In Haus Pinienhügel schlug die Uhr sechs. Hercule Poirot steckte ein Stück Wurst in den Mund und spülte es mit einem Schluck Tee hinunter. Der Tee war stark und für Poirot ganz besonders ungenießbar. Die Wurst dagegen war köstlich. Er warf einen anerkennenden Blick über den Tisch zu Mrs McKay, die die große braune Teekanne gerade abstellte.

Elspeth McKay war ihrem Bruder, Superintendent Spence, so unähnlich, wie man nur sein konnte. Ihr scharfes, schmales Gesicht sah mit kluger Skepsis in die Welt. Sie war dünn wie ein Bindfaden, und doch gab es gewisse Ähnlichkeiten zwischen ihnen. Hauptsächlich die Augen und den markanten Unterkiefer. Auf beide, dachte Poirot, war, was Urteil und Vernunft betraf, Verlass. Spence sprach langsam und sorgfältig, nachdem er nachgedacht und gut überlegt hatte. Mrs McKay packte gleich zu, schnell und scharf.

»Es hängt sehr viel von dem Charakter des Kindes ab«, sagte Poirot. »Joyce Reynolds. Das bereitet mir das größte Kopfzerbrechen.« Er sah Spence fragend an.

»Ich kann Ihnen da nichts sagen«, antwortete Spence. »Ich wohne hier noch nicht lange genug. Fragen Sie lieber Elspeth.«

Poirot sah mit fragend erhobenen Augenbrauen über den Tisch. Mrs McKay war, wie immer, sofort mit ihrer Antwort da.

»Kein Mädchen, dem man glauben konnte?«

Elspeth schüttelte den Kopf mit Entschiedenheit.

»Nein, wirklich nicht. Erzählte tolle Geschichten, aber sie erzählte sie so gut, das muss man sagen. Aber ich hätte ihr nie geglaubt.«

»Und sie erzählte diese Geschichten nur, um beachtet zu werden?«

»Ja, richtig. Sie spielte sich gern in den Vordergrund. Höchstwahrscheinlich hat sie gelogen. Aber ich will fair sein. Sie kann die Wahrheit gesagt haben. Sie kann etwas gesehen haben. Vielleicht nicht das, was sie behauptet hat, aber etwas

»Und als Folge davon ist sie umgebracht worden«, sagte Superintendent Spence. »Das darfst du nicht vergessen, Elspeth, sie ist ermordet worden.«

»Stimmt«, sagte Mrs McKay. »Ich sage ja, vielleicht tu ich ihr unrecht. Das täte mir leid. Aber frage alle, die sie gekannt haben, und sie werden dir sagen, dass Lügen für sie etwas ganz Natürliches war. Bedenke, sie war bei einem Kinderfest und war aufgeregt. Sie wollte Eindruck machen.«

»Wer könnte denn das gewesen sein, der da vor ihren Augen ermordet worden ist?«, fragte Poirot.

»Niemand«, sagte Mrs McKay mit Nachdruck.

»Aber es muss doch hier, sagen wir mal, während der letzten drei Jahre Todesfälle gegeben haben.«

»Oh, natürlich«, sagte Spence. »Das Übliche – alte Leute oder Kranke, was man so erwartet – oder vielleicht auch ein Unfall mit Fahrerflucht.«

»Keine ungewöhnlichen oder unerwarteten Todesfälle?«

»Tja …«, Elspeth zögerte. »Ich meine …«

»Ich habe hier ein paar Namen notiert.« Er schob den Zettel über den Tisch Poirot zu. »Ich wollte Ihnen die Mühe ersparen und habe ein bisschen rumgefragt.«

»Sind das mögliche Opfer?«

»So weit würde ich nicht gehen.«

Poirot las die Namen laut vor.

»Mrs Levin-Smith. Charlotte Benfield. Janet White. Lesley Ferrier …« Er brach ab, sah auf und wiederholte den ersten Namen. Mrs Levin-Smith.

»Möglich. Ja, könnte vielleicht sein«, sagte Mrs McKay und fügte ein Wort hinzu, das wie »Oper« klang. »Eines Abends ging sie weg, einfach weg, und man hat nie mehr was von ihr gehört.«

»Mrs Levin-Smith?«, fragte Poirot verwirrt.

»Nein, nein. Das Oper-Mädchen. Sie hätte ohne weiteres etwas in die Medizin tun können. Und sie hat doch das ganze Geld geerbt, nicht? Oder sie dachte das jedenfalls damals. Und nie mehr hat man etwas von ihr gehört. Diese Ausländerinnen sind doch alle gleich.«

Plötzlich ging Poirot die Bedeutung von »Oper« auf.

»Ein Au-pair-Mädchen!«, sagte er.

»Richtig. Sie wohnte bei der alten Dame, und ein, zwei Wochen, nachdem die alte Dame gestorben war, verschwand das Mädchen einfach.«

»Sicherlich mit irgendeinem Mann, würde ich denken«, sagte Spence.

»Wenn das stimmt, dann wusste jedenfalls niemand davon«, sagte Elspeth. »Und im Allgemeinen wird hier viel geredet. Eigentlich weiß jeder immer, wer gerade mit wem geht.«

»Ist jemand auf den Gedanken gekommen, es könnte mit

»Nein. Sie war herzkrank und ständig in ärztlicher Behandlung.«

»Aber Sie haben ihren Namen an die Spitze dieser Liste gesetzt, mein Freund?«

»Nun ja, sie war eine sehr reiche Frau. Ihr Tod kam nicht unerwartet, aber plötzlich. Ich könnte mir denken, dass Dr. Ferguson überrascht war, wenn auch nur ein wenig. Ich glaube, er hatte erwartet, dass sie noch länger lebt. Sie gehörte nicht zu den Leuten, die die Anordnungen des Arztes befolgen. Ihr war gesagt worden, sie solle sich nicht überanstrengen, aber sie tat natürlich, was sie wollte. Sie war eine passionierte Gärtnerin, und das ist für Herzkranke ja nicht das Beste.«

Elspeth McKay fuhr fort.

»Als sie krank wurde, ist sie hierhergezogen. Vorher lebte sie im Ausland. Sie kam her, um in der Nähe von ihrem Neffen und ihrer Nichte, Mr und Mrs Drake, zu sein, und kaufte das Haus am Steinbruch. Das ist eine viktorianische Villa, zu der ein alter Steinbruch gehört. Der hatte es ihr vor allem angetan, und sie hat Tausende ausgegeben, um den Steinbruch in einen hängenden Garten, oder wie man das nennt, zu verwandeln. Sie ließ sich dazu einen Gartenarchitekten von Wisley kommen. Und der Garten ist wirklich sehenswert.«

»Ich werde ihn mir ansehen«, sagte Poirot. »Wer weiß – vielleicht bringt er mich auf Ideen.«

»Ja, ich würde an Ihrer Stelle auch gehen. Er ist wirklich ein Erlebnis.«

»Und sie war reich?«, sagte Poirot.

»Sie war die Witwe eines Reeders. Geld wie Heu.«

»Eine gerichtliche Untersuchung wurde nie in Erwägung gezogen?«

Spence schüttelte den Kopf.

»Das ist natürlich schon öfter passiert«, sagte Poirot. »Einer alten Dame wird gesagt, sie soll vorsichtig sein, nicht zu schnell Treppen steigen, nicht zu intensiv im Garten arbeiten und so weiter. Aber wenn sie eine energische Frau ist, die ihr ganzes Leben lang begeistert im Garten gearbeitet und überhaupt immer getan hat, was sie wollte, dann zollt sie diesen ärztlichen Empfehlungen nicht immer den nötigen Respekt.«

»Sehr richtig. Mrs Levin-Smith hat aus dem Steinbruch wirklich etwas Wunderbares gemacht – das heißt, eigentlich hat das der Gartenarchitekt getan. Drei oder vier Jahre haben beide daran gearbeitet. Man muss es gesehen haben, um es zu glauben.«

»Hier haben wir also einen natürlichen Tod«, sagte Poirot, »der auch vom Arzt als solcher bescheinigt worden ist. Ist das derselbe Arzt, der auch jetzt hier im Ort ist? Und den ich bald kennenlernen werde?«

»Dr. Ferguson – ja. Er ist etwa sechzig, ein guter Arzt und sehr beliebt hier.«

»Aber Sie meinen trotzdem, dass ihr Tod ein Mord gewesen sein kann? Noch aus anderen Gründen als die, die Sie mir eben aufgezählt haben?«

»Das Mädchen, zum Beispiel«, sagte Elspeth.

»Warum?«

»Na ja, sie muss das Testament gefälscht haben. Wenn sie’s nicht war, wer soll es dann getan haben?«

»Bei der Testamentseröffnung gab es Schwierigkeiten.«

»War es ein neues Testament?«

»Es war ein Kodizill, ein Zusatz.«

»Sie hatte schon vorher verschiedene Testamente gemacht«, erklärte Spence. »Alle mehr oder weniger gleich. Legate für Wohltätigkeitsverbände, alte Dienstboten, aber der Hauptteil des Vermögens ging immer an ihren Neffen und seine Frau, die ihre nächsten Verwandten waren.«

»Und dieses Kodizill?«

»In dem hat sie alles dem Mädchen vermacht«, sagte Elspeth. »Als Dank für hingebungsvolle Pflege – oder so ähnlich.«

»Erzählen Sie mir doch mehr über das Mädchen.«

»Sie stammte aus irgendeinem mitteleuropäischen Land mit einem langen Namen.«

»Wie lange war sie bei der alten Dame?«

»Ein gutes Jahr.«

»Sie sprechen immer von der alten Dame. Wie alt war sie denn?«

»Mitte sechzig. Fünfundsechzig vielleicht.«

»Das ist nicht sehr alt«, sagte Poirot mit tiefer Überzeugung.

»Nach dem, was man so gehört hat, hat sie mehrere Testamente gemacht«, sagte Elspeth. »Und wie Bert gesagt hat, stand in allen ziemlich dasselbe. Aber der Hauptanteil ging immer an ihren Neffen und seine Frau. Den Bungalow, den sie gebaut hatte, hat sie dem Gartenarchitekten hinterlassen. Er darf dort wohnen, solange er will, und er bekommt eine Art Gehalt, dafür muss er den Garten in Ordnung halten, der jetzt eine Art öffentlicher Park ist.«

»Wahrscheinlich wäre es dazu gekommen«, sagte Spence. »Aber die Rechtsanwälte kamen der Fälschung sofort auf die Spur. Offensichtlich war es keine sehr gute Fälschung. Sie fiel ihnen sofort auf.«

»Und dann stellte sich einiges heraus, aus dem hervorging, dass die Fälschung ohne weiteres von dem Mädchen stammen konnte«, sagte Elspeth. »Sie pflegte nämlich eine Menge Briefe für Mrs Levin-Smith zu schreiben, und es scheint, dass Mrs Levin-Smith etwas gegen getippte Privatbriefe hatte. Wenn es nicht um einen geschäftlichen Brief ging, sagte sie immer: ›Schreiben Sie ihn mit der Hand und machen Sie Ihre Schrift meiner so ähnlich wie möglich und unterschreiben Sie mit meinem Namen.‹ Mrs Minden, die Putzfrau, hat mal gehört, wie sie das gesagt hat, und ich nehme an, das Mädchen hat sich dran gewöhnt, die Handschrift ihrer Arbeitgeberin zu kopieren, und dann ist sie plötzlich darauf gekommen, dass sie doch auch das Testament fälschen könnte und sicher nicht erwischt werden würde. Und so ist es wohl gekommen. Aber, wie ich schon gesagt habe, die Rechtsanwälte hatten einen zu scharfen Blick und merkten es sofort.«

»Mrs Levin-Smith’ Rechtsanwälte?«

»Ja. Fullerton, Harrison und Leadbetter. Eine sehr angesehene Anwaltsfirma in Medchester. Sie ließ immer alle Rechtssachen dort erledigen. Auf jeden Fall wurden Fachleute geholt, das Mädchen wurde ausgefragt und bekam es mit der Angst zu tun. Sie machte sich eines Tages ganz plötzlich aus dem Staub und ließ von ihren Sachen die Hälfte zurück. Man war bereits dabei, einen Prozess gegen sie einzuleiten,

»Aber trotzdem waren alle der Ansicht, dass Mrs Levin-Smith eines natürlichen Todes gestorben war?«, fragte Poirot.

»Ja, ich glaube nicht, dass da je Zweifel herrschten. Ich sage nur, es ist immerhin möglich, weil schon öfter Sachen vorgekommen sind, bei denen der Arzt keinerlei Verdacht hegte. Man kann sich doch vorstellen, dass Joyce etwas gehört hat oder gesehen hat, wie das Mädchen der alten Dame Medizin gab, und dann gehört hat, wie Mrs Levin-Smith sagte: ›Die Medizin schmeckt anders als die, die ich sonst hatte‹, oder: ›Das schmeckt aber bitter‹, oder: ›Das schmeckt komisch.‹«

»Man könnte direkt denken, du seist selbst dabei gewesen und hättest gelauscht, Elspeth«, sagte Superintendent Spence. »Das ist ja nur deine Phantasie.«

»Wann ist sie gestorben?«, fragte Poirot. »Am Morgen, am Abend, im Hause, draußen, bei sich zu Hause oder bei andern Leuten?«

»Zu Hause. Eines Tages kam sie ziemlich schwer atmend vom Garten. Sie sagte, sie sei müde, und legte sich auf ihr Bett. Und, um es kurz zu sagen, sie wachte nicht mehr auf. Was alles anscheinend völlig natürlich ist – medizinisch gesprochen.«

Poirot zog ein kleines Notizbuch aus der Tasche. Am Kopf der ersten Seite stand bereits ›Opfer‹. Darunter schrieb er: ›Nr. 1 möglich, Mrs Levin-Smith.‹ Auf den nächsten Seiten notierte er die andern Namen, die Spence ihm gegeben hatte. Dann sagte er fragend:

Spence antwortete prompt: »Sechzehnjähriges Lehrmädchen. Mehrere Kopfverletzungen. Wurde auf einem Fußweg in der Nähe des Waldes am Steinbruch gefunden. Zwei junge Männer wurden verdächtigt, beide waren von Zeit zu Zeit mit ihr ausgegangen. Keine Beweise.«

»Sie unterstützten die Polizei bei ihren Untersuchungen?«, fragte Poirot.

»Ja, so heißt es üblicherweise. Unterstützt haben sie allerdings nicht viel. Sie hatten Angst. Logen und verwickelten sich in Widersprüche. Als wahrscheinliche Mörder waren sie nicht sehr überzeugend. Aber beide konnten es gewesen sein.«

»Wer waren sie?«

»Peter Gordon, einundzwanzig. Arbeitslos. Hatte ein-, zweimal Arbeit gehabt, blieb aber nie dabei. Faul. Gut aussehend. Hatte einmal oder zweimal Bewährung wegen kleiner Diebstähle bekommen. Keine Vorstrafen wegen Gewalttaten. Er hatte zwar mit ein paar jungen Kriminellen Umgang, hielt sich aber immer aus ernsthaften Sachen raus.«

»Und der andere?«

»Thomas Hudd. Zwanzig. Stotterte. Schüchtern. Neurotisch. Wollte Lehrer werden, aber schaffte das Examen nicht. Mutter verwitwet. Der Affenliebe-Typ. Sah Freundinnen nicht gern und hatte nichts dagegen, dass er an ihrem Schürzenzipfel klebte. Arbeitete in einem Papiergeschäft. Straftaten sind nicht bekannt, aber wahrscheinlich ist er ein psychologischer Fall. Das Mädchen hat ziemlich mit ihm rumgespielt. Als mögliches Motiv kam Eifersucht infrage, aber es gab keinerlei Beweise, um die Sache vor den Staatsanwalt zu bringen. Beide hatten Alibis, Hudd hatte seins

»Das alles passierte wann?«

»Vor anderthalb Jahren.«

»Und wo?«

»Nicht weit von Woodleigh Common auf einem Feldweg.«

»Einen Kilometer entfernt«, sagte Elspeth.

»In der Nähe von Joyce’ Haus – von Reynoldsens Haus?«

»Nein, auf der andern Seite vom Dorf.«

»Es ist unwahrscheinlich, dass das der Mord war, von dem Joyce erzählt hat«, sagte Poirot nachdenklich. »Wenn man sieht, wie ein Mädchen von einem jungen Mann eins über den Kopf bekommt, denkt man doch wahrscheinlich sofort an Mord. Dann wartet man nicht ein Jahr, bis man plötzlich auf den Gedanken kommt.«

Poirot las den nächsten Namen.

»Lesley Ferrier.«

Wieder ergriff Spence das Wort. »Angestellter in einem Anwaltsbüro, achtundzwanzig, arbeitete bei Fullerton, Harrison und Leadbetter, Medchester, Market Street.«

»Das waren doch die Anwälte von Mrs Levin-Smith?«

»Ja. Genau die.«

»Er ist mit einem Messerstich in den Rücken ermordet worden. Nicht weit vom ›Grünen Schwan‹. Angeblich hatte er eine Affäre mit der Frau vom Wirt, Harry Griffin. Gut aussehendes Weibsstück war sie, ist sie eigentlich immer

»Die Waffe?«

»Das Messer ist nie gefunden worden. Es wurde auch behauptet, dass Les mit ihr Schluss gemacht und was mit einem andern Mädchen angefangen hatte, aber wer dieses Mädchen war, ist nie aufgeklärt worden.«

»Ah. Und wer stand in diesem Fall unter Verdacht? Der Wirt oder seine Frau?«

»Beide konnten’s gewesen sein. Die wahrscheinlichere war die Frau. Sie war eine halbe Zigeunerin und ein temperamentvolles Weibsbild. Aber es gab auch andere Möglichkeiten. Unser Lesley hatte kein ganz untadeliges Leben geführt. Als er Anfang zwanzig war, hatte er mal Abrechnungen gefälscht. Es hieß, er komme aus zerrütteten Familienverhältnissen. Seine damaligen Arbeitgeber traten für ihn ein. Er bekam nur eine kurze Strafe und wurde dann, als er aus dem Gefängnis kam, von Fullerton, Harrison und Leadbetter übernommen.«

»Und von dann ab hatte er sich nichts mehr zuschulden kommen lassen?«

»Na ja, jedenfalls nichts Beweisbares. Was seine Arbeit betraf, schien wirklich alles in Ordnung zu sein, aber er war in einige sehr fragwürdige Sachen mit seinen Freunden verwickelt. Er war nun mal ein schwarzes Schaf, aber ein sehr vorsichtiges.«

»Und die andere Möglichkeit?«

»Dass er von einem seiner weniger reputierlichen Bekannten erstochen worden ist. Wenn man sich mit so unerfreulichen Leuten einlässt, muss man mit einem Messer zwischen den Rippen rechnen, wenn man sie im Stich lässt.«

»Tja, er hatte eine ganze Menge Geld auf seinem Bankkonto. War in bar eingezahlt worden. Keinerlei Angaben, von wem es kam. Das allein war schon verdächtig.«

»Vielleicht bei Fullerton, Harrison und Leadbetter geklaut?«, schlug Poirot vor.

»Sie sagen nein. Sie haben einen Buchprüfer kommen und alles nachprüfen lassen.«

»Und die Polizei hatte keine Ahnung, woher es sonst noch gekommen sein konnte?«

»Nein.«

»Auch das ist nicht Joyce’ Mord, würde ich meinen«, sagte Poirot. Er las den letzten Namen: »Janet White.«

»Sie wurde erwürgt auf einem Fußweg gefunden, einer Abkürzung zwischen der Schule und ihrer Wohnung. Sie wohnte mit einer andern Lehrerin zusammen, Nora Ambrose. Sie hat berichtet, dass Janet White Angst vor einem Mann hatte, von dem sie sich ein Jahr zuvor getrennt hatte, der ihr aber öfter Drohbriefe schrieb. Man hat über diesen Mann nie etwas entdecken können. Nora Ambrose kannte seinen Namen nicht und wusste auch nicht genau, wo er wohnte.«

»Aha«, sagte Poirot. »Das kommt der Sache schon näher.«

Und er machte einen dicken, schwarzen Haken an Janet Whites Namen.

»Warum?«, fragte Spence.

»Weil es eine Art von Mord ist, von der man eher annehmen kann, dass ein Mädchen in Joyce’ Alter ihn gesehen hat. Sie kann ein Handgemenge gesehen oder einen Streit gehört haben zwischen einem Mädchen, das sie kannte, und einem fremden Mann. Dass es mehr war, hat sie damals nicht gedacht. Wann ist Janet White ermordet worden?«

»Auch das«, sagte Poirot, »ist etwa der passende Zeitpunkt. Joyce war damals noch nicht klar, dass der Mann, der die Hände an Janet Whites Hals gelegt hatte, sie nicht küsste, sondern sie vielleicht gerade umbrachte. Aber als sie ein bisschen größer war, kam ihr plötzlich die richtige Erklärung.«

Er sah Elspeth an. »Sie stimmen mir zu?«

»Ich verstehe, was Sie meinen«, sagte Elspeth. »Aber fangen Sie’s nicht am falschen Ende an? Sie suchen nach früheren Mordopfern anstatt nach einem Mann, der hier in Woodleigh Common erst vor drei Tagen ein Kind ermordet hat.«

»Unser Weg führt uns von der Vergangenheit in die Gegenwart«, sagte Poirot. »Wir beginnen vor zweieinhalb Jahren und kommen schließlich zu dem Zeitpunkt vor drei Tagen. Und deshalb müssen wir jetzt überlegen, wer von den Leuten bei der Kindergesellschaft mit einem früheren Verbrechen in Verbindung gebracht werden kann.«

»Ich habe eine Liste der Anwesenden hier.«

»Sorgfältig geprüft?«

»Ja, doppelt geprüft, es war ganz schön mühsam. Hier sind die achtzehn Namen.«

Liste der während der Vorbereitungen zum Kinderfest Anwesenden

Mrs Drake (Gastgeberin)

Mrs Butler

Mrs Oliver

Miss Whittaker (Lehrerin)

Pfarrer Charles Cotterell

Miss Lee (Dr. Fergusons Sprechstundenhilfe)

Ann Reynolds

Joyce Reynolds

Leopold Reynolds

Nicholas Ransom

Desmond Holland

Beatrice Ardley

Cathie Grant

Diana Brent

Mrs Carlton (Haushaltshilfe)

Mrs Minden (Putzfrau)

Mrs Goodbody (Helferin)

»Und das sind bestimmt alle?«

»Nein«, sagte Spence, »mit Bestimmtheit kann ich das nicht sagen. Das kann niemand. Sehen Sie, gelegentlich kam jemand und lieferte irgendwas ab. Einer brachte bunte Glühbirnen. Jemand anders brachte Spiegel. Dann kamen Teller. Wieder jemand anders brachte einen Plastikeimer. Diese Leute lieferten alle ihre Sachen ab, wechselten ein paar Worte und gingen wieder. Es kann also sein, dass jemand übersehen worden ist. Dieser Jemand kann, auch wenn er nur einen Eimer in der Diele abgestellt hat, gehört haben, was Joyce im Wohnzimmer sagte. Sie brüllte ja ziemlich. Wir können die Möglichkeiten also nicht auf diese Liste beschränken, aber sie ist das Beste, was wir fertigbringen konnten. Hier, sehen Sie sich’s an.«

»Ich danke Ihnen. Nur noch eine Frage. Mit ein paar von diesen Leuten haben Sie doch sicher inzwischen gesprochen. Hat einer von ihnen, auch nur einer, Joyce’ Bemerkung erwähnt?«

»Interessant«, sagte Poirot. »Man könnte auch sagen, bemerkenswert.«

»Offensichtlich hat keiner sie ernst genommen«, sagte Spence.

Poirot nickte gedankenverloren.

»Ich muss jetzt gehen, ich bin mit Dr. Ferguson nach seiner Sprechstunde verabredet«, sagte er.

Er faltete Spence’ Liste zusammen und steckte sie in die Tasche.