34. KAPITEL
SKYLAR
Wenn ich den Abend schon nicht mit Landon verbringen konnte, war Dinner mit Avery die perfekte Alternative. Ich lächelte die Platzanweiserin an, als ich das Restaurant betrat, das sie mir per Textnachricht genannt hatte. Ich würde diesen Abend mit meiner Freundin und später mit einem Mann verbringen, der mein Leben verändert hatte, ob er es wusste oder nicht. Ich hatte beschlossen, dass ich Landon erst später reinen Wein einschenken würde. Ich würde ihm sagen, dass meine Gefühle für ihn stärker geworden waren, dass ich nie zuvor etwas Ähnliches für einen Mann empfunden hatte und dass ich den Vertrag mit der Sapphire
ablehnen wollte.
Er sollte nicht das Gefühl haben, dass ich über diesen Sommer hinaus etwas von ihm erwartete. Aber er sollte erfahren, dass er ein guter, freundlicher, ehrlicher Mann war, der meinen Blick auf alle Männer für immer verändert hatte. Wir hatten uns auf eine Affäre geeinigt, und wenn er nach wie vor nicht mehr von mir wollte, würde ich damit leben. Aber ich wollte mehr. Zum ersten Mal in meinem Leben wollte ich einen Mann. Und zwar nicht irgendeinen. Ich wollte Landon James.
»Skylar?«, rief eine vertraute raue Stimme hinter mir.
Ich drehte mich um und blickte Landon ins Gesicht. Ich strahlte ihn an. »Was machst du denn hier?
«
Sein Blick wanderte an meinem Kleid hinunter und wieder herauf und hinterließ eine heiße Spur auf meiner Haut. Er legte mir eine Hand um die Taille und küsste mich. »Das wollte ich dich auch gerade fragen. Ich dachte, du bist mit einer Freundin zum Dinner verabredet?«
»Bin ich auch, genau hier.« Ich legte ihm eine Hand auf die Brust und genoss die beruhigende Festigkeit seiner Muskeln. »Aber was ist mit dir? Bist du …?«
»Ich treffe mich mit meinem Bruder.«
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte die Platzanweiserin.
»Ja.« Ich wollte nicht unhöflich sein, aber ich war noch nicht bereit, mich aus Landons Armen zu lösen. »Ich treffe mich mit ein paar Freunden. Der Tisch ist auf den Namen Wolf reserviert.«
»Mr und Mrs Wolf sind bereits eingetroffen. Kommen Sie, ich führe Sie zu Ihren Plätzen.«
»Oh nein«, sagte ich. »Wir sind nicht zusammen hier.« Ich blickte zu Landon auf, der die Stirn runzelte.
»Ehrlich gesagt glaube ich doch, dass wir zusammen hier sind«, entgegnete er.
Ehe ich antworten konnte, entdeckte ich Avery, die mir vom anderen Ende des Lokals aus zuwinkte, und Landon bedeutete mir mit einer Geste, der Platzanweiserin zu folgen. Ich blickte über die Schulter, und er folgte mir.
»Skylar, Landon!« Avery sprang von ihrem Stuhl auf und schloss mich in die Arme. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Landon von Hayden umarmt wurde. Waren die beiden etwa Brüder?
»Hi«, sagte ich, während ich noch versuchte, die Puzzleteile zusammenzusetzen. »Freut mich, euch zu sehen.« Hayden küsste mich auf die Wange und zog den Stuhl gegenüber Avery heraus
.
»Dann bist du Landon gerade vor der Tür in die Arme gelaufen?«, fragte Avery.
»Seid ihr Brüder? Aber dein Nachname lautet doch James.«
Hayden schnaubte. »Du und deine Decknamen. Hast du dich schon mal gefragt, wie andere Menschen mit einem einzigen Namen zurechtkommen?«
»Woher kennst du meinen Bruder?«, fragte Landon mit gekrauster Stirn.
»Decknamen?«, fragte ich.
»Seid ihr beide zusammen auf einem Schiff?«, fragte Avery. »Das ist ja großartig! Skylar war meine Zweite Stewardess, als ich Hayden kennengelernt habe.«
»Warum hast du behauptet, dein Name sei James?«, fragte ich und suchte nach Gründen, aus denen zwei Brüder unterschiedliche Nachnamen haben konnten. »Hättest du ›Wolf‹ gesagt, hätte ich eins und eins zusammengezählt.«
»Na, das ist doch der Sinn der Sache«, sagte Hayden. »Wenn es um ihn selbst geht, hat mein kleiner Bruder was dagegen, dass die Leute eins und eins zusammenzählten.«
Ich drehte mich zu Landon, und die Art, wie er meinem Blick auswich, ließ mich erschauern. Er war nicht
Landon James?
»Schließlich spricht mich an Bord keiner mit Nachnamen an. Ich hätte fast vergessen, dass ich auf dem Schiff James heiße«, antwortete er.
»Aber warum benutzt du überhaupt einen anderen Namen?«
Er atmete tief durch. »Gewohnheit. Es fällt mir nun mal schwer, offen zu sein.«
»Jetzt trinkt doch erst mal was.« Hayden rief nach dem Kellner, während ich noch immer Landon anstarrte und auf eine Erklärung wartete – irgendeine.
»Ich brauche einen Whiskey«, sagte Landon
.
»Warum spricht Hayden von Decknamen?«, fragte ich, denn ich wollte die Sache nicht auf sich beruhen lassen. »Verheimlichst du uns etwas?«
Avery stupste Hayden in die Rippen.
»Was ist?«, fragte er.
»Das ist nicht gerade hilfreich«, sagte Avery, und an uns gewandt fuhr sie fort: »Bin ich begriffsstutzig oder …? Seid ihr beide …? Ist Landon der Typ, mit dem du …? Er ist doch der, mit dem du am Strand warst, oder?«
Allmählich glaubte ich, dass der Mann neben mir alles Mögliche war, aber nicht der, mit dem ich am Strand gewesen zu sein glaubte.
Landon schüttelte den Kopf. »Es ist nichts. Du weißt, dass ich mich mit Private Security und Militärberatung beschäftige. Es ist nur eine Gewohnheit. Eine reine Vorsichtsmaßnahme.«
Was zum Teufel war Militärberatung? Das klang nicht nach der Arbeit eines Bodyguards.
»Landon stellt sein Licht gern unter den Scheffel«, sagte Hayden. »Er ist der Beste in der Branche, und er hat gerade sein äußerst erfolgreiches Unternehmen verkauft. Darum erwarte ich, dass du heute Abend bezahlst, kleiner Bruder, und ich werde einen sehr guten Wein bestellen.«
»Der Beste in welcher Hinsicht? Als Wachmann?« Wovon sprach Hayden da? »Und was für ein Unternehmen hast du gerade verkauft?« Es war, als hätte Hayden mir einen Fremden vorgestellt. Offenbar wusste ich überhaupt nichts über Landon.
»Private Security ist mehr, als nur Wachmann zu sein«, erklärte Landon.
»Und was heißt das genau?« Ich fühlte mich, als stellte ich ständig Fragen, auf die ich keine Antworten bekam, und das
brachte meinen Magen zum Rebellieren. Ich kannte Landon doch, oder etwa nicht? Ihm vertraute ich, obwohl ich ein Mensch war, der eigentlich niemandem vertraute.
»Ich hatte eine Firma, die private Sicherheitsdienste leistet.«
»Eine eigene Firma?«
»Mein Bruder gibt nicht gern an, aber ja, er hatte ein sehr erfolgreiches Unternehmen«, sagte Hayden.
Ich starrte Landon ins Gesicht, doch seine Miene blieb komplett ausdruckslos.
»Und dann hast du beschlossen, zum Deckarbeiter umzuschulen?«
»So ähnlich«, sagte er. »Können wir später darüber reden? Und Hayden, kannst du bitte endlich den Mund halten, verdammt noch mal?«
»Landon«, sagte Avery. »Ich weiß nicht viel, aber ich kenne Skylar, und was auch immer ihr einander bedeutet, sie hat es verdient, dass du aufrichtig zu ihr bist.«
»Diesen Luxus kann ich mir in meinem Job nicht immer leisten«, sagte er.
Seine Worte trafen mich, jedes einzelne verschlug mir den Atem. Er gab zu, dass er nicht ehrlich zu mir gewesen war und auch jetzt nicht mit offenen Karten spielte.
Die Kellnerin kam mit unseren Drinks, aber Alkohol war das Letzte, was ich wollte. Mein Blick war lange genug benebelt gewesen.
»Du bist nicht als Deckarbeiter an Bord? Das verstehe ich nicht. Schenk mir endlich reinen Wein ein, Landon.«
Landon warf seinem Bruder über den Tisch hinweg einen verärgerten Blick zu.
»Sei nicht wütend auf deinen Bruder, weil er mir erzählt hat, was ich von dir hätte hören müssen. Er ist nicht derjenige, der gelogen hat.
«
»Ich habe nicht gelogen«, erwiderte Landon. »Aber ich habe dir auch nicht die ganze Wahrheit erzählt.«
Ich wartete auf seine Erklärung, wünschte mir verzweifelt, das Gefühl von Betrogensein loszuwerden, das sich in mir Bahn zu brechen drohte. Aber es kam nichts. Nur Schweigen.
»Himmel, Landon. Wer bist du?«
Er drehte sich zu mir und strich mir über den Nacken. »Du weißt, wer ich bin.«
Ich schüttelte ihn ab und rückte auf meinem Stuhl ein Stück fort. »Nein, das glaube ich nicht.«
»Warte mal«, sagte Hayden. »Ist das die Frau, von der du mir gestern Abend erzählt hast? Seid ihr beiden …?«
Ich bekam undeutlich mit, wie Avery Hayden auf der anderen Seite des Tisches zum Schweigen zu bringen versuchte, aber ich war vollständig auf Landon fokussiert. Er sollte mir erklären, was passiert war, seitdem wir dieses Restaurant betreten hatten. Ich wollte wissen, wer er war.
War es möglich, dass der Mann, dem ich mich geöffnet, dem ich Dinge erzählt hatte, über die ich nie zuvor gesprochen hatte, gar nicht derjenige war, der er zu sein vorgab? Stellte sich nun heraus, dass der Mann, der es mir ermöglicht hatte, erneut zu vertrauen, der letzte Mensch war, dem ich hätte vertrauen sollen? Sein Schweigen ließ mein Misstrauen eskalieren. Ich gab ihm eine Chance, mir alles zu erklären, bekam aber nur halbherzige Rechtfertigungen und bruchstückhafte Informationen vorgesetzt.
Wie konnte ich mich von diesem Kerl dermaßen zum Narren halten lassen? Im Rückblick hatte seine Geschichte, wie er plötzlich zum Deckarbeiter geworden war, weder Hand noch Fuß – er war zu alt dafür, und die Art, wie er seine Entscheidung begründete, ließ ihn als Verlierer dastehen, obwohl er
tatsächlich immer konzentriert und fleißig gewesen war und seine Arbeit rein instinktiv gut und richtig gemacht hatte.
Aber solange ich hier saß, würde ich keine weiteren Antworten bekommen.
»Ich muss gehen«, sagte ich, schob meinen Stuhl zurück und stand auf. »Tut mir leid, Avery, Hayden. Hat mich sehr gefreut, euch beide zu sehen. Aber ich muss jetzt los.« Ich wollte weg von Landon James oder Wolf oder wie auch immer er sich zu nennen beliebte.
Bei diesem Mann hatte ich mir erlaubt, all meine Regeln zu brechen. Ich hatte ihn an mich herangelassen. Ich hatte mir gestattet, seine Berührungen zu genießen, seine Umarmung zu brauchen. Wie hatte ich nur so dumm sein können?
Er war ein Lügner
.
»Nein, bleib hier«, sagte Avery und stand ebenfalls auf.
Ich konnte Landon nicht einmal ansehen. »Es tut mir leid. Ich rufe dich an, Avery. Ich kann nicht …«
Ich musste entkommen, ehe ich mich lächerlich machte, ehe mir Tränen der Traurigkeit und Frustration übers Gesicht liefen. Also drehte ich mich um und floh von dem Tisch, lief so verzweifelt auf die Tür zu, als befände ich mich unter Wasser und könnte erst wieder atmen, wenn ich draußen an der frischen Luft war. Ich wollte einfach nur nach Hause, aber ich besaß kein Zuhause. Jahrelang hatte ich mich von einer Jacht auf die andere begeben. Ich gehörte nirgendwohin. Ich hatte geglaubt, Landon sei jemand, mit dem ich mir eine Zukunft aufbauen konnte, dabei war er genau das, wovor ich all die Jahre weggelaufen war.