Poirot ging den Hügel hinauf. Plötzlich fühlte er die Schmerzen an seinen Füßen nicht mehr. Ihm war etwas aufgegangen. Ihm war aufgegangen, wie die Ereignisse zusammenpassten, bei denen er immer das Gefühl gehabt hatte, ja gewusst hatte, dass sie zusammengehörten, und sich nur nicht hatte vorstellen können, wie. Er war sich jetzt einer Gefahr bewusst – einer Gefahr, die jetzt jeden Augenblick für jemanden zur Tragödie führen konnte, wenn man nichts dagegen unternahm.

Elspeth McKay kam ihm in der Tür entgegen. »Sie sehen völlig fertig aus«, sagte sie. »Kommen Sie und setzen Sie sich.«

»Ist Ihr Bruder da?«

»Nein. Er ist auf dem Revier. Ich glaube, es ist was passiert.«

»Es ist etwas passiert?«, er war verblüfft. »So schnell? Unmöglich.«

»Wie?«, sagte Elspeth. »Was haben Sie gesagt?«

»Nichts. Nichts. Sie meinen, es ist jemandem etwas passiert?«

»Ja, aber ich weiß nicht genau, was. Jedenfalls hat Tim Raglan angerufen und ihn gebeten zu kommen. Ich mache Ihnen eine Tasse Tee, ja?«

»Nein«, sagte Poirot, »vielen Dank, aber ich glaube – ich

Elspeth McKay sah hinunter auf seine Schuhe. »Nein«, sagte sie, »es sind wirklich nicht die richtigen. In Lackleder schwellen die Füße leicht. Übrigens ist hier ein Brief für Sie. Ausländische Marken drauf. Ich hole ihn.«

Sie kam in einer Minute zurück und gab ihm den Brief.

»Wenn Sie den Umschlag nicht mehr brauchen, würde ich ihn gern für einen meiner Neffen haben – er sammelt Marken.«

»Natürlich.« Poirot öffnete den Brief und gab ihr den Umschlag. Sie dankte ihm und ging wieder zurück ins Haus. Poirot faltete den Bogen auseinander und las.

Mr Gobys Auslandsdienst arbeitete genauso gut wie der fürs Inland. Er scheute keine Ausgaben und erzielte schnelle Ergebnisse.

Gewiss, es waren keine welterschütternden Ergebnisse – aber damit hatte Poirot auch nicht gerechnet.

Olga Seminoff war nicht in ihre Heimatstadt zurückgekehrt. Ihre Familie lebte nicht mehr. Sie hatte eine Freundin gehabt, eine ältere Frau, mit der sie sporadisch korrespondiert und der sie über ihr Leben in England berichtet hatte. Sie hatte sich mit ihrer Arbeitgeberin gut verstanden, die gelegentlich schwierig, aber auch großzügig gewesen war.

Die letzten Briefe von Olga waren vor etwa anderthalb Jahren gekommen. Darin hatte sie einen jungen Mann erwähnt. Sie hatte angedeutet, dass sie an Heirat dächten, aber der junge Mann, dessen Namen sie nicht erwähnte, stehe

Sie hatte sich keine Gedanken gemacht.

Das passte, dachte Poirot. Lesley hatte von Heirat gesprochen, es aber vielleicht nicht ernst gemeint. Mrs Levin-Smith war als ›großzügig‹ bezeichnet worden. Lesley hatte von jemandem Geld bekommen, von Olga vielleicht (Geld, das ihr ursprünglich von ihrer Arbeitgeberin gegeben worden war), damit er ein Dokument zu ihren Gunsten fälschte.

Elspeth McKay kam zurück auf die Veranda. Poirot fragte sie, was sie von seiner Vermutung halte, dass Lesley und Olga Beziehungen hatten.

Sie überlegte einen Augenblick. Dann sprach das Orakel.

»Wenn’s stimmt, haben sie sich aber sehr in Acht genommen. Ich habe nie irgendein Gerücht über die beiden gehört. Üblicherweise gibt’s in einem Dorf wie unserem sofort Gerede.«

»Ferrier hatte ein Verhältnis mit einer verheirateten Frau. Er kann ja das Mädchen gewarnt haben, ihrer Arbeitgeberin nichts von ihm zu erzählen.«

»Wahrscheinlich. Mrs Levin-Smith hätte wahrscheinlich gewusst, dass Lesley Ferrier Dreck am Stecken hatte, und hätte das Mädchen vielleicht vor ihm gewarnt.«

Poirot faltete den Brief zusammen und steckte ihn in die Tasche.

»Ich würde Ihnen so gern eine Kanne Tee aufbrühen.«

»Ich habe keine Ahnung. Sie haben nicht gesagt, warum sie ihn gerufen haben.«

Poirot ging zurück zu seiner Pension. Es waren nur ein paar hundert Meter. Als er auf die Haustür zuging, wurde diese von seiner Pensionswirtin geöffnet, einer freundlichen Frau von dreißig Jahren.

»Es ist eine Dame für Sie da«, sagte sie. »Sie wartet schon eine ganze Weile. Ich hab ihr gesagt, dass ich nicht genau weiß, wo Sie hingegangen sind oder wann Sie wieder zurückkommen, aber sie hat gesagt, sie will warten.« Sie fügte hinzu: »Es ist Mrs Drake. Sie ist völlig aufgelöst. Sie ist doch sonst immer so ruhig, aber ich glaube, sie hat einen Schock gehabt. Sie ist im Wohnzimmer. Soll ich Ihnen Tee bringen?«

»Nein«, sagte Poirot, »ich glaube, lieber nicht. Ich will erst mal hören, was sie zu sagen hat.«

Er öffnete die Tür und ging ins Wohnzimmer. Rowena Drake stand am Fenster. Es war nicht das Fenster zum Vorgarten, und so hatte sie sein Kommen nicht bemerkt. Sie drehte sich jäh um, als sie das Geräusch der Tür hörte.

»Monsieur Poirot. Endlich! Es hat so lange gedauert.«

»Es tut mir leid, Madame. Ich war im Steinbruchpark und außerdem bei meiner Freundin Mrs Oliver. Und dann habe ich mich mit zwei Jungen unterhalten. Nicholas und Desmond.«

»Nicholas und Desmond? Ja, die kenne ich. Obwohl – oh! Man denkt so viel.«

»Sie sind erregt«, sagte Poirot leise.

Das war etwas, was er nie erwartet hätte. Rowena Drake

»Sie haben’s schon gehört, nicht wahr?«, fragte sie. »Aber vielleicht auch nicht.«

»Was soll ich denn gehört haben?«

»Etwas Schreckliches. Er ist – er ist tot. Jemand hat ihn ermordet.«

»Wer ist tot, Madame?«

»Dann haben Sie es wirklich nicht gehört. Und er ist doch auch nur ein Kind, und ich dachte – oh, wie dumm bin ich gewesen. Ich hätte es Ihnen sagen müssen, als Sie mich gefragt haben. Es ist mir so grässlich … Ich fühle mich so schuldig, weil ich gedacht habe, ich wüsste es am besten, weil ich gedacht habe … aber ich habe es gut gemeint, Monsieur Poirot, wirklich.«

»Setzen Sie sich, Madame, setzen Sie sich. Beruhigen Sie sich und erzählen Sie mir. Ein Kind ist tot – noch ein Kind?«

»Ihr Bruder«, sagte Mrs Drake. »Leopold.«

»Leopold Reynolds?«

»Ja. Sie haben seine Leiche auf einem Feldweg gefunden. Er muss aus der Schule gekommen sein und einen Umweg gemacht haben, um am Bach in der Nähe zu spielen. Jemand hat ihn im Bach festgehalten – seinen Kopf unter Wasser gehalten.«

»Er ist also auf dieselbe Art umgekommen wie seine Schwester Joyce?«

»Ja, ja. Mir ist klar, das muss ein … ein Geistesgestörter getan haben. Und man weiß nicht, wer … Das ist so entsetzlich. Man hat nicht die geringste Ahnung. Und ich habe gedacht … Ich glaube, ja, ich glaube, das war sehr schlecht von mir.«

»Sie müssen mir alles erzählen, Madame.«

»Was haben Sie denn gesehen?«

»Das hätte ich Ihnen gleich erzählen müssen. Ich habe gesehen, wie sich die Tür zur Bibliothek öffnete – sehr vorsichtig öffnete – und dann kam er heraus. Das heißt, er kam nicht richtig heraus. Er blieb in der Tür stehen, und dann zog er die Tür schnell wieder zu und ging zurück ins Zimmer.«

»Und wer war das?«

»Leopold. Leopold, das Kind, das jetzt ermordet worden ist. Und ich dachte … Oh, was für ein Irrtum, was für ein schrecklicher Irrtum. Wenn ich’s Ihnen gleich gesagt hätte, dann hätten Sie vielleicht herausbekommen, was dahintersteckte.«

»Und Sie dachten?«, fragte Poirot. »Und Sie dachten, dass Leopold seine Schwester umgebracht hatte? Dachten Sie das?«

»Ja. Nicht in dem Augenblick natürlich, denn da wusste ich ja noch nicht, dass sie tot war. Aber er hatte einen merkwürdigen Gesichtsausdruck. Er war schon immer ein merkwürdiges Kind. Auf eine Art hatte man ein bisschen Angst vor ihm, weil man das Gefühl hatte, dass nicht alles stimmt bei ihm. Sehr klug und einen hohen Intelligenzquotienten, aber trotzdem nicht ganz normal.

Und ich dachte: Warum kommt Leopold denn dort heraus und ist nicht beim Feuerdrachen? Und ich dachte: Was

«Da dachten Sie, dass Leopold das getan hatte.«

»Ja. Ja, das habe ich wirklich gedacht. Ich dachte, das erklärt auch, warum er so ausgesehen hat. Ich dachte, ich wüsste es. Ich denke immer – mein ganzes Leben lang denke ich schon viel zu oft, dass ich Bescheid weiß, dass ich immer recht habe. Und dabei kann ich mich völlig irren. Denn Sie sehen ja, wenn er jetzt auch umgebracht worden ist, war ja alles ganz anders. Er muss in die Bibliothek gegangen sein, und er muss sie dort gefunden haben – tot –, und er hat einen wahnsinnigen Schreck bekommen und hat Angst gehabt. Und deshalb wollte er aus dem Zimmer hinaus, ohne gesehen zu werden, und ich nehme an, er sah hoch und bemerkte mich, und deshalb ist er ins Zimmer zurückgegangen und hat mit dem Herauskommen gewartet, bis die Diele leer war. Aber nicht, weil er sie umgebracht hatte. Nein. Nur vor Schreck, weil er sie gefunden hatte.«

»Und trotzdem haben Sie nichts gesagt? Sie haben nicht erwähnt, wen Sie gesehen hatten, auch nachdem das tote Kind gefunden worden war?«

»Nein. Ich … ich konnte es nicht. Er ist … Sehen Sie, er ist noch so klein … war noch so klein, muss man jetzt wohl sagen. Zehn. Ich hatte das Gefühl, dass er noch gar nicht wissen konnte, was er getan hatte. Er muss moralisch nicht verantwortlich gewesen sein. Er war immer schon ziemlich seltsam, und ich dachte, er könne geheilt werden. Ich wollte

Was für ein trauriger Ausspruch, dachte Poirot, einer der traurigsten auf der Welt. Mrs Drake schien seine Gedanken zu lesen.

»Ja«, sagte sie, »›ich habe es zu seinem Besten getan‹, ›ich habe es gut gemeint‹. Man denkt immer, man weiß, was das Beste für andere Leute ist, aber man weiß es nicht. Denn der Grund für sein merkwürdiges Aussehen muss entweder gewesen sein, dass er gesehen hatte, wer der Mörder war, oder dass er etwas bemerkt hatte, aus dem man auf den Mörder schließen konnte. Jedenfalls etwas, was dem Mörder das Gefühl gab, nicht mehr sicher zu sein. Und also … also hat er gewartet, bis er den Jungen mal allein erwischen konnte, und hat ihn dann im Bach ertränkt, damit er nichts mehr sagen konnte. Wenn ich doch nur was gesagt hätte, wenn ich es doch nur Ihnen oder der Polizei erzählt hätte oder irgendjemandem, aber ich dachte, ich wüsste es besser.«

»Erst heute«, sagte Poirot, nachdem er einen Augenblick schweigend dagesessen und Mrs Drake betrachtet hatte, die versuchte, ihr Schluchzen zu unterdrücken, »erst heute hat man mir erzählt, dass Leopold in letzter Zeit sehr gut bei Kasse war. Jemand muss ihm Schweigegeld gegeben haben.«

»Aber wer … wer?«

»Das werden wir bald wissen«, sagte Poirot. »Es dauert nicht mehr lange.«