»Prolog«
Es ist ein lausig kalter Abend Mitte November. Ungeduldig schaut Bernd Kügler zur Uhr. Es ist 23.45 Uhr. Eine Viertelstunde noch bis Feierabend. Dieser Tag war verdammt lang, er liebt seinen Job nicht. Die eisige Kälte draußen dringt bis in den Geschäftsraum der Tankstelle, obwohl die Heizung auf vollen Touren läuft.
Schon den ganzen Tag lässt die Tür sich nicht richtig schließen. Zwischen Tür und Rahmen steht ein Spalt offen, durch den der Nordwind vom Meer hereinpfeift. Bernd Kügler ärgert sich, dass die Leute aus der Werkstatt es versäumt haben, den Schaden zu beheben, bevor sie um sieben nach Hause gegangen sind. Darum gebeten hat er sie mehr als ein Mal. Aber als sie dann Feierabend machten, hat auch er nicht mehr daran gedacht.
Noch einmal besieht Kügler sich den Schaden an der Tür. Plötzlich kommt ihm der Gedanke, dass sich möglicherweise jemand mit Gewalt daran zu schaffen gemacht hat. Vielleicht hat jemand einen Einbruch versucht und ist gestört worden. Überfälle auf Tankstellen hat es während der letzten Wochen in der Stadt einige gegeben. Anfangs ist er deshalb mit einem mulmigen Gefühl zur Arbeit gegangen. Ein paarmal hat er sogar versucht, sich vor der Spätschicht zu drücken. Inzwischen aber liegt der letzte Überfall eine Woche zurück und seine Angst hat nachgelassen.
Draußen fährt ein Auto zum Tanken vor. Kügler lässt von der Tür ab und bezieht seinen Platz hinterm Tresen. Auf dem Monitor der Videoüberwachung sieht er einen Mann aus dem Auto steigen. Er trägt einen Hut und einen Ledermantel. Jetzt schlägt er den Kragen hoch, um sich vor dem kalten Wind zu schützen. Der Mann beginnt zu tanken. Er braucht ungewöhnlich lange, hat offenbar ein Problem mit dem Tankverschluss. Als er endlich grußlos das Kassenhäuschen betritt, ist es 23.58 Uhr. Er wird der letzte Kunde sein, Kügler hat den Schlüssel bereits aus der Schublade gefischt und neben die Kasse gelegt. Er freut sich auf sein Bett, aus dem er vor dem nächsten Mittag nicht wieder herauskommen wird.
Der hochgestellte Kragen, der breitkrempige Hut und ein Vollbart verbergen das Gesicht des Kunden nahezu komplett. Nur die Augen sind zu sehen, aber sie blicken an Kügler vorbei. Der Mann scheint nervös. Seine Hände zittern etwas. Was fummelt er da so lang in seiner Manteltasche herum? Kügler muss plötzlich wieder an die Überfälle der letzten Zeit denken, sein Herz schlägt schneller. Vielleicht sucht der Kerl gar nicht nach seinem Portmonnee? Dann fällt ihm ein, dass von einer vierköpfigen Bande Jugendlicher die Rede war, und seine Befürchtungen schwinden. Im gleichen Augenblick findet der Mann erleichtert seine Brieftasche.
Ehe er jedoch dazu kommt, mit seinen zittrigen Fingern die Kreditkarte herauszuziehen, fliegt plötzlich in einem Schwung die Tür auf. Es kracht, als habe sich jemand mit voller Wucht dagegengeworfen. Erschrocken fährt der Mann herum. Vier vermummte Gestalten stürmen den Raum.
Kügler braucht keine halbe Sekunde, um die Situation zu erfassen. Alle vier sind bewaffnet mit Baseballschlägern und jederzeit bereit, diese auch zu benutzen, das ist sonnenklar. Einer von ihnen springt sofort hinter den Tresen, die anderen drei verteilen sich blitzartig im Raum. Offenbar ein gut eingespieltes Team.
Instinktiv hebt der Kunde die Hände. Dabei fällt seine Brieftasche auf den Boden. Kügler ist unfähig, auch nur einen Finger zu rühren. Dafür aber sieht und hört er alles in Überschärfe.
»Kohle raus!«, schreit der, der neben ihm steht. »Aber plötzlich!« Es ist die schrille Stimme eines jungen Mannes. Wie die anderen hat auch er eine Wollmütze über den Kopf gezogen. Durch kleine Sehschlitze blitzen Kügler zwei Augen so stechend an, dass er keinen Augenblick an der Entschlossenheit des Täters zweifelt. Wie hypnotisiert starrt Kügler den Mann einfach nur an. Er ist kaum kleiner als er selbst und hebt drohend den Baseballschläger. Da endlich erwacht Kügler aus seiner Lähmung und öffnet die Kasse. Als Nächstes passieren zwei Dinge gleichzeitig: Erstens wird Kügler mit unerwarteter Wucht umgerempelt. Zweitens entdeckt einer der Täter die herabgefallene Brieftasche und bückt sich danach.
In einem Reflex schlägt der Kunde ihm die Faust von oben so heftig auf den Kopf, dass der Täter, genau wie Kügler auf der anderen Seite des Tresens, zu Boden stürzt. Danach herrscht mehrere Sekunden lang Erstarrung bei allen Beteiligten. Stille erfüllt den Raum.
Dann plötzlich gerät alles zeitgleich wieder in Bewegung: Kügler rappelt sich vom Boden hoch, der Mann neben ihm greift in die Kasse, fischt das Geld heraus und stopft es in die Taschen seiner Lederjacke. Auch der Täter, der niedergeschlagen wurde, kommt hoch, während der Dritte, mit einigem Abstand kleinste von allen, auf den Kunden zustürmt, kurz ausholt und ihm mit voller Wucht den Baseballschläger an den Kopf schmettert. Fassungslos starrt der Kunde ihn an und greift sich an die getroffene Stelle, als habe ihn dort höchstens eine Wespe gestochen. Sein Hut fällt zu Boden, er blickt ihm nach, als wolle er dieses Bild nie mehr vergessen. Dann plötzlich sackt er in sich zusammen. Sein Kopf liegt nur wenige Zentimeter neben dem Hut. Eine kleine Blutlache breitet sich dazwischen aus, wird größer, verbindet schließlich Kopf und Hut.
»Bist du jetzt total durchgeknallt?«, sagt der, der die Kasse geleert hat. Seine Stimme ist unnatürlich ruhig. Alle starren auf den am Boden liegenden Mann.
»Ist der etwa tot?«, fragt der, den der Faustschlag des Kunden getroffen hat.
»Quatsch.«
»Lass uns abhauen!«, schaltet sich jetzt der vierte Täter ein, der bisher unbeteiligt in der hinteren Ecke des Raumes gestanden hat. Seine Stimme klingt fast wie die eines Mädchens, aber ganz sicher ist Kügler sich nicht. Dann steht er urplötzlich wieder allein im Raum. Die vier Eindringlinge sind so schnell verschwunden, wie sie gekommen sind.
Nur der Mann liegt noch immer auf dem kalten Boden. Kügler traut sich kaum, zu ihm zu gehen. Seine Füße sind schwer wie Blei. Er sieht, dass die Blutlache zwischen Kopf und Hut größer geworden ist. Zitternd beugt er sich über den leblosen Körper. Der Mann ist tot.