«Haben Sie schon gehört, was im Wald am Steinbruch los ist?«, sagte Mrs Cartwright und legte ein Paket Haferflocken und ein Päckchen Waschpulver in ihren Korb.

»Im Wald am Steinbruch?«, sagte Elspeth McKay, mit der sie gesprochen hatte. »Nein, ich hab nichts weiter gehört.« Sie nahm ein Päckchen Reis aus dem Regal. Beide Frauen machten gerade ihre Einkäufe in dem neu eröffneten Supermarkt.

»Angeblich sollen die Bäume dort gefährlich sein. Zwei Männer vom Forstamt sind heute Morgen angekommen. Sie arbeiten am Hang, wo es ganz steil runtergeht und ein Baum ganz schief steht. Kann schon sein, dass da mal ein Baum umfallen kann. In einen hat ja mal der Blitz eingeschlagen, aber der stand, glaube ich, weiter drüben. Na, jedenfalls graben sie an den Wurzeln herum, und ein bisschen weiter unten auch. Schade. Sie werden eine furchtbare Verwüstung anrichten.«

»Ach, ich weiß nicht«, sagte Elspeth McKay. »Sie werden schon wissen, was sie tun. Irgendjemand wird sie ja gerufen haben.«

»Zwei Polizisten sind auch da und passen auf, dass niemand zu nah rankommt. Angeblich wollen sie erst nachprüfen, welches die kranken Bäume sind.«

»Ach so«, sagte Elspeth McKay.

Ariadne Oliver entfaltete ein Telegramm, das sie gerade an der Tür entgegengenommen hatte.

BITTE MRS BUTLER UND MIRANDA SOFORT IN DIE WOHNUNG BRINGEN. KEINE ZEIT VERLIEREN. ARZT MUSS UNBEDINGT WEGEN OPERATION KONSULTIERT WERDEN.

Sie ging in die Küche, wo Judith Butler gerade Quittengelee kochte.

»Judy«, sagte Mrs Oliver, »geh und pack ein paar Sachen ein. Ich fahre zurück nach London, und du kommst mit und Miranda auch.«

»Das ist sehr nett von dir, Ariadne, aber ich habe zu tun. Und du brauchst doch auch nicht gerade heute loszustürzen, nicht?«

»Doch, ich muss, ich habe gerade Bescheid bekommen«, sagte Mrs Oliver.

»Von wem? Deiner Haushälterin?«

»Nein«, sagte Mrs Oliver. »Von jemand anders. Von einem der wenigen Leute, denen ich gehorche. Komm, beeil dich.«

»Ich möchte nicht von zu Hause weg. Im Augenblick nicht.«

»Du musst«, sagte Mrs Oliver. »Der Wagen steht bereit, ich hab ihn vor die Tür gefahren. Wir können sofort fahren.«

»Miranda möchte ich aber nicht mitnehmen. Ich könnte

»Miranda kommt auch mit«, unterbrach Mrs Oliver mit Bestimmtheit. »Mach keine Schwierigkeiten, Judy. Die Sache ist ernst. Ich verstehe auch nicht, wie du daran denken kannst, sie bei den Reynoldsens zu lassen. Zwei ihrer Kinder sind immerhin ermordet worden.«

»Ja, ja, das stimmt. Du meinst, in dem Haus ist etwas nicht ganz richtig. Ich meine, dass da jemand ist … Oh, was meine ich eigentlich?«

»Wir reden zu viel«, sagte Mrs Oliver. »Übrigens«, fügte sie hinzu, »wenn noch jemand ermordet werden sollte, dann ist es wahrscheinlich Ann Reynolds.«

»Was ist bloß los mit dieser Familie? Warum sollen denn alle ermordet werden, einer nach dem andern? O Ariadne, es ist zum Angsthaben!«

»Ja«, sagte Mrs Oliver, »aber es gibt Zeiten, in denen es gut ist, wenn man Angst hat. Ich habe gerade ein Telegramm bekommen, und ich richte mich nach den Anweisungen, die darin stehen.«

»So? Ich habe das Telefon gar nicht gehört.«

»Es ist gebracht worden.«

Sie zögerte einen Augenblick, dann reichte sie ihrer Freundin das Telegramm.

»Was heißt das? Operation?«

»Mandeln wahrscheinlich«, sagte Mrs Oliver. »Miranda hatte letzte Woche doch eine Halsentzündung, oder? Na, was liegt also näher, als dass sie in London einen Halsspezialisten aufsucht?«

»Bist du denn ganz verrückt, Ariadne?«

»Wahrscheinlich«, sagte Mrs Oliver, »mit Schaum vor dem Mund. Komm. Miranda wird in London auf ihre Kosten kom

»Ich habe Angst«, sagte Judith.

Ariadne Oliver sah ihre Freundin an. Sie zitterte. Sie sah mehr denn je wie Undine aus, dachte Mrs Oliver. Nicht ganz von dieser Welt.

»Nun kommt schon«, sagte Mrs Oliver. »Ich habe Hercule Poirot versprochen, euch in meine Wohnung zu bringen, wenn er mir’s sagt. Na ja, und er hat es mir jetzt gesagt.«

»Was geht hier vor?«, sagte Judith. »Ich kann gar nicht verstehen, warum ich überhaupt je hierhergezogen bin.«

»Ich habe mich das manchmal auch schon gefragt«, sagte Mrs Oliver. Sie ging in den Garten und rief: »Miranda, wir fahren nach London.«

Miranda kam ihnen langsam entgegen.

»Nach London?«

»Ariadne fährt uns hin«, sagte ihre Mutter. »Wir gehen ins Theater. Mrs Oliver meint, sie kann vielleicht Karten fürs Ballett bekommen. Würdest du gern ins Ballett gehen?«

»Au ja, gern«, sagte Miranda. Ihre Augen leuchteten. »Aber erst muss ich einem Freund auf Wiedersehn sagen.«

»Wir fahren aber gleich.«

»Oh, so lange dauert das nicht, aber ich muss ihm alles erklären. Ich habe ihm was versprochen.«

Sie rannte den Weg hinunter und durch die Gartenpforte hinaus.

»Wer sind Mirandas Freunde?«, fragte Mrs Oliver neugierig.

»Das weiß ich nie richtig«, sagte Judith. »Sie erzählt einem ja nichts. Manchmal denke ich, dass die einzigen Lebewesen, die sie wirklich als Freunde empfindet, die Vögel

»Du musst mitkommen«, sagte Mrs Oliver. Sie war unnachgiebig.

Judith kam eben mit zwei Koffern wieder die Treppe herunter, als Miranda etwas atemlos durch die Seitentür gerannt kam.

»Essen wir nicht erst Mittag?«, fragte sie.

Trotz ihrer elfenhaften Erscheinung war sie ein gesundes Kind, das gern aß.

»Wir kehren unterwegs ein«, sagte Mrs Oliver. »Wir fahren zum ›Schwarzen Buben‹ in Haversham. Das kommt gerade hin. Wir brauchen eine Dreiviertelstunde von hier, und es gibt dort sehr gutes Essen. Komm jetzt, Miranda, es geht los.«

»Dann hab ich wohl keine Zeit mehr, Cathie zu sagen, dass ich morgen nicht mit ihr ins Kino gehen kann. Oder vielleicht kann ich sie anrufen.«

»Gut, dann beeil dich«, sagte ihre Mutter.

Miranda rannte ins Wohnzimmer, wo das Telefon stand. Judith und Mrs Oliver luden die Koffer in den Wagen. Miranda kam wieder aus dem Wohnzimmer.

»Ich habe eine Nachricht hinterlassen«, sagte sie atemlos. »Das ist erledigt.«

»Das werden wir schon erfahren, nehme ich an«, sagte Mrs Oliver. »Ich weiß nicht, ob ich verrückt bin oder er.«

»Er? Wer?«

»Hercule Poirot«, sagte Mrs Oliver.

Hercule Poirot saß in London mit vier anderen Männern in einem Zimmer. Einer war Inspektor Timothy Raglan, der zweite Superintendent Spence, der dritte Alfred Richmond, der Chief Constable der Grafschaft, und der vierte ein Mann von der Staatsanwaltschaft. Die vier Männer sahen Hercule Poirot an.

»Sie scheinen ganz sicher, Monsieur Poirot?«

»Ich bin ganz sicher«, sagte Hercule Poirot. »Wenn sich gewisse Vorgänge so zu ordnen beginnen, dass einem klar wird, so und so muss es gewesen sein, dann sucht man nur noch nach Gründen, warum es nicht so und so gewesen sein kann. Wenn man diese Gründe nicht findet, dann wird man in seiner Meinung bestärkt.«

»Die Motive scheinen etwas kompliziert, wenn ich das sagen darf.«

»Nein«, sagte Poirot, »nicht wirklich kompliziert. Sondern so einfach, dass es sehr schwer ist, sie klar zu erkennen.«

Der Herr von der Staatsanwaltschaft sah skeptisch aus.

»Ein ganz eindeutiges Beweisstück wird uns ja in Kürze vorliegen«, sagte Inspektor Raglan. »Natürlich, wenn wir uns in dieser Hinsicht geirrt haben …«

»Bim, bam, bum, keine Katze liegt im Brunn’?«, sagte Hercule Poirot. »Meinen Sie das?«

»Alle Tatsachen deuteten von Anfang an in diese Richtung. Wenn ein Mädchen verschwindet, gibt es dafür nicht viele Gründe. Der erste ist, sie ist mit einem Mann durchgebrannt. Der zweite ist, sie ist tot. Alles andere ist weit hergeholt und kommt so gut wie nie vor.«

»Gibt es noch andere Punkte, die Sie uns vortragen können, Monsieur Poirot?«

»Ja. Ich habe mich mit einer bekannten Immobilienfirma in Verbindung gesetzt. Sie hat sich auf Grundstücke auf den Westindischen Inseln, an der Ägäis, der Adria, am Mittelmeer und so weiter spezialisiert. Ihre Klienten sind im Allgemeinen wohlhabend. Hier ist ein kürzlich getätigter Kauf, der Sie interessieren wird.«

Er reichte ein zusammengefaltetes Papier hinüber.

»Und Sie glauben, das hat damit zu tun?«

»Ich bin ganz sicher.«

»Ich dachte, der Verkauf von Inseln ist von der dortigen Regierung verboten worden?«

»Geld findet immer eine Möglichkeit.«

»Und sonst gibt es nichts, was Sie uns noch dazu sagen können?«

»Es ist möglich, dass ich innerhalb von vierundzwanzig Stunden etwas für Sie habe, das die Sache zum Abschluss bringt.«

»Und was ist das?«

»Ein Augenzeuge.«

»Sie meinen …?«

»Ein Augenzeuge eines Verbrechens.«

Der Herr von der Staatsanwaltschaft sah Poirot immer ungläubiger an.

»Auf dem Weg nach London, wie ich inständigst hoffe.«

»Sie klingen … beunruhigt.«

»Das stimmt. Ich habe getan, was ich tun konnte, um Vorkehrungen zu treffen, aber ich muss gestehen, ich habe Angst. Ja, ich habe Angst, trotz aller Vorsichtsmaßnahmen. Denn sehen Sie, wir haben es hier mit – wie soll ich es ausdrücken? – Skrupellosigkeit zu tun, mit schneller Reaktion, mit einer Gier, die das Maß des menschlich zu Erwartenden sprengt, und vielleicht mit einem Anflug einer, sagen wir einmal, Störung, die nicht von Anfang an da war, sondern kultiviert worden ist.«

»Wir müssen noch ein paar andere Meinungen dazu hören«, sagte der Herr von der Staatsanwaltschaft. »Wir dürfen nichts übers Knie brechen. Natürlich hängt eine Menge von der – hm – Forstverwaltung und ihrer Arbeit ab. Wenn da das Ergebnis positiv ist, dann können wir weitermachen, aber wenn es negativ ist, müssen wir neu überlegen.«

Hercule Poirot erhob sich.

»Ich darf mich verabschieden. Ich habe Ihnen alles erzählt, was ich weiß, und alles, was ich fürchte und für möglich halte. Ich bleibe mit Ihnen in Verbindung.«

Er schüttelte allen mit ausländischer Genauigkeit die Hand und verließ den Raum.

»Der Mann ist ein Hochstapler«, sagte der Herr von der Staatsanwaltschaft. »Glauben Sie, dass er einen kleinen Knall hat? Jedenfalls ist er ganz schön alt. Ich weiß nicht, ob man sich auf die Geisteskräfte eines Mannes in diesem Alter noch verlassen kann.«

»Ich glaube, Sie können sich auf ihn verlassen«, sagte der Chief Constable. »Das ist zumindest mein Eindruck. Spence, ich kenne Sie nun schon eine ganze Reihe von Jahren. Er ist

»Nein«, sagte Superintendent Spence. »Was meinen Sie, Raglan?«

»Ich habe ihn erst vor kurzem kennengelernt, Sir. Zuerst dachte ich – na ja, so wie er denkt und sich benimmt –, dass er ein bisschen verdreht ist. Aber ich bin bekehrt. Ich glaube, es wird sich erweisen, dass er recht hat.«