Da war sie wieder, die Stadt, sie sperrte den Rachen auf, und Hawk fuhr mittenrein. Die Straße glitt unter die Räder und ließ sich plätten, das war ihr Job. Die Türen der Casinos und Bars standen weit offen, um den Muff von letzter Nacht auszulüften, jemand fegte Scherben zusammen.

So sah das Ganze bei Tageslicht aus. Immerhin fuhr er diesmal nicht mit dem Zug und ließ sich nicht mit all den anderen Kreaturen in das Höllenloch von Bahnhof auswerfen, sondern rollte schön auf seinen eigenen vier Rädern die alte Rotlichtmeile runter, na gut, fast eigene Räder, seine Hand lag locker auf dem Steuer und entspannte sich, die Sonne brachte den Asphalt zum Glitzern, auf dem Trottoir verdampften die Bierpfützen. Man könnte glatt meinen, alles wär in bester Ordnung, Hamburg tat harmlos und war längst wieder am Werk.

Grad Mittag, und schon waren die ersten Kanaillen mit ihrem Wermut unterwegs, eben noch blinzelnd aus den Löchern und Arrestzellen gekrabbelt und gleich den ersten Klapperschluck gekippt, damit die Hände nicht mehr die Flatter machten und etwas Würde einkehrte, mit jedem Schluck ein bisschen mehr.

Hier hatten die Leihhäuser rund um die Uhr Betrieb, wo die einen ihre letzten Fummel versetzten, die

Er wusste schon, warum er diesem Fischmaul von Stadt den Rücken gekehrt hatte, denn wenn du erst mal drinhängst, gehörst du bald selbst zum Schleim, dem oben oder dem unten, das entscheiden am Ende die andern, die mit den blitzenden Schuhen.

Hawk hielt an einer roten Ampel. Diese Meile da draußen hatte sich keinen Deut verändert, über kurz oder lang würde er wen wiedererkennen oder andersrum, ihm gefiel beides nicht.

Elmsfeuer.

Die Streichholzschachtel steckte in seiner Hosentasche.

Da bohrte einer die Finger in seine Vergangenheit. Und zwar ziemlich tief.

Er hieß Herbert, als er im Elmsfeuer ankam, Herbert Friedheim, ein beschissener Name, und ein richtiger Bart wollte ihm auch noch nicht stehen, die ersten Haare weich wie beim Küken. Über der Eingangstür vom Laden hing ein großes Steuerrad, das sieht nach einem guten Zeichen aus, wenn du noch grün hinter den Ohren bist und denkst, die Welt wartet auf dich. Das war bald dreißig Jahre her.

Jemand klopfte an die Autoscheibe und riss Hawk aus seinen Gedanken.

»He, Meister!«

»Nasenbluten!«

Seine schmierigen Knöchel trommelten gegen das Fenster und hinterließen Pfotenabdrücke, die Tropfen zogen Fäden von seinen Nasenlöchern bis zum Rinnstein, das musste gesessen haben.

»Meister!«

Was wollte der Typ? Hawk fiel ein, dass er im Krankenwagen saß, das sah wohl nach einer Einladung aus. Dann sprang die Ampel um. Er zeigte der Goldkette einen Vogel und stieg aufs Gas.

Die Seitenstraßen waren verdammt eng und wurden immer enger, sie saugten ihn rein wie eh und je. Er nahm das Tempo raus und versuchte, sich zu konzentrieren. Vor dem Messerladen wartete eine verlorene Bordsteinschwalbe auf Kundschaft, sie war viel zu früh dran. Sie trug diese Stiefel bis übers Knie und kaute Kaugummi mit offenem Mund. Beim Schlachter lagen Fleischklopse im Fenster, mit Spiegelei drauf, die lagen da sicher seit Freitagnacht, Hawks Magen schrie danach, nach jedem verrunzelten Spiegelei. Vielleicht ließ sich da was machen, auch ohne Geld, er fuhr noch langsamer, die Klopse im Rücken und kein zündender Gedanke, da bog das Polizeiauto um die Ecke und hielt auf ihn zu. Hawks erster Reflex war, sich zu ducken, ein ausgesprochen dummer Reflex, den er sofort in den Griff bekam, eine Seuchenwanne ohne Fahrer ist wie ein Zivilschnüffler im Lederjackett: riecht faul, auf hundert Meter gegen den Wind. Dann griff er nach der

Ein unauffälliges Tempo wäre gut, ein normales Tempo, bloß nicht zu viel Gas. Jetzt konnte er die beiden Schupos in ihren Sitzen sehen, sie schauten rüber, der eine biss in ein Brötchen, und gelbe Tunke quoll raus. Hawk tippte zwei Finger an die Stirn, die Bullen nickten. Die Kriminalschaukel rollte vorbei. Kurz dachte Hawk an Landa im Leichenkeller. Wenn er den wieder rausließ, musste er sich was überlegen, damit der den Rand hielt. Bestimmt hockte der jetzt in der Totenkammer und malte mit seiner Taschenlampe Pimmel an die Wand.

Dann entdeckte Hawk eine schmale Einfahrt zu einem der Hinterhöfe. In dieser Straße reihte sich eine Kneipe an die nächste, und diese hatte einen versteckten Parkplatz beim Lieferanteneingang, gut, wenn man Dinge außer Sichtweite zu erledigen hatte oder mal in Frieden pinkeln wollte, und wer würde bei einem Sani, der Pause machte, Schlechtes denken? Nachdem er das Monster auf den Hinterhof verfrachtet hatte, stieß er die Fahrertür auf. Die Hitze hing ihm in den schwarzen Klamotten, um seine Achseln hatte sich der Stoff noch dunkler gefärbt. Er zog die Streichhölzer aus der Hosentasche und drehte die Schachtel zwischen den Fingern. Er konnte sich keinen Reim drauf machen. Was hatte er noch mit diesem Laden zu schaffen? Wer nannte ihn BASTARD? War das Karl, der ihm sein Leben

 

Seine Augenbraue war frisch genäht, als er nach Hamburg kam, mit fünfzehn Jahren und einem Rest Wurstbrot in der Tasche. Der überstehende Faden flatterte ihm im Augenwinkel, schwarzer Zwirn, er wollte ihn ständig wegwischen.

»Ende Gelände«, sagte der Typ, der ihn im VW-Bus mitgenommen hatte.

»Hier ist Endstation, Kleiner. Jetzt musst du allein klarkommen.«

»Klar.«

»Wie heißt du noch mal?«

»Herbert.«

»Hau rein, Herbert.«

Herbert sprang raus und warf sich seinen Beutel über die Schulter. Er hatte ganz schön Strecke gemacht, Hunderte Kilometer nur nach Norden, möglichst weit weg von zu Haus. Weg aus dem dumpfigen Dorf, das in ständiger Dämmerung zwischen den Bergen lag, fort vom vermieften Hof, wo ihn nichts mehr hielt.

Er hätte nicht gedacht, dass Trampen so leicht war, von den großen Transportern hielt immer einer an. Die Fahrer sahen sein zerschlagenes Auge und nickten. Er konnte aus dem Fenster schauen und der Landschaft dabei zusehen, wie sie flacher und offener wurde, die dichten Hügelwälder verschwanden. Der Horizont tauchte auf.

Die Stadt flüsterte ihm gleich was ins Ohr und machte ihm die Augen wässrig, er konnte nicht aufhören, sich alles anzusehen. Besonders die Kräne, die am anderen Ufer ihre stählernen Hälse in den Himmel reckten, Wesen aus einer fremden Welt, mit baumelnden Haken. Besonders die Schiffe, die sich schwer den Fluss entlangschoben, von Möwen verfolgt. Die großen Kähne trugen Flaggen aus Ländern, von denen er keine Vorstellung hatte, außer dass es dort Bananenbäume gab und Rum in Holzfässern wie bei den Piraten. Er setzte sich auf einen Poller, eine gedrungene Eisenfigur, der Wind spielte mit dem Faden in seiner Braue, und es roch nach Salz. Er spürte, wie der Wind über ihn wegblies und etwas mitnahm, was sich auf den Haarspitzen seiner Arme gesammelt hatte, obwohl da gar nichts zu sehen war, wie er weiter über den Fluss blies, das Wasser zu Inseln aus Gischt aufbauschte, und der Eisenpoller unter ihm war so unendlich stark, er legte seine Hand drauf und stellte sich vor, dass er Meeresluft atmete.

Später lief er den Hafen ab, erst am Fluss entlang, dann jede Gasse rauf und runter, durch das Viertel der Reichen und durch den ganzen Rest. Er sah Villen mit schneeweißem Anstrich und Gärten mit Obstbäumen, deren Äpfel im Gras weich wurden, ohne dass jemand sie aß.

Als es dämmerte, fing die Stadt an zu glimmen und zu blinken, eine Lichterparade aus dem Nichts, die Straßen füllten sich mit allerlei Volk, das mit weit ausholenden Schritten unter die Leuchtreklamen strömte, die Gesichter in Grün, in Rot und Blau.

Herbert ließ sich mit den Menschen treiben, sie sprachen hier anders, breiter und weicher, die Frauen trugen Hochsteckfrisuren und karierte Röcke, ihre Lippen waren lackiert. Die Männer hatten Hüte auf dem Kopf, sie waren laut und hielten Bierflaschen fest. Die Menge lief die Gehsteige auf und ab, auf den Straßen rollten VW-Käfer, bis auf den letzten Platz besetzt, die Kerls auf der Rückbank drückten sich die Nasen platt, die Scheiben von ihrer Puste beschlagen.

Es roch wie beim Rummel nach Bratwurst und Parfum. Alle paar Meter gab es Stehbierhallen, die zur Straße hin offen waren und in denen sich die Leute

Er geriet in eine Straße, wo Frauen in schummrigen Schaufenstern saßen, manche hatten kaum etwas an, das Fleisch schimmerte, und die Schuhe hatten spitze Absätze, es war gut, dass die Frauen saßen, sonst würden sie sich bestimmt durch den Boden bohren. Die Frauen klopften von innen gegen die Fensterscheiben. Herbert ging schnell weiter.

Das Blinken der Leuchtpfeile setzte ihn unter Strom, sie zeigten in jede Richtung, lockten die Nachtfalter und verwirrten sie, schienen eine einzige Verschwendung zu sein. Aus jedem der Lokale kam eine andere Musik, ein vielstimmiges Gegröl zum Akkordeon, ein paar Schritte weiter ein Rhythmus, der Herbert durch den ganzen Körper fuhr, das war Rock ’n’ Roll, der Rock ’n’ Roll, den er abends heimlich am großen Saba-Röhrenradio auf Radio Luxemburg gehört hatte – Your Station of the Stars –, der lief hier laut und vor allen Leuten.

Auch an den Straßenecken gab es die Frauen mit den Absätzen, von ihren meterlangen Beinen sprachen sie die Männer an, Herbert beachteten sie nicht. Er hatte noch mit keinem Menschen gesprochen und fragte sich, wohin er gehen sollte, wenn er nicht mehr laufen konnte, wo er sich in dieser Stadt hinlegen könnte und ob es überhaupt möglich war, hier die Augen zu schließen.

In einer Bierhalle hingen sie schon mit den Köpfen auf dem Tresen, in einer Hand noch die qualmende Zigarette. Eine Weißhaarige mit schlackernder Haut und

Auf der Suche nach einem Unterschlupf ließ er die Menschenströme hinter sich. Die zu einer schmalen Rolle gedrehten und mit Einweckgummi umwickelten Scheine, die ihm seine Mutter in die Hand gedrückt hatte, bevor er für immer vom Hof gerannt war, würden nicht lange reichen. Für ein Bett in einem der Hotels war es vielleicht genug, aber danach wäre das Geld weg.

Herbert blieb vor einem Abrissgelände stehen, eine mit hohem Gras bewucherte, müllübersäte Fläche. Die rostigen Sprungfedern einer Matratze und zerschlagene Flaschen lagen vor dem Eingang eines halben Hauses, weggebombt und nicht mehr aufgebaut. Die eine Seite stand noch, die andere gab den Blick auf das nackte Skelett der Zimmerwände frei. Wenn das seit Kriegsende gehalten hatte, würde es heute Nacht nicht zusammenfallen.

Herbert trat näher, wich den Scherben aus. Der Hauseingang war mit Brettern verrammelt, doch jemand hatte so viele von ihnen entfernt, dass ein Loch entstanden war, groß genug zum Durchsteigen. Herbert steckte den Kopf durch die Öffnung. Der Gestank von Exkrementen schnitt ihm die Luft ab, ruckartig zog er sich zurück und haute gegen eine Latte, im Abbruchhaus hustete es. Herbert sah zu, dass er wegkam, beim Rennen löste sich die Schuhsohle und flog ins hohe Gras zu dem anderen Müll.

Elmsfeuer. Am Eingang war ein Emailleschild angebracht, auf dem stand in Schnörkelschrift:

Zimmer für Fahrensleute

Warme Küche

Telefon

Mittwoch Seelsorge

Freitag Skat

Was immer das war, es klang nicht gefährlich.

Herbert machte sich so groß es ging und öffnete die Tür. Drinnen strich ihm etwas über die Stirn, sofort zog er den Kopf wieder ein, da baumelte ein grobmaschiges Fischernetz. Kratziges Raucherlachen füllte den Raum, es war warm und roch nach Zigarre und Speck. Herbert sah eine mit Rettungsringen behängte Bar und Sitzecken, über denen aufgeblähte Kugelfische schwebten. Glühbirnen pendelten aus ihren Bäuchen. Er zwängte sich schnell an einen leeren Tisch, die Schultern noch immer zu den Ohren gezogen.

Das Licht der Kugelfischlampe kreiste über der Häkeldecke. Herbert bohrte einen Finger in die Schlaufen, sein Blick wanderte vorsichtig hoch. Hier schienen nur Männer zu sein. Breite Rücken und klobige Schuhe.

An der Theke entdeckte er eine geschnitzte Frau in blauem Kleid. Sie lehnte sich schräg in den Raum, als hätte sie ein ganzes Schiff in voller Fahrt hinter sich, ihr Haar steif nach hinten geweht, die Punkte ihrer Pupillen in die Ferne gerichtet.

»Na, bist ’n kleiner Deserteur?«

Das war das Erste, was in dieser Stadt einer zu ihm sagte, und dieser Jemand war Karl.

»Ich hab nichts gemacht.«

»Hat auch keiner behauptet.«

Karls Gesicht war buschig, ein einziger Vollbart, sogar seine Augenbrauen ließen sich nicht voneinander trennen. Er trug einen Seemannspulli mit hochstehendem Kragen, aus dem sein bewucherter Hals rausguckte. Herbert musste an Kaminfeuer und Lakritze denken, was merkwürdig war.

»Aber durchgebrannt bist du trotzdem. Seh ich doch.«

Beim Trampen hatte Herbert sich überlegt, welche Geschichte er erzählen sollte, wenn einer ihn schnappte, wenn einer ihn zurückschicken wollte, und er suchte im haarigen Gesicht des Mannes nach dem Blick, den einer haben würde, der ihn an die Polizei verpfiff.

Karl zwinkerte. Das Zwinkern zog ein Netz aus Falten zum Augenwinkel und ließ es wieder los. Herbert

Herbert zupfte seinen Finger aus der Häkeldecke und schob sich die Hände unter die Oberschenkel. Seine Augen wanderten wieder zur meterlangen Lederhaut, die ruhig und schwer in den Tauen hing, und er dachte an Unterwassertiere. Das musste einmal lebendig gewesen sein. Der Mann beugte sich zu ihm runter.

»Walpenis. Beachtlich, nech? Von ihren Touren schleppen die Jungs alles Mögliche an.«

Herbert klappte der Mund auf. Wale mit Penissen, was für eine Sache, er hatte nur gewusst, dass die hinten Schwänze haben. Der Mann griff nach einer Büchse, die ihm am Gürtel hing. Er spuckte hinein und schob seinen Kautabak in die andere Backe. Es roch nach Lakritz.

»Siehst hungrig aus«, sagte Karl.

 

Hawk schreckte hoch, als jemand näher kam. Die klapperdürre Gestalt lief auf den Krankenwagen zu und lächelte so breit, dass ihr aufgerissener Mund sie fast verschluckte.

»Mann, traumhaft.«

Hawk kannte dieses Zucken in den Pupillen und das

»Mann, du bist meine Rettung, gibst du mir ein Diazepam, oder Codein geht auch, oder was du hast, ich nehm alles, ganz egal.«

»Mach die Biege.«

»Oder Codein, Mann, irgendein Hustensaft, ich bin sofort wieder weg, ja?«

»Und ich bin nicht die Heilsarmee.«

»Aber du hast die Pillen doch, du hast die doch da drin? Du musst die doch nur ausspucken, ich will’s ja nicht umsonst.«

Der Junkie lehnte schief und ausgedörrt unter der strahlenden Sonne, die blasse Papierhaut konnte jeden Moment reißen.

»Siehst du, hier!«

Er fummelte einen Fünfer aus dem Hosenbund und versuchte ihn glattzustreichen.

»Diazepam wär gut oder Codein, das wär echt gut jetzt.«

Hawk sah das Geld, und sein Kiefer begann zu mahlen, er würde verdammt noch mal nicht zum Dealer werden, nicht für ein paar verrunzelte Spiegeleier auf Buletten und auch sonst nicht, auf keinen Fall. Er war durch mit dem Thema.

»Behalt den Seuchenschein.«

»Ich bin sofort weg, Mann, ich sag’s auch keinem, ja?«

»Was sagst du keinem?«

»Dein geklautes Auto hier, seh ich doch, bitte, mir geht’s echt dreckig.«

»Mir ist irre kalt. Ich hab Herzflattern, Mann«, sagte der Junkie. »Fühl mal.«

Er streckte seine Knochen aus, die Finger krümmten sich, um nach Hawks Hand zu greifen und sie sich gegen die Brust zu pressen, als Beweis, dass da drin noch was lebte und mit letzter Kraft den Puls am Laufen hielt, eine zittrige Frauenhand, von der roter Nagellack bröselte, die hart gewordenen Einstichlöcher unter den Totenkopfringen, ihr Betteln, besorg mir was, komm schon, Baby, geh was holen, lass mich hier nicht so liegen, Hawk, gib mir deine Hand, gib … sie prallte an ihm ab und wurde zu einem Haufen Knochensplitter.