„Wieso hast du mir eigentlich nie erzählt, dass du einen Cousin hast?“, fragte Aiden, als Liv sich mit einem Kaffee in der Hand auf seine Schreibtischkante setzte.
„Hast du Cousins oder Cousinen?“ fragte sie und zog die Augenbrauen hoch.
Aiden runzelte verwundert die Stirn, weil sie eine so einfache Frage nicht beantwortete. „Ähm… ja. Ein paar oben im Norden und einen in Spanien. Aber ich sehe sie kaum, also warum sollte ich von ihnen reden?“
Liv zuckte die Achseln. „Genau. Matt hat in Australien gelebt, seit er mit der Schule fertig war. Ich habe ihn bei der Beerdigung seines Vaters kurz getroffen, aber davor hatte ich ihn zum letzten Mal bei irgendeiner Hochzeitsfeier gesehen, als wir beide noch Teenager waren. Unsere Familien stehen sich nicht besonders nahe.“
„Und wie seid ihr dann wieder in Kontakt gekommen?“
Liv trank einen Schluck Kaffee, bevor sie antwortete. „Wir sind schon seit ein paar Jahren auf Facebook befreundet, haben aber nicht viel miteinander kommuniziert. Aber dann hat er mir eines Tages eine Message geschrieben, weil er wieder nach England ziehen wollte und daran dachte, für den Anfang nach Bristol zu kommen. Er hat es geschafft, einen Job bei einem privaten Fitnessclub hier zu kriegen, und ich habe ihm
geholfen, eine Unterkunft zu finden – ein entfernter Bekannter hatte ein Zimmer zu vermieten. Nachdem er sich ein bisschen eingelebt hatte, sind wir zusammen was trinken gegangen.“
„Trotzdem. Nicht zu fassen, dass ich noch nie was von ihm gehört habe, ehe er gestern bei unserem Treffen aufgetaucht ist“, maulte Aiden. „Sexy Cousins sind keine Geheimnisse, die man für sich behalten sollte.“
Liv lächelte wissend. „Ja, ich habe mir schon gedacht, dass er dein Typ ist. Er sieht fantastisch aus, oder?“
„Liv, iih. Er ist dein Cousin!“
„Natürlich, aber das heißt noch lange nicht, dass ich seine Schönheit nicht auf eine völlig kontaktfreie Art und Weise würdigen kann. Schon erstaunlich, wie er sich herausgemacht hat. Soweit ich mich erinnern kann, war er als Teenager ziemlich schlaksig und verpickelt.“
„Waren wir das nicht alle.“ Aiden konnte sich nur zu gut an die verheerenden Auswirkungen der galoppierenden Hormone auf seinen Körper erinnern. Es war nicht schön gewesen. „Und ja, er sieht umwerfend gut aus. Nur an seiner Persönlichkeit sollte er noch arbeiten. Ist er so hetero, wie er wirkt?“ Ein bisschen Optimismus schadete ja nicht.
„Ich glaube schon. Er war mit einer Australierin verlobt, aber daraus ist wohl nichts geworden – offensichtlich. Ich kann mich erinnern, Fotos von ihnen auf Facebook gesehen zu haben.“
Aiden seufzte. „Verdammt. Die heißen Typen sind immer hetero.“
„Du weißt, dass das nicht stimmt.“ Liv lachte. „Außerdem sollst du mit ihm trainieren, nicht ihn verführen.“
„Aber ich wüsste jede Menge andere Methoden, wie wir zusammen ins Schwitzen kommen könnten. Und die machen alle mehr Spaß als Laufen.“
„Das glaube ich dir gern. Aber leider wirst du wohl kaum Gelegenheit bekommen, dein Wissen praktisch umzusetzen.“
Das Telefon auf Livs Schreibtisch läutete, und sie stand auf, strich ihren Rock glatt und seufzte. „Okay. Anscheinend ist meine Pause vorbei.“
Sie nahm den Hörer ab und lauschte eine Zeitlang. „Ich bin schon unterwegs. Und sehen Sie zu, dass auch jemand vom Reinigungspersonal runter kommt.“ Sie legte auf und verzog das Gesicht. „Irgendein Bengel hat sich unten im Planetarium übergeben. Sie wollen, dass ich nach ihm schaue.“
„Na dann, viel Spaß.“ Aiden grinste. „Ich wette, jetzt bist du froh, dass du diesen Erste-Hilfe-Kurs gemacht hast, hm? Autsch!“ Er duckte sich weg, als Liv ihn im Vorbeigehen mit dem Finger gegen den Nacken schnipste.
Aiden hatte
einen langen und überwiegend langweiligen Tag hinter sich, und als er nach Hause kam, war ihm überhaupt nicht danach, gleich wieder loszugehen und sich körperlich zu verausgaben. Er warf im Vorbeigehen einen sehnsüchtigen Blick auf sein Sofa, wagte aber nicht, sich hinzusetzen – nicht einmal für fünf Minuten, denn sonst würde er nie wieder aufstehen.
Im Schlafzimmer zog Aiden sich bis auf die Unterhose aus und kramte in der Kommode nach seinen Laufklamotten. Er hatte sie im letzten Winkel hinter seinen normalen Sachen verstaut, und als er sie herauszog, erinnerte er sich mit einem Anflug von Beschämung daran, dass er seit Anfang Dezember nicht mehr im Fitnessstudio gewesen war. Damals hatte er sich eine furchtbare Erkältung zugezogen, die wochenlang nicht weggehen wollte. Jetzt war es Mitte Januar, also hatte er schon lange keinen Sport mehr getrieben – und noch länger kein Kardio-Training mehr gemacht.
Als Aiden sich gerade die Turnschuhe anzog, klingelte es an der Tür. Er ließ die Schnürsenkel offen und ging aufmachen.
Matt wartete vor seiner Haustür, außer Atem und rotwangig vor Kälte.
„Hi“, grüßte er und hüpfte dabei von einem Fuß auf den anderen. „Bist du soweit? Können wir gleich los?“
„Fast. Willst du kurz reinkommen?“
„Nein, ich warte lieber hier draußen. Ich muss in Bewegung bleiben, sonst werde ich steif.“
Aiden grinste und ließ seinen Blick von Matts breiten Schultern über seinen muskulösen Brustkasten bis nach unten zum Saum seines eng anliegenden roten Tops wandern. „Ja. Das wollen wir natürlich nicht.“ Er riss sich los, bevor eine andere Art von Steifheit zum Problem für ihn werden konnte. „Okay, bin gleich wieder da.“
Er ging wieder hinein, band sich die Turnschuhe zu und schnappte sich seine Schlüssel. Als er vor die Tür trat und sie hinter sich zumachte, sah er sich Matts hochgerecktem Hintern gegenüber. Matt stand mit dem Rücken zu ihm in vornübergebeugter Haltung da und berührte seine Zehen mit den Fingerspitzen.
Aiden räusperte sich. „Können wir dann?“
„Ich dehne nur noch eben meine hinteren Oberschenkelmuskeln.“ Matts Stimme klang leicht gedämpft.
Und versuchst mich anscheinend auch gleich umzubringen
, dachte Aiden.
Matt richtete sich auf und drehte sich um. Er bog ein Bein hinter seinem Rücken nach oben und packte seinen Fuß, um die vorderen Oberschenkelmuskeln zu dehnen. „Du solltest dich auch dehnen, bevor wir loslaufen. Vor allem, wenn du eine Zeitlang gar nichts gemacht hast.“
„Du hast mit Liv geredet“, sagte Aiden rundheraus.
„Ja, sie meinte, du wärst nicht mehr ganz so gut in Form“, räumte Matt ein und zog eine Augenbraue hoch.
„Frechheit. An meiner Form gibt’s nichts auszusetzen.“ Aiden zog den Bauch ein und tätschelte ihn. „Nur weil ich nicht
jedes Wochenende einen Halbmarathon laufe, heißt das noch lange nicht, dass ich mich gehen lassen habe.“
„Wenn du meinst.“ Matt sah nicht überzeugt aus.
Aiden war erleichtert, dass Matt ein gemäßigtes Tempo vorlegte, als sie durch die Straßen von Westbury-on-Trym liefen. Es war ein trockener Abend und nicht zu kalt für die Jahreszeit. Schon nach ein paar Minuten brach Aiden der Schweiß aus, und er war schmählich außer Atem. Er tat sein Bestes, um sich nichts anmerken zu lassen, hielt den Kopf gesenkt und ignorierte das Brennen in seine Lungen, während sie durch die dunklen Straßen rannten.
„Alles okay?“, fragte Matt. „Sag Bescheid, wenn du eine Pause brauchst.“
„Geht schon“, stieß Aiden hervor. Mehr als ein, zwei zusammenhängende Wörter herauszubekommen war im Moment nicht möglich. Aber er wollte auf keinen Fall zugeben, wie schwer er sich tat.
„In ein paar Minuten halten wir an und dehnen uns nochmal. Ich will dich beim ersten Mal nicht gleich überfordern.“
Aiden hatte nicht genug Energie, um zu protestieren. „‘kay.“
Als Matt Halt machte, klappte Aiden zusammen. Er beugte sich vor, stützte die Hände auf die Knie und japste mühsam nach Luft.
„Scheiße.“ Er richtete sich auf, atmete noch ein paarmal tief durch und wartete darauf, dass sein Puls wieder runterging. Sein Herz hämmerte, als wollte es ihm gleich aus der Brust springen. „Anscheinend bin ich doch nicht so fit, wie ich dachte.“
Matts Augen funkelten im Schein der Straßenlaterne über ihm vor Belustigung. „Siehst du? Du brauchst mich.“
„Was bist du, mein selbsternannter Personal Trainer oder was?“, schniefte Aiden.
„Wohl eher von Liv ernannt. Aber mit Fitness kenne ich mich aus. Im Moment nehme ich keine privaten Klienten an, weil ich
Vollzeit arbeite, aber normalerweise berechne ich für Einzeltraining vierzig Mäuse die Stunde.“
„Meine Güte, hab‘ ich ein Glück, dass ich die ganzen Schmerzen gratis kriege.“
„Du wirst mir danken, wenn du mehr als ein paar hundert Meter weit rennen kannst, ohne dass dir die Puste ausgeht. Du hast nur einen Körper. Auf den solltest du gut aufpassen.“
Aiden lehnte sich an den Zaun, um seine Wadenmuskeln zu dehnen, die jetzt schon wehtaten. Er schnaubte, als ihm aufging, wo sie waren. „Ist am Friedhof vorbei zu rennen eine gezielte Abschreckungstaktik? Machst du das mit allen deinen Klienten?“
„Nur mit den sturen.“ Matt grinste. „Na dann, das reicht als Verschnaufpause. Versuchen wir, nochmal fünf Minuten zu laufen.“
„Du bist vielleicht ein Sklaventreiber“, seufzte Aiden. Aber insgeheim genoss er das Wortgeplänkel. Es war gut zu wissen, dass Sinn für Humor unter Matts Ernsthaftigkeit und Zielstrebigkeit schlummerte. „Aber ich mach‘ dich dafür verantwortlich, wenn ich einen Herzinfarkt kriege und tot umfalle, bevor ich es nach Hause schaffe.“
Das Lächeln verschwand. „Wirst du nicht.“ Matts Stimme war schroff. „Jetzt hör auf zu jammern und lauf los.“
Sie liefen insgesamt dreißig Minuten, aber sie ließen es langsam angehen, und Matt erlaubte Aiden nach jedem Fünf-Minuten-Intervall eine Pause zum Dehnen – und um wieder zu Atem zu kommen. Er nahm Aidens Scherze und Gemaule hin, trug aber nach dem unbeschwerten Moment vorhin nicht mehr viel dazu bei.
Als sie wieder bei Aidens Wohnung ankamen, waren seine Beine müde und seine Lungen brannten. Sie machten auf dem Gehweg draußen Halt, und Matt joggte weiter auf der Stelle. Der Mann war eine Maschine.
„Ich gehe besser gleich nach Hause. Ich möchte in
Bewegung bleiben, jetzt, wo ich warm bin. Geht’s bei dir am Mittwoch um dieselbe Zeit?“, fragte Matt. Er war kaum außer Atem; es war zum Kotzen. Aiden war schweißgebadet, und wenn er nicht versucht hätte, Matt zu imponieren, hätte er jetzt flachgelegen.
„Ja, okay.“ Aiden versuchte zu verbergen, wie außer Atem er war, aber es kam als Keuchen heraus.
„Sieh zu, dass du dich jetzt gut dehnst, sonst hast du morgen Muskelkater. Aber so schlecht warst du gar nicht, wenn man es recht bedenkt.“
„Freut mich, dass ich keine allzu große Enttäuschung war“, sagte Aiden säuerlich.
„Ich hatte mit Schlimmerem gerechnet.“
Es klang nicht mal so, als würde er scherzen. Arroganter Pinsel.
„Ich bin kein völlig hoffnungsloser Fall, weißt du.“ Aiden haderte mit sich selbst, weil er Ausreden und Rechtfertigungen vorbrachte, aber er konnte einfach nicht anders. „Ich konnte in den letzten paar Monaten einfach nicht viel machen, weil ich erkältet war, und dann kam Weihnachten…“ Er verstummte betreten, als ihm klar wurde, wie jämmerlich sich das anhörte. Denn Weihnachten war selbstverständlich auch für Matt gekommen, und doch hüpfte er hier munter von einem Fuß auf den anderen und sah aus, als könnte er nochmal fünf Meilen laufen, ohne es groß zu merken.
Matts Lippen zuckten und er zog die Augenbrauen hoch. „Also dann, Mittwoch?“
Aiden stemmte die Hände in die Seiten und lehnte sich nach hinten, um seinen unteren Rücken zu dehnen, der alarmierend knackste. „Ja“, antwortete er. „Ich kann um dieselbe Zeit.“
„Okay, also bis dann.“
„Danke, Matt. Tschüss.“
Matt machte kehrt und rannte los, wobei er ein deutlich schnelleres Tempo vorlegte als sie vorhin gelaufen waren.
Jesus. Aiden war nicht bewusst gewesen, dass Matt sich so sehr zurückgehalten hatte. Er sah ihm nach, als Matt die Lichtkegel der Straßenlaternen passierte. Seine Schritte hallten von den Reihenhäusern wider. Als er am Ende der Straße um die Ecke bog und außer Sicht kam, beugte Aiden sich vor, um die Rückseite seiner Oberschenkel zu dehnen, und seine Muskeln zitterten vor Anstrengung.
Mit Matt zu trainieren würde schmerzhaft werden.
Am Dienstagmorgen konnte
Aiden sich kaum bewegen. Seine Beine waren über Nacht verdammt steif geworden, und er fand es schockierend, wie sehr sie schmerzten. Er kroch aus dem Bett und zuckte zusammen, als er sich behutsam streckte.
War es wirklich schon so lange her, seit er regelmäßig Sport gemacht hatte?
Vermutlich schon, denn es war eins zum anderen gekommen. Erst hatte er vor vier Jahren mit Rugby aufgehört, nachdem ihn eine Schulterverletzung für eine Saison spielunfähig gemacht hatte, und war nie dazu gekommen, wieder damit anzufangen. Vor ungefähr einem Jahr war er noch gelegentlich laufen gegangen, doch das hatte er sich abgewöhnt, nachdem mit dem Fahrrad zur Arbeit zu fahren das Laufen als regelmäßige sportliche Betätigung ersetzt hatte. Aber dann hatte sein Fahrrad einen Platten gehabt, und im letzten Sommer war das Wetter echt mies gewesen, daher hatte er das bereitwillig als Ausrede benutzt, um mit dem Auto zur Arbeit zu fahren.
Und dann waren da noch die Mitgliedsbeiträge für den Fitnessclub, die er seit achtzehn Monaten bezahlte. Doch sein Eifer hatte bald nachgelassen; anfangs war er dreimal die Woche hingegangen, dann nur noch einmal, und dann nicht einmal mehr das. Wenn er jetzt so zurückdachte, sah Aiden
die stetig fallende Tendenz bis zu seinem momentanen Zustand mangelnder Fitness.
Er musterte sich kritisch im Badezimmerspiegel, während er das Wasser in der Dusche warm laufen ließ. Er war immer noch gebaut wie ein Rugbyspieler – groß und breit, mit mehr Muskeln als Fett. Als er sich seitwärts zum Spiegel drehte und mit der Hand über seinen Bauch fuhr, kitzelten die dunklen Haare seine Handfläche. Er piekte in das Speckpolster um seinen Nabel. Wieder etwas straffer zu werden, würde ihm nicht schaden, aber mit diesem neuen Trainingsplan sollte das nicht lange dauern. Vielleicht würde er Liv am Ende dafür danken, falls es sich auszahlte.
Den ganzen Tag
über ignorierte er angelegentlich Livs schadenfrohes Grinsen. Während er an seinem Schreibtisch saß, vergaß er seinen Muskelkater. Aber immer, wenn er aufstand, protestierten seine Oberschenkel und sein Hintern schmerzhaft, und er war nicht besonders gut darin, sein Zusammenzucken zu verbergen.
„Von nichts kommt nichts“, spottete Liv.
„Na, es tut schweinemäßig weh, also sollte besser ordentlich was dabei rauskommen“, grummelte Aiden.
„Eigentlich dürfte es nicht so schlimm sein. Wie lange seid ihr gelaufen – insgesamt dreißig Minuten, hast du gesagt? Wenn du dich hinterher gedehnt hast, solltest du keine so großen Beschwerden haben.“
„Vielleicht muss ich mich nächstes Mal ein bisschen besser dehnen“, räumte Aiden ein.
Nachdem Matt gegangen war, war Aiden so kaputt und so hungrig gewesen, dass er mit einer Lasagne aus der Mikrowelle aufs Sofa gefallen war. Nach dem Essen war er vor dem Fernseher eingedöst und eine Stunde später wieder
aufgewacht, immer noch in seinen Laufklamotten. Doch inzwischen hatten seine Muskeln sich verkrampft, und der Schaden war angerichtet. Er hatte sich gedehnt, bevor er unter die Dusche gegangen war, aber das war zu wenig und zu spät gewesen.
Lektion gelernt.
Als Matt
am Mittwoch wieder auf der Matte stand, ging es Aidens Beinen schon deutlich besser. Sie waren immer noch ein bisschen steif, aber das hatte über Nacht deutlich nachgelassen.
„Wie ist es dir nach dem Montag gegangen?“, fragte Matt.
„Gut“, log Aiden. „Alles gut.“
Matt sah auch heute wieder rattenscharf aus. Er hatte dasselbe enge rote Lauf-Top an, aber diesmal trug er dazu statt der schlabbrigen Joggingshorts eine eng anliegende schwarze Laufhose, die seine kräftigen Oberschenkel betonte. Aiden riss sich hastig von dem Anblick los. Das letzte, was er brauchte, war einen Ständer beim Laufen; er würde so schon genug Schwierigkeiten haben, überhaupt mitzuhalten.
Und natürlich begann es zu regnen, kaum, dass sie losgelaufen waren. Es hatte den ganzen Tag nach Regen ausgesehen, und Aiden hatte gehofft, dass das Wetter halten würde. Aber das Universum war nicht so nett.
Es war ein besonders unangenehmer Regen. Die Tropfen waren groß genug und fielen dicht genug, um sie schnell zu durchnässen, und dazu wehte auch noch ein Wind, der Aiden beim Laufen das Regenwasser in die Augen trieb.
„Mistwetter“, keuchte er und wischte sich die Augen.
„Ja, ist ein bisschen frisch heute, nicht?“
„So kann man es auch nennen.“
Sie wechselten nach einem ähnlichen Muster wie beim
letzten Mal zwischen Laufen und Ausruhen, aber diesmal ließ Matt sie langsam weitergehen, während Aiden sich verschnaufte. Sie blieben erst stehen, um sich zu dehnen, als sie wieder bei Aidens Wohnung waren. Es regnete immer noch, aber Aiden war es beim Laufen warm geworden, und er ahmte einige von Matts Dehnübungen nach: Waden, vordere und hintere Oberschenkelmuskulatur. Von denen würde er diesmal mit Sicherheit vor dem Abendessen noch ein paar machen.
„Bist du in einem Fitnessclub?“, fragte Matt.
„Ich habe eine Mitgliedschaft im hiesigen Freizeitzentrum.“
„Oh, Henbury? Da habe ich mich auch angemeldet. Ich wollte eigentlich morgen Abend hingehen. Hast du Lust, dich dort mit mir zu treffen und mit mir zusammen zu trainieren?“
Aiden wägte die Möglichkeiten ab. Ein fauler Abend vor dem Fernseher mit ein paar Flaschen Bier gegen noch mehr blöden Sport. Aber dafür würde er Matt bei besserer Beleuchtung als auf der dunklen Straße bewundern können, und das Krafttraining hatte er weiß Gott nötig, wenn er die Hindernisse bei diesem Wettlauf schaffen wollte. Außerdem war Matt wahrscheinlich ein guter Trainingspartner – schon von Berufs wegen – obwohl er eine rechthaberische Nervensäge war.
„Ja, okay“, stimmte er zu. „Wie viel Uhr?“
„Sieben?“, schlug Matt vor.
„Geht klar.“
„Wunderbar.“ Matt grinste. Seine Zähne blitzten im Licht der Straßenlaternen auf und sein Haar war dunkel vom Regen. Er war einfach umwerfend, wenn er lächelte. Wie schade, dass er das nicht öfter tat.
Am Donnerstag trafen
sie sich im Fitnessstudio.
Aiden war ein bisschen spät dran, da er bei der Arbeit aufgehalten worden war. Normalerweise wäre er zu Fuß zum Fitnessstudio gegangen, da es nicht weit von seiner Wohnung entfernt war. Aber bis er schnell eine Kleinigkeit gegessen und seine Sportsachen angezogen hatte, war es bereits sieben. Also fuhr er mit dem Auto, um nur zehn Minuten zu spät zu kommen statt zwanzig.
Beim Betreten des Studios schaute er sich nach Matt um. Um diese Zeit war gewöhnlich recht viel los, und heute war keine Ausnahme. Die meisten Kardio-Geräte waren besetzt, und auch am anderen Ende des großen Raums waren etliche Männer und ein paar Frauen mit Gewichtheben beschäftigt.
Aiden entdeckte Matt auf der Hantelbank. Er lag auf dem Rücken, die Beine gespreizt und aufgestützt, und machte langsam und kontrolliert Bankdrücken mit einer Langhantel, die ziemlich schwer aussah. Aiden näherte sich leise, da er ihn nicht stören wollte. Nur die herausstehenden Sehnen an Matts Hals und der Schweißfilm auf seiner Stirn verrieten seine Anstrengung.
Erst als Matt die Hantel wieder in die Halterung gelegt hatte, begrüßte Aiden ihn.
„Hi, tut mir leid, dass ich zu spät komme.“
Matt wand sich unter der Hantel hervor und setzte sich auf.
„Ich dachte schon, du kommst gar nicht.“ Er massierte sich die Hände und wischte sich dann mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn.
„Oh, Schatz. Ich hätte eine SMS geschickt, wenn ich dich versetzen wollte“, neckte Aiden. „Um nichts in der Welt würde ich eins von unseren Dates verpassen wollen.“
Anstatt zu kichern oder eine sarkastische Bemerkung zu machen, wie Aiden es erwartet hatte, wurde Matt rot und wandte sich ab, ohne zu antworten. Er bückte sich, um sein Handtuch von der Bank zu nehmen.
„Also…“, füllte Aiden das verlegene Schweigen. „Ich
glaube, ich fange mit ein bisschen Kardio an, nur zum Aufwärmen.“
„Gute Idee.“
Aiden schaffte es, einen freien Crosstrainer zu finden. Er fing langsam an und steigerte allmählich den Widerstand und das Tempo. Als er fertig war, blickte er suchend um sich, um zu sehen, wo Matt hingegangen war, und entdeckte ihn auf einer Rudermaschine. Er fing Matts Blick auf und winkte ihm kurz zu, als er an ihm vorbei ging, um sich etwas zu trinken zu holen.
Matt folgte ihm zum Wasserspender. „Bist du bereit für ein bisschen Krafttraining?“
„Okay. Nach dir.“
Aiden musste zugeben,
dass Matt das verdammt gut machte, auch wenn seine Detailverliebtheit echt nervig war. Er beobachtete Aiden mit Argusaugen, behielt seine Haltung im Auge und empfahl kleine Korrekturen, während Aiden Gewichte stemmte.
„Benutz deine Bauchmuskeln“, wies er ihn an, als Aiden an der Schulterpresse trainierte. „Die sind nicht nur zur Zierde da, weißt du. Setz deine Rumpfmuskulatur ein, um deinen Rücken zu schützen und deine Haltung zu stabilisieren.“
„Mach‘ ich ja“, schnaufte Aiden. Er konnte es im Bauch fühlen. Er fühlte es verdammt nochmal überall. Aber als Matt ihn in die Magengegend piekte, strafften sich seine Muskeln noch mehr, und er spürte den Unterschied. „Autsch“, murrte er, aber ohne echte Schärfe. „Verdammter Sklaventreiber. Wie viele noch?“ Seine Muskeln verlangten lautstark nach einer Ruhepause.
„Fünf in diesem Durchgang.“ Matt stellte sich hinter ihn und sah ihm im Spiegel in die Augen. „Langsam. Nicht hetzen.
Langsam ist gut. Fühl den Schmerz und kämpf dich durch.“
„Du hörst dich an wie einer von meinen Ex-Freunden“, brummte Aiden. Er beobachtete Matts Spiegelbild, um zu sehen, wie er reagierte. Und wirklich wurde er wieder rot, aber er schaute nicht weg, und diesmal antwortete er.
„Ein guter Ratschlag für mehr als eine Lebenslage.“
Aiden grinste, und zu seiner Freude erwiderte Matt das Lächeln. Das gab ihm den nötigen Elan, um die Gewichte ein letztes Mal hochzustemmen, auch wenn er dabei ein angestrengtes Stöhnen nicht unterdrücken konnte.
„Gut gemacht.“ Die Berührung von Matts Hand an seiner Schulter überraschte Aiden, als er die Gewichte absetzte.
Doch im weiteren Verlauf des Abends fragte er sich allmählich, wer hier mit wem flirtete.
Er war auf jeden Fall derjenige, der kein Hehl daraus machte. Soweit es ihn betraf, hatte Matt ihm klar signalisiert, dass es für ihn okay war – ihm sogar schmeichelte. Aber Aiden rätselte immer noch, ob Matt wirklich interessiert war oder lediglich die Beachtung durch einen schwulen Mann genoss. Manche heterosexuellen Männer ließen gern mit sich flirten, mehr aber auch nicht. Von einem schwulen Mann begehrt zu werden schmeichelte ihrem Ego und nährte vielleicht sogar ihre verborgenen Fantasien, aber für die Realität griffen sie auf Frauen zurück.
Als letztes machten sie eine Reihe von Bauchmuskel-Übungen; dabei wechselten sie sich auf der einzigen freien Matte ab. Matt ließ es mühelos aussehen, wie er den Oberkörper von der Matte hob, die Hände hinter dem Kopf, so dass die feuchten, dunklen Haarbüschel in seinen Achselhöhlen zu sehen waren. Aiden stand am Fußende, schaute zu und dehnte dabei seine Trizeps. Matt hatte die Stirn konzentriert gerunzelt und zählte leise mit.
„Sechs. Sieben. Acht. Fertig.“ Er legte sich auf den Rücken und streckte die Arme über den Kopf. Seine Brust hob und
senkte sich beim Atmen. Aiden versuchte, sich nicht vorzustellen, wie er mit weniger Klamotten und ausgestreckt auf einem Bett aussehen würde, aber vergeblich. Ja, Matt würde unter ihm verdammt
gut aussehen.
„Bist du jetzt endlich mal müde?“ Er trat sanft gegen die Sohle von Matts Turnschuh. „Dann beweg deinen Hintern.“
Er nahm Matts Platz ein und kopierte die Sequenz, die Matt gemacht hatte. Es war brutal. Vier Durchgänge mit jeweils vier langsamen und acht schnellen Crunches. Nach zweieinhalb Durchgängen brannten seine Bauchmuskeln.
„Jesus“, keuchte er. „Das tut weh.“
„Komm schon, gib mir jetzt bloß nicht auf“, redete Matt ihm zu. Er ging bei Aidens Füßen in die Hocke. „Du hast es fast geschafft.“
„Sadist“, fauchte Aiden. „Dir macht… das hier… viel zu viel Spaß.“ Er stockte bei jeder Hebung seines Körpers. Aber er zwang sich, trotz der Schmerzen weiterzumachen.
Matt zählte die letzten acht Crunches für ihn herunter. „Na also… Acht. Sieben. Sechs…“
Als Aiden fertig war, ließ er sich stöhnend auf die Matte plumpsen und hielt sich mit beiden Händen den Bauch. „Das wird morgen erst richtig
wehtun.“
„Wahrscheinlich.“
Aiden öffnete die Augen, und Matt betrachtete ihn immer noch, aber jetzt mit ernstem Gesicht. Er stand auf, reichte Aiden die Hand und zog ihn hoch, dann klopfte er ihm auf die Schulter.
„Du hast dich heute gut geschlagen. Jetzt geh nach Hause und iss was.“