Als Aiden wieder aus dem Bad kam, schien Matt bereits zu schlafen. Er lag zusammengerollt auf der Seite, mit dem Rücken zu der Lampe, die Aiden angelassen hatte.
Aiden zog sich leise bis auf die Boxershorts aus und hängte seine Klamotten zu denen von Matt über die Stuhllehne. Er blieb für einen Moment neben dem Bett stehen und blickte auf Matt hinab. Seine Gesichtszüge waren im Halbdunkel nur undeutlich zu erkennen, seine Wimpern dunkle, verwischte Kleckse auf seinen Wangen und sein Haar schimmerte in einem tiefen Goldbraun, wo das Licht sich darin fing. Seine Lippen waren leicht geöffnet und er wirkte jünger, irgendwie weicher, als hätte die Erschöpfung sämtliche Spuren seiner sonstigen Arroganz und Selbstsicherheit aus seinem Gesicht getilgt.
„Hör auf, mich anzustarren“, murmelte er plötzlich. Aiden zuckte schuldbewusst zusammen und errötete von den Wurzeln seiner spärlichen Haare bis zu den Zehenspitzen.
„Ich hab‘ nur herauszufinden versucht, ob du noch wach bist“, log er.
„Na, jetzt weißt du’s.“ Matt öffnete die Augen und grinste, und auf einmal war er wieder ganz der Alte. „Kommst du jetzt ins Bett, oder was?“
Aiden ging ums Bett herum und stieg hinein, hinter Matt, der sich nicht zu ihm umdrehte. Er knipste die Lampe aus, und
dann lag er unbeholfen auf dem Rücken, starrte in die scheinbar unendliche Dunkelheit und wartete darauf, dass seine Augen sich anpassten. Mit Matt in seinem Bett war er plötzlich gar nicht mehr schläfrig, trotz der späten Stunde und trotz des Alkohols, den er getrunken hatte. Sein Körper war entspannt und schwer, aber sein Verstand war wach und sich nur allzu deutlich bewusst, dass Matt neben ihm lag und wie seltsam das alles war.
Seltsam, aber nicht verkehrt.
Matt blieb lange still. Aiden hörte ihn nur atmen und nahm an, dass er wie angekündigt bereits am Einschlafen war. Wobei ihm das egal war. Natürlich wollte er Matt; er wollte Matt immer. Aber das konnte warten.
Doch dann rollte Matt sich auf den Rücken, so dass sie Schulter an Schulter lagen und Aiden die Wärme seiner Haut spürte.
„Du bist komplett out, oder? Ich meine… bei allen?“
„Ja.“
Aiden horchte auf das leise Ein- und Ausatmen und wartete darauf, dass Matt weitersprach. Vermutlich steckte ein Sinn hinter der Frage, und es gab vieles, was Aiden ihn gerne gefragt hätte – über seine Sexualität und Beziehungen – aber er wollte die zerbrechliche Intimität zwischen ihnen nicht kaputtmachen, indem er eine Frage stellte, die Matt womöglich nicht beantworten wollte. Aiden hatte nicht vergessen, wie er sich gefühlt hatte, als seine Sexualität noch größtenteils ein Geheimnis gewesen war, das er ganz bestimmt nicht freiwillig mit jemandem geteilt hätte, dem er nicht vertraute. Es war erdrückend gewesen, einen Aspekt seiner Persönlichkeit zu verbergen und die Reaktionen von anderen auf etwas so Grundlegendes zu fürchten.
„Wer war der erste Mensch, vor dem du dich geoutet hast?“
Aiden dachte zurück. „Ein Junge, mit dem ich in der Schule befreundet war und von dem ich dachte, er wäre so wie ich.“
„Hattest du Recht?“
„Ja.“ Aiden lächelte in die Dunkelheit bei der Erinnerung daran, wie erleichtert er gewesen war, als sich das Risiko, das er eingegangen war, ausgezahlt hatte. „Ja, ich hatte Recht. Wir hatten Spaß dabei, das herauszufinden, so viel steht fest.“
„Wann hast du es deinen Eltern gesagt?“
„Als ich zwanzig war. Ich war es leid, dass meine Mutter ständig wenig subtile Andeutungen wegen Freundinnen gemacht hat.“
Matt gab ein leises, belustigtes Schnaufen von sich. „Mütter machen sowas gern. Und wie haben sie es aufgenommen?“
„Ganz gut. Wie sich herausgestellt hat, war meine Mutter deshalb so hinter mir her, weil sie schon was geahnt hatte. Aber sie hat super reagiert – nicht besonders überrascht, und sie hat mich total unterstützt.“
„Und dein Dad?“ Matts Stimme klang gepresst, und Aiden verlagerte sich ein wenig, so dass sich ihre Schultern berührten.
„Er hat ein bisschen länger gebraucht, um damit klarzukommen“, räumte Aiden ein. „Anfangs wollte er es wohl einfach nicht glauben, aber er war ganz okay, wirklich. Meine Stiefmutter hat geholfen.“ Wieder trat eine Pause ein, aber diesmal beschloss Aiden, ein wenig zu drängen. Schließlich war es Matt, der das Thema zur Sprache gebracht hatte.
„Also“, begann Aiden. „Du bist nicht out, nehme ich an?“
„Nein. Na ja… außer bei den Männern, mit denen ich Sex hatte. Ich glaube, die konnten es sich denken.“ Matts leises Lachen war humorlos. „Aber nein. Bei niemandem, der in meinem Leben von Bedeutung ist.“
Autsch,
dachte Aiden. Und dann tadelte er sich im Stillen sofort als Drama-Queen. Matt war schließlich für ihn auch nicht mehr als ein Fickkumpel, und das war ihm nur recht. Beziehungen waren chaotisch und kompliziert. Gefühle beim Sex außen vor zu lassen hatte ihm die letzten zehn Jahre über
gute Dienste geleistet. Es gab keinen Grund, daran jetzt etwas zu ändern.
„Warum sagst du es niemandem?“, fragte Aiden. „Ich weiß, es geht mich ja nichts an, aber ich wundere mich halt. Liv, zum Beispiel. Ihr wäre es egal. Hätten denn deine Eltern ein Problem damit?“
„Meine Mutter wäre nicht froh darüber. Sie löchert mich ständig, dass ich eine Familie gründen und ihr mehr Enkelkinder schenken soll. Aber ich glaube nicht, dass sie mich enterben würde oder so.“ Jetzt lag Anspannung in Matts Stimme, und Aiden wusste, da war etwas, was Matt nicht sagte.
„Und dein Vater?“, drängte er sanft.
Es gab eine lange Pause, und als Matt schließlich antwortete, schien er vor Kummer kaum sprechen zu können. „Das ist jetzt nicht mehr wichtig. Aber er wäre entsetzt gewesen.“
Bei diesen Worten fiel Aiden wieder ein, dass Liv die Beerdigung von Matts Vater erwähnt hatte, und da begriff er.
„Oh“, sagte er. Dann drehte er sich auf die Seite und legte eine Hand auf Matts Brust. Sein Herz pochte unter Aidens Handfläche. „Es tut mir leid.“
„Wir hatten kein gutes Verhältnis.“
„Das macht es vermutlich nicht zwangsläufig besser.“
„Nein. Nein, ich glaube nicht.“ Als Matt seufzte, hob und senkte sich sein Brustkorb unter Aidens Hand. „Ich habe zwanzig Jahre lang um seine Anerkennung gekämpft, und jetzt werde ich sie nie bekommen. Aber ich nehme an, ich bin dankbar, dass er nie von meinen Neigungen
erfahren hat.“ Er spie das Wort regelrecht aus. „Er war in der Army, hatte sehr altmodische Ansichten. Seiner Ansicht nach hätte Homosexualität nie legalisiert werden dürfen. Schon den bloßen Gedanken daran fand er abstoßend.“
Aiden wurde es ganz flau im Magen bei der Vorstellung, mit
einem Vater aufzuwachsen, der solche Dinge sagte – in Gegenwart eines Sohnes, der sich zum eigenen Geschlecht hingezogen fühlte. Zorn flammte in ihm auf, und er legte den Arm um Matts Brustkorb und drückte ihn unbeholfen an sich, um ihm Trost zu spenden.
„Er hat verdammt nochmal keine Ahnung“, knurrte Aiden. „Oder hatte.“
„Ich weiß, dass er Unrecht hat. Ich weiß, dass viele Leute nicht so denken wie er, aber…“ Matt verstummte, und er drehte sich in Aidens Armen, wandte ihm das Gesicht zu. Aiden konnte sein Gesicht in der Dunkelheit nicht erkennen, als er weitersprach. „Aber da ich auch auf Frauen stehe – und das tue ich – verstecke ich mich ja vor nichts.“ Es hörte sich an, als glaubte er, sich verteidigen zu müssen. Als ob er es gewohnt wäre, sich deswegen zu streiten. „Ich mag Sex mit Frauen ja auch, und deshalb fand ich es immer einfacher, Beziehungen mit Frauen zu haben und mich nicht mit Männern einzulassen. Wenn man gelegentlich mal Lust auf Sex mit anderen Männern hat, kriegt man den ja ohne große Probleme. Deshalb sehe ich gar keine Notwendigkeit, offen über meine Sexualität zu reden. Wahrscheinlich werde ich sowieso irgendwann heiraten – eine Frau – und eine Familie gründen und Kinder haben und das sein, was alle von mir erwarten, was mein Vater von mir erwartet hat. Warum also für Ärger sorgen, indem ich mich als bi oute? Das gibt nur Verwirrungen. Die meisten Leute verstehen nicht, was bisexuell heißt. Sie denken entweder, dass man schwul ist und es nicht zugeben will, oder dass man unersättlich ist.“
Aiden erinnerte sich an seine eigene wegwerfende Bemerkung Matt gegenüber. „Ja, ich weiß. Manche Leute reagieren da einfach blöd.“
„Genau.“
„Aber was, wenn du mal einen Mann kennenlernst, von dem du mehr willst als nur Sex?“, fragte Aiden und spürte dann, wie
ihm die Hitze in die Wangen schoss. Das hörte sich ja ganz so an, als wäre er auf etwas Bestimmtes aus. „Ich meine… das könnte dir doch eines Tages mal passieren.“
Aiden wusste, dass er sich auf gefährlichem Gebiet bewegte. Dieselbe Frage hätte er sich auch selbst stellen können, obwohl er und Matt unterschiedliche Gründe dafür hatten, Intimität zu vermeiden. Wobei er das mit seinen Sexfreunden und flüchtigen Affären auch über lange Zeit einwandfrei hingekriegt hatte. Aber jetzt, wo er hier mit Matt im Dunkeln lag, fühlte er sich, als würde er in Treibsand versinken. Und das Erschreckendste daran war, dass er nicht einmal wusste, ob er überhaupt versuchen wollte, wieder auf festen Boden zu kommen.
„Dann würde ich wohl schon eine Lösung finden. Falls es jemals dazu kommt.“
Matt kehrte ihm wieder den Rücken zu, und Aiden ließ seine Hand von Matts Rippen gleiten und auf das Laken fallen. Er wollte näher an Matt heranrücken, ihm Trost bieten, aber stattdessen wälzte er sich auf den Rücken und ballte die Fäuste. Matt lag immer noch so dicht neben ihm, dass Aiden seine Körperwärme spürte, doch er behielt seine Hände bei sich und hatte keine Ahnung, was er noch sagen sollte. Also lag er nur da, zählte die die Pulsschläge, die ihm in den Ohren dröhnten, und wartete auf den Schlaf.
Irgendwann in der
Nacht nahm Aiden undeutlich eine Bewegung hinter sich wahr, und die Bettfedern quietschten, als ein schwerer Körper sich verlagerte. Er erstarrte, halb aus dem Schlaf gerissen, bis ihm wieder einfiel, wer da bei ihm war. Er war es nicht gewohnt, eine andere Person bei sich im Bett zu haben. Matt schlang einen warmen Arm um Aidens Oberkörper und kuschelte sich an seinen Rücken, und Aiden
entspannte sich. Matt murmelte etwas Unverständliche, und sein Atem streifte warm und kitzelnd über Aidens Schulter. Aiden lächelte in die Dunkelheit, als er wieder in den Schlaf glitt. Er war erfüllt von einem Glücksgefühl, das seine Abwehrmechanismen in den frühen Morgenstunden nicht zurückhalten konnten, wenn er weich war vom Schlafen und froh, ausnahmsweise einmal nicht allein zu sein.
Als Aiden
das nächste Mal erwachte, wurde es bereits hell. Matt lag immer noch eng an ihn geschmiegt. Aber Aiden hatte sich im Schlaf wieder auf den Rücken gedreht, und Matts Arm war immer noch besitzergreifend um seinen Oberkörper geschlungen. Aiden lächelte vor sich hin. Wer hätte gedacht, dass Matt sich als Kuschler erweisen würde? Er war voller Überraschungen, selbst im Schlaf. Aiden drehte den Kopf, um ihn ansehen zu können, doch da begann Matt sich zu regen. Er brummte, schob sein Bein über Aidens Oberschenkel und rückte noch näher heran, so dass Aiden den harten Druck einer Morgenlatte an seiner Hüfte spürte. Träge Erregung durchdrang Aiden, und er griff mit der Hand, die nicht in Matts Umarmung festsaß, nach seinem Schwanz und umfasste ihn durch seine Boxershorts hindurch. Er war bereits auf halbmast und wurde unter den sanften, aufreizenden Berührungen schnell ganz steif.
Allerdings wollte er sich jetzt keinen runterholen, nicht, während Matt noch fest schlief und halb über ihm lag. Doch der sanfte Druck seiner Hand fühlte sich gut an. Aiden döste vor sich hin und genoss einfach die leichte, unterschwellige Erregung, ohne den Empfindungen nachzujagen.
Doch dann nuschelte Matt etwas vor sich hin und begann sich zu bewegen, stieß ruckartig die Hüften vor und rieb seinen Schwanz an Aiden.
„Mmmmh.“ Matt bewegte sich erneut und umarmte Aiden fester.
„Guten Morgen“, flüsterte Aiden, da er sich nicht sicher war, ob Matt wach war oder nicht.
„Mmmph.“ Matt schluckte mit einem pappigen Geräusch, hob den Kopf und blinzelte Aiden mit halb offenen Augen an. „Oh Gott, entschuldige.“ Er zog hastig sein Bein weg und ließ Aiden los, dann rollte er sich auf den Rücken und verdeckte stöhnend das Gesicht mit den Händen. „Ich hab‘ mich im Schlaf an dich rangemacht. Das ist echt peinlich.“
„Hat mir nichts ausgemacht“, versicherte Aiden. „Ich fand‘s sogar richtig toll.“
Matt drehte den Kopf, machte die Augen wieder auf und sah ihn ungläubig an. „Ich fühl‘ mich heute Morgen alles andere als toll. Wahrscheinlich atme ich immer noch Tequila-Wolken aus. Igitt.“ Er schluckte nochmal. „Ich habe einen widerlichen Geschmack im Mund.“
„Hier.“ Aiden streckte sich nach dem Wasserglas auf dem Nachttisch. „Was zum Spülen.“
Matt nahm das Glas dankbar entgegen, stützte sich auf den Ellbogen und spülte etwas Wasser im Mund herum, dann trank er ein paar große Schlucke. Er gab das Glas zurück, und Aiden trank es leer.
„So ist es besser.“ Matt legte sich wieder hin. „Jesus. Wie zum Teufel bin ich bloß auf den Gedanken gekommen, Tequila zu trinken wäre eine gute Idee?“
Aiden lachte leise. Er stellte das Glas weg und drehte sich auf die Seite, wandte Matt das Gesicht zu. Matt war hinreißend, sogar mit Kater. Seine Augen waren ein bisschen geschwollen, aber die zerzausten Haare standen ihm gut, und die ungewohnt dichten Bartstoppeln auf seinen Wangen weckten in Aiden den Wunsch, das Gesicht daran zu reiben.
Er schob den Gedanken beiseite, setzte sich auf und fuhr sich mit einer Hand über die kurzgeschorenen Haare. Dann
schwang er die Beine aus dem Bett, stand auf und reckte sich, bis sein Rücken knackste.
„Stehst du schon auf?“, fragte Matt.
„Nein. Ich muss bloß pinkeln.“
Im Badezimmer putzte Aiden sich auch gleich die Zähne. Er hatte einen Geschmack im Mund, als hätte er am Boden eines Vogelkäfigs geleckt, und Zähneputzen nach einer langen Nacht half ihm immer, sich etwas weniger grottig zu fühlen. Wobei er letztendlich ja nicht viel getrunken hatte – er hatte gut daran getan, sich von den harten Sachen fernzuhalten. Er begutachtete sein Spiegelbild. Abgesehen von den dunklen Ringen unter den Augen sah er nicht allzu schlimm aus.
Als er wieder ins Schlafzimmer kam, stand Matt auf und ging ebenfalls ins Bad. Aiden legte sich wieder hin, und als Matt wieder hereingeschlurft kam, zögerte er unsicher vor dem Bett.
„Na, komm schon.“ Aiden schlug die Bettdecke zurück. „Es sei denn, du möchtest gleich aufstehen und gehen?“
Matt stieg die Röte in die Wangen. „Bist du sicher, dass es dir nichts ausmacht? Es tut mir echt leid, dass ich gestern darauf bestanden habe, mit zu dir nach Hause zu kommen, und dann haben wir nicht mal… du weißt schon.“ Aber er setzte sich trotzdem auf die Bettkante.
„Sex gehabt? Du kannst es ruhig sagen, weißt du. Ich bin ein großer Junge.“ Aiden grinste über Matts offensichtliches Unbehagen. „Schon gut. In erster Linie sind wir Freunde. Nur weil wir manchmal vögeln, heißt das noch lange nicht, dass wir das immer tun müssen. Wenn du noch ein bisschen hier abhängen und eine Runde pennen willst, bevor du nach Hause gehst, ist das völlig okay für mich.“
„Okay.“ Matt ließ sich dankbar auf die Matratze plumpsen und schlüpfte wieder neben Aiden unter die Decke „Ich hab‘ noch keine Lust dazu, irgendwo hinzugehen. Und wenn ich jetzt zu Fuß nach Hause laufe, bin ich wahrscheinlich so wach,
dass ich sowieso nicht mehr einschlafen kann… und ein Stündchen mehr oder so würde mir nicht schaden.“
Er rutschte näher heran und legte sich von Aiden abgewandt auf die Seite.
„Tu dir keinen Zwang an.“ Aiden streckte sich auf dem Rücken aus und machte die Augen zu. „Ausschlafen am Sonntag ist das Beste.“