfen zu Tropfen springen, bis ich in einem Kollaps implodiere. Die Ñora fasst mich an der Hüfte und löst den Gürtel, knöpft langsam mein Buchhandlungshemd auf, verschmiert von Blut, Schweiß und Erde. Sie zieht es mir von den Schultern und lässt es auf den Boden fallen.
»Du bist vielleicht ein Clown, Kleiner. Hör auf zu zittern, dir passiert schon nichts.« Doch dann fährt sie mit den Händen über meine Marimbarippen, betastet sie, und meine Haut bebt nur noch mehr, übergänsert sich. »Ich hätte gewettet, dass du irgendwo das Tattoo einer Latino-Gang hast, von diesen urbanen Stämmen, vielleicht sogar von der MS-13. Aber nein, bist kahler als mein verdammter Kopf. Hast nur Narben, wie Brandwunden der Sonne.«
[Das stimmte, nie hatte ich mir etwas in den Körper meißeln wollen, bloß die Narben aus der Wüste. Ich kam mir anders als alle anderen vor an diesen Abenden, an denen ich mir seltsame Dinge vorstellte, wie von Blatt zu Blatt zu hüpfen, hinter ihnen verschanzt in die Zweige zu springen.
»Schwuchtelzeug«, ein hartgeklopfter Scheißkumpel lächelte mich hämisch an, als ich noch drüben in Mexiko umherzog, unter den Brücken, ins Exil geschickt von meiner Patentante, und die Luft mit dem Straßenköteratem meines Landes erdolchte.
»Sag das noch mal, und ich kuriere dich für den Rest deiner Tage«, entgegnete ich.
»Wirkst wie ’ne schwule Sau, wenn du solche Schwulereien denkst.«
»Sau die Mutter, die dich geboren hat.«
Er zieht sein Messer, ein mächtiges mit Rille, zum Schweineschlachten, und ich ganz kaltblütig, umgeben von Kumpeln, die Blut sehen wollten.
»Schlagt euch!«, schrien sie.
»Entweder du steckst das weg, und wir polieren uns die Schnauzen, wie es sich gehört, oder ich garantiere für nichts«, sagte ich ihm.
Er steckt es nicht weg, denn meine Fäuste hatten ihm da schon die Schnauze poliert.
Er geht auf mich los, will mich mit dem Eisen auf die Hörner nehmen, und kackumm, eine angetäuschte Rechte, und sackumm, ich schwengle ihm eins in die Beine, und er hebt sich in die Lüfte wie ein Windrad, und zack, der Schwachkopf, anstatt seinen Eispickel in der Luft loszulassen, fällt genau auf ihn drauf.
Ich habe bloß gesehen, wie er gelandet ist, bäuchlings, eine einzige Sauerei. Drehe ihn um, und er hat noch Augen, mich anzusehen, aber nicht für lange, das Leben zischte aus dem Eingeweideloch heraus. Und ich über und über blutbesudelt, wie ich versuche, das Gespritze aufzuhalten. Denn er war mein Kumpel im Viertel, aber die Kumpel werden manchmal zu Schwachköpfen. Dann hat er nichts mehr angesehen, seine erloschene Brust wurde immer steifer, über und über bedeckt mit verlorenen Tätowierungen.
»Zieh Leine, Scheißer«, sagten mir die Kumpel der Gang.
»Entweder du verduftest, oder sie nehmen dich hopps.«
Und da rannte ich, bis meine Quanten schmerzten, unter Laternen und Brücken, die Hände verschmiert von Blut.]
Auf einmal durchläuft mich ein Beben in alle Himmelsrichtungen, zu allen Astralpunkten meiner Epidermis, und reißt mich aus meinen Erinnerungen. Die Ñora flutscht den Gürtel aus meiner Jeans und wirft ihn zu dem Hemd.
»Zieh dir die Stiefel aus, sonst kommst du nicht aus der Hose.«
Ich taumle, strample sie aber los. Ihre Hände legen sich auf meine Hüfte und ziehen mir die Hosen noch tiefer als der Boden. Ich stehe nackt vor ihr, nackt bis zur Wurzel.
»Mammamia!« Sie stößt einen spitzen Schrei aus. »Huch, du Schlange, erschreck mich nicht«, lacht die Ñora. »Was bist du für eine Entdeckung, Papito.«
In dem Moment fängt mein Wanst zu schrillen an. Ich habe den ganzen Tag über nichts gegessen. Bloß die Chips von gestern und das Wasser. Der Rabatz meiner Eingeweide lenkt sie von der Stelle ab, auf die sich ihre Gedanken konzentriert hatten, denn auf einmal wird sie rot. Sie zögert, schnellt dann aber auf.
»Los, Papi«, sagt sie tänzelnd, »ins Wasser, Enterich.«
Sie gibt mir einen Klaps auf den Hintern und drängt mich zur Wanne. Mit einem Schwung tauche ich ein. Unter Wasser halte ich den Atem an.
Ich will nicht nach oben. Ja, das Meer, das kenne ich nicht, bin niemals dort gewesen; weiß nicht, wie es sein mag. Ich habe es in Büchern gesehen, blau, voller Geräusche wie sonnenpralles Gemurmel, und Wellen gehen in die Knie vor Möwen, die sich in ihren Sandlocken verheddern.
Wonach riecht das Meer in den Büchern?
Als ich endlich auftauche, ist die Ñora nicht mehr da. Sie hat sich in prompte Abwesenheit aufgelöst. Ich sehe nur, dass das Wasser zu schäumen beginnt, und auf einem Bord neben der Wanne liegen ein Schwammkürbis und eine Badebürste. Ich setze mich auf den Wassersitz und rühre mich nicht, wie in meinem Grab, wie die Blumen, die keine Blätter mehr haben, damit der Wind sie wiegt, ganz zerknirscht, während sich die Seifenblasen überall an meinen Körper kleben.
Ich lehne den Kopf zurück und sehe ein Deckenfenster über der Wanne.
Es sind keine Sterne draußen zu sehen, nur ein bläulicher Schimmer, aber ich weiß, sie sind da irgendwo, unbeugsam, fügen sich munter zu Konstellationen, mit Planeten, die sich an ihre Sonnen haken. Ja, das Universum könnte ein Wunder sein, ich weiß es nicht, ein Wunder in all seinen kosmosfrohen Ecken, wo das Licht zur Wiege wird für all die Tautropfen und dergleichen. Warum hat der pockige Writer, der immer in die Buchhandlung kam, seinen Stoff fern von der Erde gesucht, wo doch hier womöglich alles zu finden ist?
Die Eingeweide fangen wieder zu rumoren an. Ich walke mir den Bauch und kann sie zügeln.
Besser, ich steige raus, bevor mir die Finger noch weiter verschrumpeln. Ich nehme die Bürste und fange an, mich zu waschen, als wäre ich ein Hund. Ich scheure tüchtig, wie rasend, bis die Schwielen schön abgeschliffen sind und die Hände nicht mehr kratzen wie Schleifpapier. Ich scheure mich überall, der Dreck tief in mir drinnen soll weg, soll abhauen, sich zu eingerollten Hautfetzen verfeinern, raus aus der Seele.
Ich komme zum Ende, tauche noch einmal unter und hüpfe dann aus der Wanne, wringe mich mit dem Handtuch aus, greife mir eine Jogginghose aus dem Kleiderhaufen und ein T-Shirt mit der Aufschrift I LOVE NY. Dann fädle ich mir wieder den Gürtel um den Leib, denn mein Gürtel ist ein Teil von mir, ist wie mein Rettungsring, selbst wenn ich nichts in seinem Geheimfach versteckt hätte. Da sind die sechzig Dollar der Molluske, das Kärtchen mit der Boxklubadresse, der Abacuc-Rettungsanker und ganz hinten das Medaillon meiner Mutter, das sie um den Hals getragen haben soll bei ihrem Tod.
Jeans und Buchhandlungshemd stecke ich mir zusammengerollt unter die Achseln, nehme die Schuhe und verlasse mit meinem Bündel das Bad.
Die Ñora ist nirgends zu sehen. Überall brennt noch Licht. Ich gehe den Gang entlang, ins Museum. Sie ist nicht im Wohnzimmer, nicht im Speisesaal, keine Spur von ihr in der Küche. Ich sehe sie nirgendwo. Vielleicht wringt sie ihren Wahnsinn im Swimmingpool aus, wie in den miesen Romanen, raucht eine Zigarette oder hockt da und starrt ins Wasser, trinkt etwas und vergießt literweise Nostalgie über ihr Glas.
Ich gehe hinaus, aber sie ist nicht da. Den Swimmingpool bedeckt ein Laubteppich. Das Gras richtet sich höher auf als meine Karpalhaare. »Fuck.« Ich wende mich zur Eingangstür und öffne sie. Ihr Pick-up steht noch da. Dann kehre ich in die Wohnzimmermitte zurück und beschließe, nach ihr zu rufen:
»Ñora! Ñora!«
Ich höre das Meckerlachen einer verrückten Ziege von irgendwoher im Haus.
»Komm!«, befiehlt sie.
»Wohin?«
»Hier lang, Esel.«
Ich kehre um und nehme den Gang zum Bad, lasse es hinter mir und sehe, dass es am Ende bei dem Blumentopf um die Ecke geht. Dahinter sehe ich eine Flügeltür zu einem riesigen Zimmer im Schummerlicht, in der Mitte ein Bett, in dem die besagten drei Esel, drei Kühe und drei Legehennen Platz hätten, ohne sich zu stören.
Zwei große Fensterfronten, von der Decke bis zum Boden, gehen auf den Garten und den Swimmingpool hinaus. Die Ñora klebt an einem Laptop auf dem Schreibtisch, um sich herum ein Haufen Papiere. Sie dreht sich auf dem Stuhl und mustert mich.
Hinter dem Tisch hängt eine Pinnwand mit vielen Kärtchen, Post-its, Papieren, Fotos und was sonst noch alles.
Daneben steht ein Toilettentisch mit mehreren Perücken.
»Was hast du im Garten gemacht?«, fragt sie. Ich antworte nicht. Sie senkt die Lider. »Ich sehe, die Kleider von meinem Exmann passen dir wie angegossen.«
Ich trete zu den Perücken, die auf runden Kugeln stecken, betrachte sie beunruhigt.
»Und das hier?«
»Die brauche ich manchmal, für meine Arbeit. Aber du hörst wohl nicht zu.« Sie lächelt. »Alle nennen mich Dabbelju. Nichts von wegen Ñora, lass den Quatsch, du Mischware. Ich bin kaum fünfzehn Jahre älter als du.«
Da sieht sie, dass ich meine Kleider unter dem Arm trage, die Stiefel in der Hand.
»Nein, nein, nicht hier.« Sie entreißt sie mir und verlässt naserümpfend das Zimmer. »Die müsste man verbrennen, ins Kaminfeuer werfen, mit Formol übergießen, damit all das Ungeziefer ausstirbt, das auf dir herumklettert, aber ich werde sie bloß waschen, falls du sie später brauchst, denn hier …«
Ihre Stimme verliert sich in der Ferne.
Das Zimmer ist elfenbeinfarben. Und weitläufig. An der Decke hängen zwei Ventilatoren, an der Wand gegenüber ein Fernsehbildschirm, noch viel größer als der im Bad. Der Boden ist aus Parkett, jedoch mit dicken Teppichen belegt. Ich gehe an der Wand entlang, in Richtung einer Tür, öffne sie und sehe ein Ankleidezimmer. Ich schließe sie wieder. Gehe zu den zwei Fensterfronten. Von hier aus überblickt man einen Teil der Stadt. Wir sind auf einem hohen Hügel. Die Lichter blinken wie Sterne: gelb und weiß. Man sieht die Wolkenkratzer mit ihren pulsierenden roten Leuchttürmen an den Spitzen. In der Nähe dunkle Regionen von Nacht, anscheinend die Bäume des kleinen Hügelwaldes, der nicht beleuchtet ist, und hier und da ganz winzig die Scheinwerfer der Autos, die ihn durchqueren, vermutlich auf einer Autobahn.
»Gefällt er dir?« Ich höre die Stimme der Ñora hinter mir.
»Was?«, frage ich, ohne sie anzublicken.
»Der Blick übers Tal, gefällt er dir?«
Ich zucke mit den Schultern, sage nichts. Manchmal sind wir so blind, dass wir nur Schatten sehen.
»Glauben Sie an Gott?«, frage ich unwillkürlich.
Sie schweigt. Ich sehe sie als Schatten, der sich in der Scheibe spiegelt. Dann dreht sie sich um und geht zum Stuhl vor dem Computer. Ich blicke weiter aus dem Fenster. In der Ferne treibt das Licht eines Flugzeugs vorbei wie ein Vogel, der in seinen Radklauen ein Glühwürmchen gefangen hält, bestimmt Richtung Flughafen. Ich habe noch nie ein Flugzeug bestiegen. Einmal habe ich mir vorzustellen versucht, wie die Erde von den Wolken betrachtet aussieht, als ich ein Buch über eine Reise im Heißluftballon gelesen hatte, aber meine Phantasie reichte nur für Dächer mit Wassertanks und Wäscheleinen, die sich mit Ruß und Regen tränken.
»Komm her, Kleiner; ich zeig dir was.«
Ich löse den Blick vom Horizont und gehe widerstrebend zur Ñora.
»Du bist ein Held«, sagt sie, als ich neben ihr stehe.
»What!«, rufe ich lauthals verwirrt.
Die Ñora zieht einen Hocker heran, damit ich mich neben sie setzen kann.
»Als man dich vor der Buchhandlung zusammengeschlagen hat, an der Bushaltestelle, da war ich in der Nähe, reines Glück. Na ja, es ging mir nicht so gut, weil die Medikamente, die ich bekomme, nicht richtig wirken wollen, aber bestimmt hast du mich nicht bemerkt, denn ich habe eine Sonnenbrille getragen. Ich hatte dort geparkt, du weißt ja, wie das ist, man rotzt sich aus, wenn einem gerade so viel Mist passiert, aber das ist eine andere Geschichte. Ich habe dich aus der Buchhandlung kommen sehen, wie ein Zombie hast du dagestanden auf dem Gehweg, als würdest du keine Luft kriegen. Ich habe dich beobachtet. Dann hast du die Straße überquert, ohne auf die Autos zu achten, die dich angehupt haben, man hat dich angeschrien, beschimpft und verflucht, und du, als wolltest du ein für alle Mal plattgemacht werden. Ich habe mein Handy gezückt und zu filmen angefangen. Rein instinktiv, weißt du? Ich war Reporterin bei der Sun. Jetzt arbeite ich für die Chronica News, aber das ist eine andere lange Geschichte. Ich wollte mein Handy schon ausstellen, als du dich auf die Bank gesetzt hast, und da kommen sie plötzlich von hinten, und ohne ein Wort, paff, schlägt dich dieser Haufen von Scheißern zusammen. Ich wie eine Wahnsinnige raus aus meinem Pick-up und die Kamera auf dich in dem Haufen Kakerlaken. Ich habe alles aufgenommen, sogar die Spanner, die sich zusammengerottet hatten. Alles drauf. Und du keinen Mucks, hast nichts gesagt. Keinen Ton, ist das zu fassen? Hast die Prügel über dich ergehen lassen und nicht mal piep gesagt. Hast eisern durchgehalten, wie ich’s mir im Traum nicht hätte vorstellen können. Hast nichts zu ihnen gesagt, nicht gekreischt, gar nichts. Als wärst du aus Stahl oder so, aus Stein. Aber du hast mich ordentlich ins Grübeln gebracht. Nun, ich wollte dich an dem Tag zum Arzt bringen, aber du hast mich zum Teufel geschickt, weißt du noch? Ich bin nach Hause gekommen und habe noch am selben Abend aufgeschrieben, was ich gesehen hatte, und das Video auf Youtube hochgeladen mit einem Link zu einer Freelance-Arbeit, die ich für die Chronica News mache. Ich habe schon viel über Immigranten geschrieben, über ihre Rechte und Pipapo, du weißt schon, um das Zuwanderungsgesetz zu unterstützen. Aber nichts Spektakuläres. Das heißt, mein Text ist nicht spektakulär, bloß die fundamentalen Fakten und ein paar Gedanken am Ende. Das völlig Neue, Unglaubliche ist das Video. Sieh selbst.«
Sie deutet auf den Bildschirm ihres Notebooks. Ich verstehe immer noch nicht, sehe zu ihr, sehe zum Bildschirm.
»Schau dir die Zahlen an«, sagt sie mit einem fokkin Glanz in den Augen: »1,7 Millionen Besucher in weniger als vier Tagen. Kannst du das fassen? Facebook, Twitter. Alles steht Kopf wegen meinem Video. Ein weltweiter Hashtag. Manche dafür, manche dagegen. Gestern lief eine Sondersendung auf CBS über die Einwanderungsreform und die Bürgerrechte, und als Hintergrundmaterial haben sie das Video benutzt. Gestern Nacht hat mich CNN kontaktiert, ich soll ihnen unter die Arme greifen, weil ich das Video aufgenommen habe. Sie wollen ein Exklusivinterview mit dir. Das Thema ist ein heißes Eisen, very hot, Kleiner. Alle wollen wissen, wer du bist und woher du kommst. Das könnte Millionen Menschen hier gewaltig helfen. Kannst du das fassen? Kannst du das begreifen? Verstehst du die Tragweite von dem, was ich sage? Du bist berühmt! Du bist ein Held! Darf ich dich interviewen?«
Ich verstehe nichts, rein gar nichts von dem, was die Scheißñora mir da sagt. Ich spüre bloß, wie der Wahnsinn in mir aufsteigt, schnelle fuchsteufelswild vom Hocker auf, als hätte man mir eine Chili in den Hintern gerammt. Die Wörter bleiben mir weg, stecken quer im Hals. Also kann ich sie nur mit zerschredderten Augen anschreien, selbst ganz zerfleddert, weil ich mir plötzlich benutzt vorkomme, verraten, für blöd verkauft von dem, was ich eben gesehen und gehört habe.
»Fuck you!«, schreie ich sie an.
Die Straße ist eine fokkin dunkle Schlängelschlange. Bloß belebt von den Kumuluswolken der Autoscheinwerfer, die den Wald am Stadtrand durchqueren. Die verdammten Lichter brennen sich meinen Augen ein wie bei den dämlichen Kaninchen, wie bei einer erstarrten Katze: ein Katzinchen, schwachsinnig mit der Blendlampe erjagt. Die Steine stechen, denn ich habe das fokkin Haus der Ñora ohne Schuhe verlassen. Der imposante Schmerz schleicht vom Fußgewölbe bis zum Rückgrat, dort sammeln sich die Steine wie ein Heuhaufen voller Nadeln über meinen Nerven. In der Ferne sehe ich die Stadt mit dem Terpentinschweiß ihrer Laternen, die die giftigen Umrisse der Häuser zeichnen, hier und da mit leuchtenden Bürofenstern. Ihre roten Scheinwerfer, die ich vorhin noch für irrlichternde Leuchttürme gehalten hatte, kommen mir jetzt wie finstere Ösen vor, ins nächtliche Firmament gestanzt. »Fuck you«, ich wettere rabiat in die Luft hinein wie der Regen in Hurrikannächten und gehe ihnen erbost entgegen, als wäre mein Pilgern eine ewige Wiederkehr. »Dämliche Scheißñora«, sage ich. »Alle wollen dich ausnutzen, dich fokkin Schwachhirn. Alle.« Und ich gehe weiter, strauchelnd, auf Windes Schneide.
[Wie damals, als ich auf der Schnellstraße in die Knie gegangen bin, nachdem ich den Río Bravo überquert hatte und sah, wie sich das einzige Auto hinter dem heißen Dunst entfernte, der vom Asphalt aufstieg, und ich ohne Kleider, denn die Hitze kochte nun aus meinem Innern heraus, aus allen Poren, die Kleider hatte ich nach und nach fallen lassen, entblößt blieb ich zurück, splitternackt, auf dem Rücken die Sonnenblasen, die schon größer waren als Agavenknospen, Scheißkakteenfeigen schon. Ohne ein Fünkchen Hoffnung bin ich vornübergekippt, um in den gekreuzigten Staub zu beißen, um bis zum Hals darin zu versinken und darauf zu warten, dass die Geier mein Fleisch fressen und die Sonne in der Gringo-Wüste meine Knochen bleicht. »Zum Teufel«, sagte ich mir, denn ich spürte die sengende Last des Todes auf meinen nackten Schultern, auf meinem verbrannten Alabasterleder. »Zum Teufel«, wiederholte ich, während ich am Straßenrand geröstet wurde, nachdem ich den Río Grande überquert hatte, eine Schildkröte ohne Panzer, die Arme ausgebreitet, stumm, immer weniger Luft einatmend, immer mehr Staub. »Zum Teu…«
Ich schlug die Augen auf und war auf einem Pick-up, wie in einer anderen Dimension, um mich herum Landsleute, die mich anglotzten.
»Ein Wunder, der Kerl lebt«, rief einer von ihnen, der mit einer kleinen Wasserflasche auf meine blau angelaufenen Lippen zielte, angeschwollen vor lauter Durst.
»Nein, Kleiner, nicht alles auf einmal wie ein Wahnsinniger«, und er zog sie mir aus den zitternden Händen, durchfahren von Verzweiflung. »Man kann sterben, wenn man das Wasser auf einen Sitz trinkt. Schlückchen für Schlückchen, nach und nach.«
»Mann, ein Wunder, dass du lebst«, sagte ein anderer.
»Das Fell wird dir höllisch wehtun, oioioi, aber du lebst, das ist das Werk Gottes und unserer lieben Jungfrau von Guadalupe, der Muttergottes.«
»Und unseres, die wir im rechten Moment vorbeigekommen sind, Kleiner«, sagte ein anderer.
»Wir haben dich da gesehen, alle viere ausgestreckt.«
»Wir haben angehalten und dich mit einem Stöckchen gepiekt, um zu sehen, ob du lebst, und ja, du hast eine Hand bewegt wie eine Schlange, da haben wir dich aufgeladen, auf unseren Pick-up.«
»Hui, was für ein fokkin Wunder, Kleiner. Wenn du wüsstest, wie viele Knochen hier verstreut liegen von Typen wie dir, die sich verirren und nie zurückkehren …«
»Du bist wie auferstanden. Ein Toter, dazu verdonnert, von neuem zu leben.«
»Ein wundes Wunder voller Disteln.«
Sie hatten mir als Unterhose ein Tuch umgewickelt, um meine Blöße zu bedecken. Die Haut brannte, als würde ich sie gar nicht tragen.
»Landsmann«, sagte mir der mit der Feldflasche, »wir können dich mitnehmen und vor einer Gringowache abladen, da behandeln sie deine Wunden, die Scheißkerle, aber dann schicken sie dich zurück in die Gruft, aus der du geklettert bist. Oder du hältst dich an uns, dann sehen wir schon, was wir mit dir machen, wir greifen einander unter die Arme. Du entscheidest, Kleiner: Entweder stirbst du hier mit uns, oder du stirbst drüben.«]
Seit ich das Haus der Reporterin verlassen habe, donnert nicht mehr die Sonne auf mich herab, sondern die Nacht und die Straße, die die Autos in beide Richtungen fortdekliniert. Ich fühle mich gedemütigt, von der Ñora verraten, durchwuchert von diesem Schmerz, zu wissen, dass dir jemand die Hand reicht und dann den Dolch hineinbohrt. Dieser Dolch ist weitaus schmerzlicher als ein fremder, er trifft tiefer, denn der Verrat kommt immer aus der Nähe, niemals aus der Ferne; der Verrat ist der schlimmste Höllenkreis, der sich wie der Strick um den Hals des Verurteilten schließt und sich erst wieder lockert, wenn die Zunge raushängt und es kein Leben mehr zum Ersticken gibt.
Die Straße nimmt ihren Lauf. Ich in Rage immer abwärts, die Steine zerfetzen mir die Schwielen. Ich denke an die Chica, an Aireen, die von der Arbeit kommt. »Bleibt mir noch Zeit, mich aus alldem herauszuspeltern und sie an der Bushaltestelle abzupassen?« Ich weiß es nicht, sollte wohl besser in die Sterne blicken, um festzustellen, ob Richtung und Zeit stimmen. Aber das Schicksal ist niemals am Himmel oben, zum Riesenfurz aufgeblasen.
Fuck, sage ich mir, als ich die Streife kommen sehe. Rasant fahren sie an mir vorbei, und ich blicke auch noch hin, direkt in ihre Augen.
Ich höre, wie die Reifen quietschen und sie zwanzig, dreißig Meter weiter anhalten.
»Puta madre, sie haben mich gesehen, und jetzt sacken sie mich ein.« Niemals rennen, hatte man mir gesagt, aber nichts zu wollen: Renn los, Mistkerl, oder du wachst im Loch auf.
Statt der Straße zu folgen, schlage ich mich seitwärts in die Bäume auf dem Hügel, eine fokkin Gazelle, die vor den Löwen flieht.
So leicht kriegt ihr mich nicht, ihr Bastarde.
Ihr müsst mich schon mit der Peitsche von den höchsten Bäumen schnalzen.
Ohne Schuhe versengen die Steine meine Sohlen, dann spüre ich das feuchte Gras und all seine Stacheln. Die Bäume stehen nun dichter, formieren sich wie schwarze Soldaten in einer restlos dunklen Nacht ohne Mond, ein Pärchen nach dem anderen.
Ich überquere einen kleinen Bach, der mir die Füße verschlammt. Hinter mir sehe ich das blau-rote Licht des Streifenwagens, das gegen die Bäume prallt, und zwei Taschenlampen, die in meine Richtung zielen, mich suchen.
Ich schlüpfe zu einem Felsvorsprung. Erklimme ihn seitlich. Mein Atem rattert. Schön langsam atmen. Bedächtig, als wäre nichts. Als würde ich bloß Luft schnappen. »Denk wieder an Aireen.«
Oben angekommen, steige ich auf der anderen Seite in eine Mulde hinab. Die Lichter der Streife verblassen, die Bäume scheinen eine Mauer aus Astwerk und Dickicht zwischen uns geschoben zu haben, als wäre ich ein Baum mehr, den es zu schützen gilt.
Weiter geht es auf einem Pfad, der wohl für Mountainbikes gedacht ist.
Ich wälze mehrere hundert reißende Meter um. Die Kiesel haben sich zwischen meine Zehen gebohrt wie kleine funkende Feuersteine. Auf einmal sehe ich am Himmel das rote Licht eines Helikopters, der von der Stadt herankommt und gleich darauf mit seinen Propellern und Turbinen über mich hinwegrattert, zum dunkelsten Teil des Waldes. Er hat einen Scheinwerfer, der alles beleuchtet, ein großes Lichtschlüsselloch, durch das die Nacht geöffnet wird.
»Scheißkerle, sogar mit Helikoptern wollen die mich fertigmachen.«
Ich renne den Pfad weiter, um so schnell wie möglich wegzukommen, rutsche einen steilen Abhang hinunter. Die Zweige peitschen mich überall.
Ich gleite und rolle weiter über Abhänge, bis ich in einen kleinen Graben mit Erde und Unkraut falle. Der Aufprall nimmt mir ein wenig die Luft, aber ich klettere mit stacheliger Hast hinaus, eine Krone aus blauen Flecken um den Schädel.
Ich rolle noch ein Stück abwärts und ducke dann nach links weg. Die Helikopterturbinen sind nun weder zu sehen noch zu hören. Ich stehe auf und laufe den Antipoden meiner Verfolger entgegen. Ich muss so schnell wie möglich die Stadt erreichen. Da kann man leichter verschwinden.
[Der Chief hatte mir einmal gesagt:
»Wenn hier eines fokkin Tages mal die Migra auftaucht, Bastard, schrumpf zur Ameise und versteck dich in einer Spalte der Buchhandlung. Da oben ist ein Dachboden, da kommt niemand hoch. Ich benutze ihn für allen möglichen Kram. Dahin verziehst du dich, rollst dich ein wie eine Schlange und gibst keinen fokkin Mucks von dir, denn wenn sie uns schnappen, sind wir beide dran. Kapiert, illegaler Bastard?«
Und da kam ihm der Einfall, dass ich auf die Buchhandlung aufpassen könnte, in der Nacht.]
Ich laufe an einem Strauß Bäume vorbei, und die Kreuzung taucht auf, an der es in die Stadt geht, bei der Esso-Tankstelle. Es muss früh am Morgen sein, denn der Tau ist dunstig geworden, fast elastisch, und füllt die Luft mit Spinnweben. Meine Füße sind voll Schlamm, Steinchen und Schrunden. Jetzt gehe ich wirklich in Fetzen.
In keiner Richtung sind Autos zu sehen. Feuerschnell überquere ich den Freeway und biege nach links, um die Tankstelle zu umgehen, wo mehrere Autos warten und ein offener 7-Eleven ist. Ich erreiche eine graffitierte Unterführung, nehme sie und bin am Stadtrand.
Die Laternen verteilen sich über ein kartografiertes Gitter.
Meine Füße brennen, aber was schert mich das. In der Ferne huschen zwei, drei nächtliche Mickerficker vorbei, Nachtfunken, die nur im Dunkeln aufleuchten. In der Stadt sind wir Straßenläufer unsichtbar, deshalb können wir untertauchen. Ein Mackerfacker im Trenchcoat kommt an mir vorbei, sieht und hört mich nicht, er hat es eilig, scheint’s, beschleunigt den Schritt und verschwindet hinter mir.
Zwei Fipse stemmen an einer Ecke die Füße gegen ein Absperrgitter. Sie rauchen Joints. Ich gehe an ihnen vorbei, und sie beäugen mich.
»He, Dreckspelle, schnipp-schnapp-schnäppchen.«
Ich ziehe weiter und sehe in der Ferne die Mall. Es kann nicht mehr weit sein, zwei Kilometer, und ich bin da. Ich biege auf die andere Seite und vermeide den Parkplatz, denn dort könnten mich Wachleute sehen und verfolgen.
Schließlich schlage ich mich rechts in die dritte Straße. Jetzt aber los, auf zum Stadtzentrum.
Die Wolkenkratzer sind wie Bleistifte, die den Himmel zeichnen. Ihre Fenster spiegeln mich im Vorbeigehen. Manche haben Springbrunnen, die ihr Wasser färben. Sie laufen fort und fort, ja, achtundvierzig Stunden am Tag laufen die Springbrunnen dieser eleganten Gebäude. Sie sind wie ihr Blut, das zu ihren Füßen sprudelt.
Heute ist die Nacht einsam, kaum Leute. Autos fahren vorbei, hasten hin und her, den Kreuzungen entgegen, und verlieren sich dort in alle Richtungen.
Meine Eingeweide knurren. Der Magen haut ordentlich auf den Putz. Ich wage mich in einen 7-Eleven, wie eine erschrockene Ratte. Der Scheißverkäufer mustert mich mit seinen Stielaugen, als wollte er mich bei der geringsten Provokation erstielen. Ich nehme eine Cola, eine Thunfischdose, Kekse und Chips, ziehe einen Zwanziger aus dem Geheimfach im Gürtel und bezahle: 13,30. Mir bleiben noch 46,70 Dollar. Ich stecke sie in den Gürtel und gehe. Ich habe keine Lust, mir erst ein Plätzchen zu suchen, öffne also die Cola und nehme lange Schlucke, mache Thunfischdose und Kekse auf, kekse mich mampfend voran und habe vor der nächsten Ampel auch schon den Thunfisch verdrückt. Die Chips kommen an die Reihe, während ich die Buchhandlung ansteure. Mit dem Rest Cola spüle ich mir den Mund aus, zertrete die Dose und stecke sie in die Tasche der Jogginghose, die mir die Ñora geliehen hat.
[Drüben in Mexiko hatte ich Dosen gesammelt und als Metallmüll verkauft. Fünf Pesos pro Kilo, da musste ganz schön was zusammenkommen, denn die fokkin Dosen wiegen nicht viel. Ein Sackvoll war das Mindeste, damit sie etwas auf die Waage brachten, man wenigstens dreißig Pesos rausschlagen konnte und an dem Tag über die Runden kam. Damals hatte ich das Geheimfach in meinen Gürtel genäht; mit einem Stück Leder und einem Messer machte ich ein Loch hinein und brachte einen Druckknopf an. Denn meine Habseligkeiten habe ich immer am Leib getragen. Ich bin mein Haus, nur ich. Und der Gürtel ist das Einzige, was ich niemals ablege, nicht einmal, als ich den Sonnenstich bekommen hatte.
»Ich halte mich an euch«, sagte ich dem Landsmann, als ich mich etwas erholt hatte. Und dann ging’s zum Malochen, zum Abwetzen der Hände an der fokkin Baumwolle. Zum Entkernen auf einer kleinen Farm, denn die großen hatten längst Maschinen dafür, mit über zehn Pferdestärken, hundert Menschen- oder tausend Hundestärken. Meine Farm war so winzig, dass sie weniger als zehn Jungs für die Arbeit brauchte. Sie gehörte irgendwelchen alten Kerlen von wer weiß woher, die zahllose Falten im Gesicht hatten. Sie sprachen Englisch, und ich verstand keine Silbe. Mit mir mussten sie in Zeichensprache reden.
»Ich bin Pepe«, sagte mir der Typ mit der Feldflasche aus dem Pick-up, der mich eingeladen hatte, mitzukommen, »aber nenn mich nie Pepito, sonst pepp ich dir eins und finito.«
Es war Essenszeit, und alle Landsmänner lachten laut auf. Die meisten hatten sich vorher nicht gekannt und sich zusammengetan, weil sie aus demselben Dorf stammten, Tetela. Und da gleiche Bräuche in der Ferne verbinden, waren sie eine Familie. Ja, sie soffen und aßen vom selben Teller, so gut wie.
»Die Arbeit ist nicht ganz so beschissen, denn sie bezahlen mit grünen Lappen. Aber pass auf, Landsmann«, fuhr Pepe fort, »du musst bis zum letzten Cent sparen, damit du etwas hast, wenn du nach drüben zurückkehrst oder es rüberschicken willst, denn hier ist alles teuer, und was du verdienst, hast du gleich ausgegeben. Bloß das Ersparte bringt dir was. Ich zum Beispiel schicke es meiner Ñora und meinen Ñoritos, für Haus und Essen, denn drüben haben wir gar nichts, nicht mal ein paar Fetzen Luft, um uns was zu bauen. Hier läuft’s besser, aber bloß nichts ausgeben. Und wenn man Gas tanken muss, damit einem das Leben nicht zusammenschrumpelt, fahren wir manchmal in die Stadt und blasen uns in irgendeiner Kneipe den Wanst mit Bier auf. Aber Vorsicht, wenn dich die fokkin Migra erwischt, dann landest du mit einem Tritt auf der Straße und am anderen Ufer. Wir kippen ein paar Rachenputzer runter, schädeln uns weg und kommen schön blau zurück, damit wir uns weiter Tag für Tag den Arsch abnudeln können. Bloß der Ramonete hat immer einen kleinen Flachmann dabei, damit er bei Laune bleibt in der Hitze, wenn wir die Baumwollpflanzen entjungfern, die stachelig wie Igel sind und dir die Finger verhunzen, da spürst du kaum mehr ein Streicheln, was Ramonete?«
Ein Typ, schon in die weißen Jahre gekommen, musterte mich über die Büsche hinweg, an denen wir herumpflückten, und zeigte uns bloß den Hebelarm, zog dann seine Feldflasche heraus und schmatzte kurz daran, wie bei einer Freundin, die man nicht in der ersten Hitze gleich aufbrauchen möchte.]
Ich erreiche das Gässchen der Buchhandlung und biege ab Richtung Hintertür. Sofort macht mich etwas stutzig. Man sieht Licht in der Türritze. Der verdammte Gedichtband ist nicht mehr da, mit dem ich die Tür verkeilt hatte. Lautlos versuche ich, sie aufzudrücken, vergebens. Sie sitzt fester als Teufelsdreck. »Fuck. Fuck. Fuck.«
Ich lege das Ohr an, höre aber nichts. Wieder drücke ich dagegen, aber sie rührt sich keinen Millimeter. Schöne Scheiße, denke ich. Etwas stimmt nicht.
Wie ein dunkler Schatten verlasse ich die Gasse und schleiche zur Ecke. Niemand da. Nicht ein Scheißauto parkt davor. Die Buchhandlung ist weiterhin gelb umbändert. Ich blicke durch das Schaufenster und sehe, dass hinten im Lagerraum Licht brennt. Anscheinend ist niemand drinnen, aber sie haben das mit der Tür gemerkt und vielleicht das Licht angelassen, um das Dunkel zu überwachen.
»Und was zum Teufel tu ich jetzt?«
Die Füße schmerzen gewaltig, als hätte ich mir die Hufe abgelatscht. Ich habe keine Lust, noch einmal die Rohre bis zum Dach der Book hinaufzuklettern.
Die Straße ist verlassen, kein Auto kommt vorbei. Die Ampeln sind weiterhin gelb gefärbt. Ich schlüpfe auf die andere Straßenseite und erreiche das Haus der Chica, gehe die Steinstufen hinauf und lasse mich in einer Nische vor dem Eingang fallen wie ein Hund, mit dem Rücken zur Wand. Jetzt ist mir wirklich kalt, also rolle ich mich zusammen. Sobald es Tag wird, mache ich die Fliege, denke ich.
Gegenüber sieht man die Buchhandlung. Immer noch mit Brettern vor den zerbrochenen Scheiben. Es lief doch so glatt, warum ist auf einmal alles zum Teufel? Das will nicht in meinen Kopf. Ich schaffe nicht den Sprung von Gut zu Schlecht.
»Wo ist alles zum Teufel gegangen?«
Ich war doch glücklich, wenn ich die Chica bloß vorbeigehen, den Bus nehmen, wieder aussteigen sah. Aus der Ferne, ohne sie erreichen zu können, wie man das Licht nicht erreichen kann, sosehr man ihm auch hinterherrennen mag. Ich war glücklich, ebenso beim Bücherräumen und manchmal wohl auch, wenn ich mir einbildete, ein paar der Books zu verstehen, wenn mein Blick über ihre Wörter schleifte, büschelweise zusammengedrängt. Ich war glücklich, wenn ich sie mühsam auf den Dachboden schleppte und sie am nächsten Morgen zurückbrachte, unversehrt, als wären sie nie geöffnet worden.
Ich war glücklich auf den Partys beim Chief, am Sonntag, eingeklemmt zwischen seinem Tequilabier und seinen Zoten.
[»Scheißschwuchtel von Tölpel, setz dich her, ich erzähl dir einen Witz. Weißt du, warum der Schwengel ein echter Gentleman ist? Das weißt du nicht, flattrige Schwuchtel? Nun, er steht auf, damit die Damen sich setzen, hiui, hiui, hiui. Proooost!«]
»Wo mag der Scheißchief jetzt sein?«
Ich schließe die Glupscher, lasse die Jalousien herab wie ein Leichentuch. Sobald es Tag wird, mache ich die Fliege. Ich weiß nicht, vielleicht sollte ich mich Richtung Norden aufmachen, nach Chicago oder New York, weit weg, einmal um die fokkin Welt, damit ich meinen Dämonen entkomme, all dem Pech, das mich wer weiß wohin schleift. Bis zum Nordpol fliehen, vielleicht. Obwohl ich einmal gelesen habe, man kann bis zur Hölle gehen, immer schleift man seinen Dreck an den Füßen mit, am Schwanz, im Gehirn, in der Brust.