Das Licht blendete. Zum ersten Mal seit Monaten drang wieder Wärme in ihn ein. Er fummelte die neuen Spiegelgläser aus seiner Jeansjacke – echte Pilotenbrille – und setzte sie auf, ein erstklassiges Gefühl. Überall auf den Straßen standen Leute mit geschlossenen Augen, die sich zur Sonne reckten wie die Tulpen. Er war auf dem Weg in den Park, viel mehr hatte er nicht zu tun. Er hatte überhaupt nichts zu tun, er war endlich erwachsen, einundzwanzig und frei. Schluss mit Erziehungsheim, Schluss mit Bundeswehr, das ging ihn ab jetzt so wenig an wie die Abschlachterei in Vietnam. Anderer Leute Krieg. Er ließ den Zahnstocher im Mundwinkel wippen.

Noch bis vor kurzem hatten die Sklavenschinder vom Kommiss versucht, ihn einzumachen, jetzt gehörte die Zeit wieder ihm. Keiner kontrollierte sein Bett, zwang ihn in die Soldatenkutte, ließ ihn strammstehen nachts um drei. Keiner streute ihm Zehennägel ins volle Essgeschirr. Das Haar wellte sich in seinem Nacken, und die Koteletten wuchsen, niemand befahl ihm, das abzurasieren. Endlich sah er wieder nach was aus.

Ein Sofa zum Pennen fand sich immer. Wenn er Geld brauchte, machte er Aushilfe, mal hier, mal dort, und wenn’s sein musste, einen Bruch. Aber nur nüchtern,

»He, du! Bleib mal stehen!«

Ein schmales Wesen baute sich vor ihm auf. Ihre Augen waren riesig, mit pechschwarzem Rand.

»Hast du Licht?«

Er dachte erst, sie meinte die Sonnenstrahlen. Aber sie ließ den Daumen wie eine Flamme aus ihrer Faust nach oben schnellen und schwenkte ihn vor seinem Gesicht.

»Hast du bestimmt.«

Sie trug Feinstrumpfhose und einen Pullover in Männergröße, mit einem Gürtel auf Taille geschnallt, ganz so, als wär’s eins dieser Minikleider. Der Pullover glitt ihr von der Schulter. Möglichst lässig spuckte er den Zahnstocher aus.

»Und wenn nicht?«

»Pech.« Sie blies ihr Haar aus der Stirn. »Dann entgeht dir was.«

Sie kam ganz schön forsch daher. Aber klar, irgendwo hatte er sein Gasfeuerzeug. Er dachte, sie würde näher kommen und sich eine Zigarette anzünden lassen, aber schon klaute sie das Teil aus seiner Hand.

»Danke, Fremder!«

Das, was sie sich zwischen die Lippen schob, sah eher aus wie ein Joint. Sie steckte ihn an und inhalierte tief. Zog den Pullover hoch, der sofort wieder runterrutschte.

Sie drückte ihm die Haschzigarette auf den Mund, sodass er nur dran saugen müsste, doch er wand sie ihr zwischen den Fingern raus. Ihre Ringe blitzten in der Sonne, kolossale Silberdinger. Eigentlich mochte er lieber Bier, das war so verlässlich, er schaute sich kurz um und nahm trotzdem einen Zug. Die weiche Dröhnung schwebte ihm sofort ins Blut.

»Gut, oder?«

»Rauchst du das immer auf offener Straße?«

Sie zuckte mit den Schultern, griff sich den Joint und blies eine Schwade in die Luft. Sie wirkte jünger als er, noch unter zwanzig, aber vielleicht nur, weil sie so leicht geraten war. Er könnte sie unterm Arm davontragen, so schwerelos sah sie aus.

Sie drehte sich zur Wiese und zeigte drauf.

»Sieht aus wie Schnee, findest du nicht?«

Das Gras war voll mit weißem Gewölle, so ein Flaum, der von den Bäumen kam. War wohl die Jahreszeit.

»Oder Federbett«, sagte er.

Ob er ihr gefiel?

Sie ging ein paar Schritte aufs überschneite Gras, und er folgte ihr, seine Schuhe wirbelten die Wolle hoch, das Zeug umschwebte seine Bluejeans wie Zuckerwatte. Sie steckte sein Feuerzeug in ihre Umhängetasche, einfach so, hockte sich in die Flusendecke und fuhr mit der Hand darüber.

»Meinst du, das brennt?«

»Keine Ahnung«, sagte er.

Schon hielt sie die glühende Haschkippe dran. Die

»Guck dir das an!«

Die Flammen rasten in alle Richtungen, mit faszinierender Konsequenz, bis sie die Wiese komplett unter sich hatten.

»Brennender Schnee!«

Sie freute sich unbändig. Spaziergänger blieben stehen, bestaunten den lodernden Flaum oder schüttelten den Kopf mit dem karierten Hut obendrauf.

»Ihr Gammler, was macht ihr da! Einsperren sollte man euch!«

Sie rannten gemeinsam weg, und ihre Sandalen knallten.

Sie kletterte mit ihm auf den Sockel vom Bismarck-Denkmal, der Granit war ganz warm. Weit über ihnen thronte der Kahlkopf mit seinen zwei Adlern und dem Schwert, angeblich war das acht Meter lang. Der Steinprotz drehte der Stadt den Rücken zu und blickte stoisch zum Fluss.

»Ob jemals einer ganz oben war? Bis zur Glatze?«

»Keine Ahnung«, sagte er. »Wozu?«

»Na, weil’s ganz oben ist.«

Sie legte den Kopf in den Nacken und blinzelte hoch. Dabei hatten sie noch nicht mal den ganzen Sockel geschafft, sondern saßen auf dieser Zwischenebene bei den nackten Germanen mit ihren runden Ärschen und

»Willst du dir den Hals brechen?«, fragte er.

»Du nicht?«

Da war sie schon aus ihren Sandalen gesprungen und versuchte, eine steinerne Kniekehle zu erwischen, um sich raufzuziehen. Sie war ziemlich fix, aber der Granitkrieger bot schlechten Halt.

»Wo bleibst du?«

Na schön, er hatte ganz andere Kilos gewuchtet, er müsste dieses Leichtgewicht doch auf den Preußenklotz kriegen, schließlich war er im Training wie nur was.

»Steig in meine Hände.«

Sie trat ganz schön zu, und er stemmte sie hoch bis zum Germanenhintern, mit Gerangel schaffte sie es über die Hüfte, dann umklammerte sie den steinernen Rücken, als würde sie huckepack reiten.

»Weiter, weiter!«, rief sie, und er versuchte, von unten nachzuschieben, bis sie endlich den Kopf der Figur zu fassen bekam und über die Brüstung kletterte. Von oben kicherte es wild.

Er musste ordentlich kämpfen, um nachzuziehen, irre, wie hoch das war – wie würde er jemals heil wieder runterkommen? Mit Schwung rollte er sich aufs Plateau. Dort ragte in der Mitte ein Säulenkreis auf, ein mächtiger, abweisender Unterbau. Der Riesenbismarck darüber mit seinem Schwert schien in noch weitere Ferne gerückt.

»Finito«, sagte er. »Den Rest machen wir ein andermal.«

»Egal.«

Er setzte sich daneben und sah sie an. Was für eine Frau. Sie schloss die Augen und ließ sich von der Sonne bestrahlen, er beugte sich noch näher zu ihr, versuchte sich zu erinnern, wann er das letzte Mal mit einer richtig beisammen gewesen war, aber das fiel ihm nicht ein. Die Äderchen in ihren Lidern zuckten, die Härchen auf ihren Wangen schwebten im Licht, fast ein bisschen wie das Baumwollzeug. Ihre Nase kräuselte sich.

»Zufrieden?«, fragte er.

Sie lächelte blind in die Sonnenstrahlen.

»Ich bin Nada.«

Er überlegte nur kurz.

»Ich Hawk.«

Sie wiederholte seinen Namen, die Augen noch immer geschlossen, nur dieser einzelne, tiefliegende Laut.

»Hawk.«

Es war das erste Mal, dass er ihn ausgesprochen hatte. In seinem Kopf ging der Gedanke schon länger um, jetzt war er handfest und klar. Herbert Friedheim – den hatte er immer gehasst. Dieser Friedheim klebte an ihm wie Rotz – Zeit, sich das abzuwischen.

»Und was machst du heute noch, Hawk?«

Sie hatte diese Bude, die sie mit anderen teilte, er schnallte nicht, mit wem und wie vielen, vielleicht war das eine von diesen Kommunen. Aber es war nicht weit weg, gleich hinter diesem neumodischen Eros-Klotz auf der Reeperbahn, und nachdem sie durch die Sonne und

Sie schafften es kaum durchs Treppenhaus, endlich knallten sie von innen gegen die Zimmertür. Ausziehen dauerte viel zu lang, sie feuerte die Sandalen von ihren Füßen, riss den Gürtel runter und grub sich um ihn, er wühlte sich unter den Pullover, den Kopf an ihre Brüste gepresst. Die Wolle legte sich über ihn wie ein Wüstenzelt, nur stach die Hitze von innen, jede Faser saugte sich sofort voll Schweiß. Hawk taumelte mit ihr durchs Zimmer, ohne was zu sehen, rammte was Hartes, Zeug fiel um, sein Nacken fest in ihrem Griff, Nägel in seinem Hals. Sie hängte sich mit allem an ihn ran, die Beine um seine Hüften geschlungen, er verkantete seine Arme unter ihrem Po, um sie bloß oben zu halten. Seine Hose rutschte runter, sie drohten ständig zu stolpern, der Länge nach umzufallen, doch Nada schleuderte nur den Kopf zurück, wie beim Karussell, voller Vertrauen, dass es hält, dass es sich immer weiter dreht.

Er ackerte und schwitzte wie noch nie, plötzlich gab er Laute von sich, die er nicht kannte, aber die mussten raus. Und auch, als ihm die Beine zittrig wurden, die Knie wackelten und die Arme brannten, wollte er unbedingt aufrecht bleiben, er war so stolz, dass es im Stehen ging.

Erst danach stürzten sie auf die Matratze, alles bebte, sie zogen sich die Klamotten runter. Draußen war es dunkel geworden, und im Fenster spiegelte sich ein

»Das ist gut zum Einschlafen«, sagte sie. Nada legte den Kopf in seine Armbeuge, sie passte perfekt hinein.

»Bleib hier. Wär doch schön, meinst du nicht?«

Am nächsten Tag zog er bei ihr ein. Denn warum nicht? Das war wild, das war Rock ’n’ Roll, mit Nada lief alles leicht, wie ein Fingerschnipsen. Wenn sie flüssig waren, gab es Schampus und Krabbencocktail, bei Flaute wochenlang Nudeln mit Kakao. Manchmal suchten sie sich ein Edellokal, probierten die Karte rauf und runter und türmten durchs Fenster vom Damenklo. Einmal schlichen sie ins Hotel und klauten dem Nachtportier einen Zimmerschlüssel. Hawk liebte die duftenden Laken und wie sie zerwühlt aussahen. Gemeinsam plünderten sie die Minibar. Er schaffte fünfzig Liegestütze, während sie nackt auf ihm lag, ihr Kopf zwischen seinen Schulterblättern.

Damals besorgte er diesen Fotoapparat. Das war so eine Sache aus der Hüfte heraus, eine Agfa mit Blitzwürfeln, die beim Leihhaus im Fenster lag. Die Pfandleiherin zeigte ihm, wie man die Patrone einlegte, wo man kurbelte und drehte. Der Blitz war so stark, dass man rote Punkte sah.

»Noch eins!«, rief Nada. »Noch mal!«

Sie riss die Augen extra weit auf, ihre Pupillen schrumpften sich nadelspitzklein. Manchmal knipste er eine ganze Packung Blitzlichter leer, ohne dass die Agfa geladen war. Der Lichtwürfel zündete über Nadas Haut und verbreitete den Geruch von abgebranntem

Die Abzüge sammelte er im Schuhkarton, auch die unscharfen, die verwackelten, die mit nichts drauf. Oft war nur ein Stück von Nada zu sehen, vom Rücken, vom Hals, weil er irgendwas hatte einfangen wollen, nur klappte das nie. Wie durchsichtig sie war. Ein Muttermal. Diese Impfnarbe wie ein Fingerabdruck, ein rausstehendes Schlüsselbein. Ihre schmale Hand mit den Totenköpfen. Auf anderen hatten sie die Arme umeinander gelegt oder machten das Victoryzeichen, prosteten irgendwem hinter der Kamera zu oder einfach dem Moment.

Aber wie das so ist – irgendwann sind alle Bilder gemacht.