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Zumindest glaubte ich das ungefähr eine halbe Sekunde lang. Aber es war nur jemand, der dieselbe Größe hatte wie er und ähnlich gekleidet war: dunkler Sweater, dunkle Hose, schwarze Wollmütze. Der andere war der Typ, den ich am Vorabend mit Pit zusammen gesehen hatte. Jetzt schien er fix und fertig, unter seinen geröteten Augen hatten sich dunkle Ränder gebildet.
Ohne Zögern ging ich auf ihn zu. Das war meine Chance. Ich spürte Nils’ verblüffte Blicke in meinem Rücken. Als sie mich kommen sahen, richteten die beiden sich kerzengerade auf, fast als erwarteten sie einen Angriff.
»Weißt du«, sprach ich den Älteren an, »wo Pit ist?«
»Pit?« Er wirkte nervös. »Was willst du von dem?«
Ich versuchte, ruhig zu bleiben. »Wir haben uns gestern Abend kurz kennengelernt.« Unbeirrt sah ich ihm in die Augen. »Hier vor der Tür. Ich bin Klara, Pits Schwester. Du warst mit ihm zusammen.«
»Stimmt. Jetzt erinnere ich mich.« Er wandte sich in Richtung Ausgang. Sein Begleiter folgte ihm stumm. »Aber ich hab keine Ahnung, wo dein Bruderherz ist. Wir kennen uns auch gar nicht richtig. Sorry.«
»Was hat er denn gestern Abend gemacht«, rief ich ihm hinterher, »nachdem wir uns hier getroffen haben? Hat er noch mehr Geld in Automaten gesteckt?«
Er blieb kurz stehen, den Türgriff schon in der Hand. Er sah mich an, als habe er von dieser Automatengeschichte noch nie etwas gehört. »Keine Ahnung. Fünf Minuten später haben wir uns getrennt. Ich glaub, er wollte nach Hause. War er da nicht?« Ich hatte sofort das Gefühl, dass er log. Trotzdem hakte ich nicht weiter nach, denn er hätte mir auch in hundert Jahren nicht die Wahrheit gesagt.
Er wiederholte noch einmal: »Wir kennen uns wirklich kaum. Sicher weiß er nicht mal, wie ich heiße.«
»Und«, fragte ich, »wie heißt du?«
Er wurde unsicher. »Rumpelstilzchen«, entgegnete er mit einem Lächeln.
Er hatte schöne Zähne. Unter anderen Umständen hätte er mir vielleicht gefallen. Wenn er ausgeschlafen war, sah er sicher gut aus. Als er draußen war, steckte er noch einmal den Kopf zur Tür herein. »Philipp«, sagte er. »Aber du kannst Phil zu mir sagen. Wer weiß, wozu es noch mal gut ist, dass du meinen Namen weißt.«
Dann verschwand er. Noch nie in meinem Leben hatte ich ein so seltsames Gefühl wie in diesem Augenblick, auch wenn ich es nicht ergründen konnte.
Ich verscheuchte meine düsteren Gedanken, so gut es ging, und setzte mich wieder zu Nils. Vorsichtig lächelte er mich an. Ich hatte nicht die geringste Lust, sein Lächeln zu erwidern. Aber als ich neben ihm saß, spürte ich doch, wie ich schnell ruhiger wurde. Es war gut, hier bei ihm zu sein.
»Wir machen diesen Wechsel«, bestätigt der Boss noch einmal leise, aber eindringlich. Sie haben sich wieder in der Halle versammelt, nachdem er sich draußen mit den anderen Chefs der Organisation beraten hat. Seine Meinung hat das nur bestätigt. Je leiser seine Stimme wird, umso bedrohlicher klingt sie. Er weiß um diese Wirkung und setzt sie gezielt ein. Die anderen haben Angst vor ihm und das ist wichtig, damit sie gehorchen. In ihrer Unsicherheit sind sie auf seine vermeintliche Überlegenheit angewiesen wie sonst nie. Aber mit seiner Entscheidung, den Kleinen aus ihrem Team zu nehmen, sind sie nicht wirklich einverstanden. Während der letzten Wochen und Monate haben sie sich gut aufeinander eingespielt. Manchmal verstehen sie sich fast blind.
Der Vorfall letzte Nacht war eine Ausnahme: Da hat keiner verstanden, warum der Junge zugeschlagen hat, ohne mit der Wimper zu zucken. Er selbst offenbar auch nicht. Das war eine Kurzschlussreaktion, ein echter Blackout. Trotzdem wollen sie weiter zusammenarbeiten, darin sind sie sich einig. Jedenfalls waren sie das, solange sie unter sich waren.
Aber jetzt, da der Boss vor ihnen steht und mit seiner Stimme gefährlich leiser und immer leiser wird, begreifen sie schnell, dass es sinnlos ist, sich mit ihm anzulegen. Er ist bis zum Äußersten gereizt und angespannt. Da würde jeder von ihnen den Kürzeren ziehen. Selbst Adrian traut sich plötzlich nicht mehr, ihr Anliegen noch einmal vorzubringen.
»Wir machen diesen Wechsel. Oder hat irgendjemand etwas dagegen? Vielleicht ein Argument?« Eindringlich blickt er von einem zum anderen und hat sein Ziel sofort erreicht: Sie fühlen sich klein und mickrig. Wie er das letzte Wort betont hat, hätte er sie ebenso gut ohrfeigen können. Als wären sie allesamt zu blöd, um überhaupt die Bedeutung des Wortes »Argument« zu kennen. Keiner von ihnen wird es nun noch wagen, den Mund auch nur zum Husten aufzumachen.
Er muss diesen Winzling aus der Gruppe entfernen, es gibt keinen anderen Weg. Die Anweisung hat er inzwischen auch von ganz oben erhalten. Der Bursche ist eine doppelte Gefahr für sie alle: Erstens wird er als Mörder gesucht. Und zweitens darf jemand mit einem so schwachen Nervenkostüm auf keinen Fall bei weiteren Aktionen dabei sein. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann er das nächste Mal ausflippt.
Also muss er verschwinden. Aus der Gruppe und aus der Stadt. Was dann woanders mit ihm passiert, ist nicht mehr seine Sache. Obwohl es ihm um den Jungen irgendwie sogar leidtut. Bis zu dem Patzer heute Nacht hat er immer gut und zuverlässig gearbeitet. Ein passender Ersatz für ihn wird nicht leicht zu finden sein.
Aber selbst wenn er wollte, gegen die Anweisung von oben ist er machtlos. Und wenn sich erweisen sollte, dass er Befehle nicht nach unten durchsetzen kann, dann ist er schneller weg vom Fenster, als er gucken kann. Um das zu wissen, kennt er den Laden lange genug. Er ist ja sozusagen groß geworden in der Organisation. Aber die Sache hier scheint erledigt, sie haben es geschluckt, keiner wird mehr aufbegehren, daran zweifelt er nicht und ist zufrieden.
Langsam dreht er sich Richtung Ausgang und glaubt, seinen Ohren nicht trauen zu können, denn er hört nun doch eine Stimme. Leise zwar, aber deutlich.
»Ich habe ein Argument«, sagt die Stimme. »Wir sind ein Team. Dieser Zwerg hier gehört zu uns, auch wenn er einen Fehler gemacht hat. Und der Ersatzmann ist noch nicht so weit.«
Wie erstarrt hält der Boss inne. Natürlich weiß er, zu wem die Stimme gehört. Es ist der, der in der Nacht die Brieftasche aufheben wollte, der die Faust des Erschlagenen zu spüren bekam. Der Boss hört, wie er aufsteht und sich direkt hinter ihn stellt. Er spürt seinen Atem im Nacken.
»Ich dachte«, flüstert er fast, »das hätten wir geklärt?«
»Haben wir nicht«, beharrt der andere stur. »Der neue Zwerg taugt nicht für solche Jobs. Der tut nicht mal einer Fliege was, die sich auf seine Nase setzt.« Und nach einer kurzen Pause sagt er den verhängnisvollen Satz: »Er will sowieso aussteigen.«
Der Boss spürt, wie die Wut in ihm hochkocht. Was bildet dieser Rotzlöffel sich ein? Will er seine Karriere zerstören?
»Aussteigen? Ich hör wohl nicht richtig.«
»Doch, tust du.«
»Warum hab ich das verdammte Scheißgefühl, dass du es warst, der diesem Hosenscheißer das eingeredet hat? Warum bloß?«
Will er sich ihm in den Weg stellen? Will diese unbedeutende Kreatur sich vielleicht sogar der ganzen Organisation in den Weg stellen? Zu allem Überfluss scheint er nun auch noch mutiger zu werden.
»Der packt das einfach nicht.« Es scheint fast, als sei er erleichtert, dass er diesen Satz endlich aussprechen kann. »Und er will es auch nicht.«
»Um das mal klarzustellen«, fragt der Boss, »sagst jetzt nur du das? Oder hat er das selbst gesagt?« Der andere überhört scheinbar die bedrohliche Schärfe in seiner Stimme, die klingt wie ein frisch geschliffenes Messer.
»Er selbst hat es gesagt.« Tatsächlich lächelt er ein bisschen. »Und er hat auch …«
Im nächsten Augenblick, völlig unvorhersehbar, schlägt ihm der Boss mit der Rechten hart ins Gesicht. Die Linke landet an seiner Schläfe. Er knallt gegen die Wand, sackt auf den Boden, aber der Zorn vom Boss ist noch nicht gestillt. Immer weiter schlägt er auf den völlig Wehrlosen ein. Wie gelähmt schauen die anderen zu. »Hör auf! Du bringst ihn ja um!«
Der Schrei des Mädchens ist wie ein Weckruf. Endlich lässt der Boss von seinem inzwischen reglosen Opfer ab. Langsam stehen die anderen auf und sammeln sich um ihn herum. Fassungslos starren sie den am Boden Liegenden an. Es ist totenstill.