Bei Claudia wurde im Alter von 28 Jahren eine seltene Darmerkrankung diagnostiziert, die zu einer gestörten Verdauung und unzureichender Nährstoffaufnahme im Darm führte. Daran änderten auch mehrere chirurgische Eingriffe und diverse medizinische Behandlungen nichts. Die Ärzte des Universitätsspitals Zürich entschieden sich daher dafür, Claudia mit einer Nährstofflösung zu ernähren, die über einen Katheter direkt in ihre Venen gelangte.
Obwohl die Nährlösung alle erforderlichen Vitamine, essenziellen Fette, Spurenelemente, Proteine und Kohlenhydrate enthielt, entwickelte Claudia eine fortschreitende Mangelernährung. Ihre Haut verlor an Farbe, sie fühlte sich erschöpft und geistig träge, die Leberfunktion verschlechterte sich, und in ihrem Körper gerieten Salze und Zucker aus dem Gleichgewicht. Im Alter von 31 Jahren verstarb Claudia an einem Herzstillstand, der auf eine Überladung ihres Körpers mit Zucker zurückzuführen war, obwohl die Nährlösung genau die richtige Menge davon enthielt.
Von Claudias tragischem Schicksal erfuhr ich als Medizinstudent in einem Kurs der Inneren Medizin. Ihre Geschichte berührte mich tief. Zum einen, weil eine so junge Frau an einem Ernährungsproblem sterben musste, aber auch, weil ich als junger Erwachsener selbst an Magen-Darm-Problemen litt und gelegentlich an der Funktionsfähigkeit meines Darms zweifelte. Claudias Tod veranschaulichte auf eindrückliche Weise, wie wichtig die Nahrung in ihrer Ganzheit ist. Auch wissenschaftlich beschäftigt mich Claudias Tod bis heute. Selbst die modernsten Ernährungslehren können ihren Tod nicht erklären, weil sie immer noch davon ausgehen, dass Ernährung im Grunde nichts anderes ist als die Aufnahme von Nährstoffen durch das Blut. Ob diese Nährstoffe aus einer Kapsel, einem Katheter oder aus einem Apfel stammen, ist gemäß dieser Lehre gleichgültig. Und obwohl diese Lehre im Medizinstudium unterrichtet wird, machte ich in der Klinik immer wieder die Beobachtung, dass Ärztinnen und Ärzte im medizinischen Alltag intuitiv davon abwichen. Denn auch wenn die Sondennahrung die perfekte Ausgewogenheit an Nährstoffen enthält, weiß jede erfahrene Klinikerin, dass Patienten, die kleine Portionen Semmeln, Joghurt und Apfelschnitze essen, eine bessere Lebensqualität und ein längeres Leben haben als solche, die künstlich ernährt werden.
Das Geheimnis des langen und guten Lebens
Die große Bedeutung des regelmäßigen Essens unbehandelter, ganzer Lebensmittel belegen auch Menschen, die sehr alt geworden sind. Typischerweise lieben diese Menschen die traditionelle Ernährung und leben in Regionen, in denen die Esskultur hochgehalten wird, etwa in Frankreich, Italien und Japan. Die Japanerin Kane Takana starb im April 2022 im Alter von 119 Jahren als damals älteste Frau der Welt. Kane stellte die Ernährung mit all ihren Bezügen stets ins Zentrum ihres Lebens. Als 1937 der Krieg mit China ausbrach, ging Kane mit Mann und Sohn an die Front und kochte Nudeln für die Menschen in Not. Nach dem Krieg traten sie und ihr Mann zum Christentum über und bauten eine Kirche. Die christliche Kultur zog sie seit ihrer Kindheit an, weil sie das Essen ins Zentrum ihrer Spiritualität stellt. Im Jahr 1993 starb ihr Mann, im Alter von 90 Jahren erkrankte sie an Grauem Star und mit 103 wurde sie wegen Dickdarmkrebs operiert, woraufhin sie in ein Pflegeheim ziehen musste. Trotz dieser Schicksalsschläge behielt sie ihren Lebensmut. Im September 2021 sagte sie in einem Interview lächelnd: »Ich werde nicht sterben, ich habe nie daran gedacht.« 1 Sie strahlte über den Blumenstrauß, den sie zum Geburtstag bekommen hatte, und aß täglich achtsam und regelmäßig drei Mahlzeiten mit Reis, Fisch und Gemüse. Danach spazierte sie eine Viertelstunde, nahm einmal pro Woche an einem Quiz teil und verfügte bis zum letzten Tag über einen guten Geschmackssinn. Teezeremonien und Übungen in Kalligrafie halfen ihr, ihren Geist zu schärfen und ihr Bewusstsein mit einer höheren Wirklichkeit zu verbinden.
Anfang 2023 berichteten Zeitungen auf der ganzen Welt über Schwester André, die im Alter von 118 Jahren im Schlaf verstarb. Sie lebte in Südfrankreich und überstand zwei Weltkriege, die Spanische Grippe und eine Coronainfektion. Obwohl sie nicht religiös erzogen worden war, trat sie auf eignen Wunsch einer Ordensgemeinschaft bei, um Not leidenden Menschen zu helfen. Lange pflegte sie Senioren, die deutlich jünger waren als sie selbst. Sie sagte einmal, dass sie zwei große Ziele im Leben gehabt habe: ihre Liebe zu teilen und keine Kompromisse bei ihren eigenen Bedürfnissen einzugehen. Diese Kompromisslosigkeit offenbarte sich wohl am deutlichsten beim Essen. Bereits zum Frühstück aß sie etwas Schokolade und gönnte sich jeden Tag ein Glas Rotwein zum Mittagessen. Dass sie bis ins hohe Alter eine Feinschmeckerin mit hochdifferenzierter Aroma-Wahrnehmung war, zeigte sich etwa darin, dass sie eine Vorliebe für Hummer hatte. Ihren 117. Geburtstag feierte sie mit Gänseleber, gebratenem Kapaun und Käse. Überraschungssoufflé, eine Eistorte mit flambiertem Baiser, war ihr Lieblingsdessert, davon aß sie gern kleine Portionen. Die Überraschung besteht darin, dass unter der heißen Oberfläche ein kühlendes Speiseeis versteckt ist.
Das Bemerkenswerte ist: Schwester André ist nicht allein. In Frankreich gibt es viele Menschen, die regelmäßig fettiges Fleisch, Fettleber, verschimmelten Käse und süße Desserts essen und dazu Wein trinken. Franzosen lassen sich viel weniger von der chemischen Ernährungswissenschaft beeinflussen und vertrauen bei ihrer Speisewahl ihren Nasen, Zungen, Augen und Ohren, welche in mediterranen Kulturen besonders stark geschult und entwickelt werden. Trotzdem leben diese Genussmenschen überdurchschnittlich lange und leiden vergleichsweise selten an Herzkrankheiten und Krebs. Diesen verblüffenden Befund nennt man in der Ernährungslehre das französische Paradox, weil in Frankreich Genuss – inklusive gesättigter Fettsäuren, Cholesterin sowie Alkohol – und Gesundheit auf besonders erstaunliche Weise zusammenfallen.
Ein mit dem französischen Paradox verwandtes Konzept sind die Blauen Zonen. Damit bezeichnet man diejenigen Regionen auf der Welt, in denen Menschen besonders alt werden, ohne überdurchschnittlich viel für das Gesundheitswesen auszugeben. Dazu gehören Sardinien, die griechische Insel Ikaria, die japanische Insel Okinawa und die Nicoya-Halbinsel in Costa Rica. Die Gemeinsamkeit der Einwohner dieser Zonen besteht darin, dass sie intuitive Genussesser sind und viel Tee und Kaffee trinken. Ihr Genuss ist jedoch nicht zügellos, sondern eingebunden in Traditionen und spirituelle Überzeugungen. Das Pflegen von Ritualen hilft dabei, die Nahrungsaufnahme zu koordinieren, und sorgt dafür, dass man nicht mehr isst als notwendig. Den Bewohnern der Blauen Zonen sind bewusstes Hungern und Kalorienzählen fremd. Im Gegenteil, hier werden Kalorien nicht einfach nur gegessen, sondern stets im Einklang mit Mythen und einer tieferen Bedeutung genossen.
Ich wollte mehr erfahren über Menschen, die sehr alt geworden sind, über ihre besonderen Einsichten, Gefühle und Geheimnisse. Schwester André schien mir ein Schlüssel dazu zu sein, weil es Dutzende Videos gibt, in denen sie über ihre Überzeugungen, Erfahrungen und Lebensweisheiten berichtet. Ich erfuhr, dass sie in Bezug auf Ernährung immer auf ihren Geruchs- und Geschmackssinn sowie auf ihre Intuition vertraute. Für sie war Essen ein Ritual mit höherer Bedeutung. Selbst in ihrem letzten Lebensjahr, als sie blind und an den Rollstuhl gefesselt war, wurde sie nicht müde, wieder und wieder den hohen Wert des Lebens zu betonen, und wie wichtig es sei, die Güter und Speisen der Welt zu teilen.
Doch obwohl diese Videos viele wichtige Information enthielten, stillten sie meine Neugier nicht, vielmehr stachelten sie sie nur noch mehr an. Wann genau ging sie ins Bett, wann stand sie auf? Was hielt sie von Snacks zwischen den Mahlzeiten, was von Rosenkohl? Hatte sie regelmäßigen Stuhlgang?
In dieser Zeit meiner neugierigen Trauer um Schwester André besuchte mich eine Journalistin aus Frankreich in meiner Klinik, um mit mir ein Interview über meine neuen Therapieansätze zu führen und die Räumlichkeiten zu besichtigen. Nach dem Interview fragte ich sie, ob sie schon mal von Schwester André gehört habe. Das war der Fall, und ich durfte mit Freude vernehmen, dass sie meine Begeisterung für die »Doyenne de l’humanité«, wie man sie in Frankreich nennt, teilte. Als ich ihr meine detaillierten Fragen zur Diät der »Ältesten der Menschheit« stellte, winkte sie jedoch grob ab: »Ihre Einstellung zu Rosenkohl? Solche Fragen ergeben keinen Sinn. Sie werden Schwester Andrés Geheimnis dadurch nicht näherkommen. Man muss das im Zusammenhang sehen.«
Diese Kritik traf mich besonders, weil ich ja selbst einen ganzheitlichen Ansatz vertrete. Als die Journalistin meine Enttäuschung und Verärgerung sah, erzählte sie mir von ihrer Großmutter Anna, die in Deutschland gelebt habe, immerhin auch 103 Jahre alt geworden und bis ins hohe Alter topfit gewesen sei. Für die Journalistin war ihre Oma ein wichtiger Mensch, unter anderem, weil ihr Vater die Familie früh verließ und es ihrer Mutter an Halt im Leben fehlte. Anna war immer sehr positiv eingestellt, eine Optimistin, nichts konnte sie aus der Ruhe bringen. Und ähnlich wie bei Kane Takana und Schwester André spielte das Essen und damit verbundene Rituale eine zentrale Rolle in ihrem Leben. Sie hatte in ihrer Kindheit Hunger erlebt und wusste dadurch aus eigener Erfahrung, dass Nahrung keine Selbstverständlichkeit, sondern ein Geschenk ist.
Ihr Geschmackssinn war hervorragend und sie konsumierte alles achtsam und in Maßen, am liebsten frische Zutaten, die sie auf dem Markt kaufte. Aufgrund einer Allergie trank sie keinen Alkohol. Körperlich war sie immer aktiv, ohne viel Sport zu treiben. Ihr besonderes kulinarisches Interesse galt stillem Mineralwasser. Sie hatte viele verschiedene Sorten im Haus, weil für sie jede anders schmeckte und sie die Vielfalt liebte. Bis ins hohe Alter kannte sie alle Telefonnummern der Wasserlieferanten auswendig. Sie nahm nie Nahrungsergänzungsmittel ein, nicht eine einzige Vitamintablette, die ihr ein Arzt verschrieben hatte, denn sie bestand darauf, alles, was sie zu sich nahm, geschmacklich auf ihrer Zunge zu erfahren. Sie war bescheiden in allem, auch beim Essen, freute sich aber sehr, wenn Ärzte ihren Körper lobten, der mit 100 Jahren noch sehr gesund aussah. Gern erzählte sie von einem Klinikaufenthalt, bei dem die Ärzte und das Pflegepersonal um ihr Bett standen, um ihre makellosen Beine zu bewundern, oder von einer Kardiologin, die kaum glauben konnte, wie jung und kräftig ihr Herz war.
Die Journalistin betonte, dass ihre Mutter und ihre Oma im gleichen Haushalt lebten und ihnen im Prinzip die gleichen Speisen zur Verfügung standen. Doch ihre Persönlichkeiten unterschieden sich deutlich. Ihre Mutter hatte nicht Annas Bescheidenheit und innere Haltung geerbt, sie gehörte einer anderen Generation mit anderen Erfahrungen an. Sie hatte sehr hohe Ansprüche ans Leben, was immer wieder zu Konflikten führte. Über Annas Mineralwasserleidenschaft machte sie sich lustig, denn Wasser war für sie einfach nur Wasser, Limonade schmeckte ihr viel besser. Sie fand, dass sie das Recht hatte, zu jeder Tageszeit Süßigkeiten zu essen, und Schokohasen oder Weihnachtsgebäck, die sie geschenkt bekam, verschlang sie im Nu. So etwas wäre Anna nie in den Sinn gekommen. Vielmehr stellte sie so etwas als Dekoration auf und warf es später weg, weil sie ihr Leben und ihre Nahrung selbst bestimmen und sich nicht von Geschenken und Werbung verführen lassen wollte. Der Mutter hingegen konnte man ein volles Glas Wein oder ein großes Stück Kuchen hinstellen und durfte sicher sein, dass sie diese Angebote ohne Zögern annahm. Diese Offenheit machte sie sympathisch, brachte aber auch viel Chaos, Leid und Gesundheitsprobleme in ihr Leben. Anna war da ganz anders: Für sie gehörte alles zu einer höheren Ordnung, ihre Herkunft, die Speisen, ihr strikter Essrhythmus, ihre spirituellen Überzeugungen, das alles kam von innen und ergab ein Ganzes.
Das schwerwiegende Versagen der chemischen Nährstofftheorie
In ursprünglichen Gesellschaften war fast alles, was mit Essen zu tun hatte, in symbolische Bedeutungen, magische Praktiken, Zeremonien und Tabus eingebettet. In etwas geringerem Maße gilt dies auch für traditionelle Gesellschaften unserer Zeit. Dies kann man gut an der französischen Esskultur ablesen. Im Französischen meint das Wort »Menü« nicht die Auswahl an Speisen, sondern eine rituelle Anweisung, wie eine Mahlzeit verlaufen soll.
Mit dem Aufkommen von Fast Food, der Mikrowelle und dem zunehmenden Zeitdruck am Arbeitsplatz verschwand das Bedürfnis und die Ruhe, jede Mahlzeit im Rahmen eines gemeinsamen Rituals einzunehmen. Gleichzeitig machte sich die Irrlehre breit, dass Essen nichts anderes sei als die Aufnahme chemischer Nährstoffe, um industrielle Nahrung wissenschaftlich zu rechtfertigen. Dazu kommt, dass Fast Food im Grunde so gut wie ungenießbar ist, wenn man unserem Mund nicht durch die Zugabe von großen Mengen Zucker und Salz vorgaukelt, in etwas Gutes zu beißen. In neuester Zeit fördern das Fernsehen, Computer und Smartphones das unbewusste Essen, bei dem Kalorien freud- und achtlos verschlungen werden. Die Folgen dieses Rückfalls der kulinarischen Kultur ins Reptilienzeitalter sind bekannt: Die Häufigkeit von Diabetes hat sich seit 1980 vervierfacht, das Problem des Übergewichts hat sich verdoppelt und Darmkrebs nimmt bei jungen Menschen deutlich zu. 2 Jeder zehnte Mensch leidet seit dem durchschlagenden Erfolg von Fast Food an einer Autoimmunkrankheit, am meisten an Entzündungen von Gelenken, dem Darm und der Haut, etwa Arthritis, Zöliakie und allergischen Hautkrankheiten. 3
Nährstoffe wie Vitamine und Fettsäuren sind erstaunlich wenig gesund oder sogar ungesund, wenn man sie isoliert mittels einer Kapsel einnimmt . Erst im Zusammenhang mit einem ganzen Nahrungsmittel, eingebettet in eine Lebensmittelstruktur und als Teil einer Lebensmittelmatrix, entwickeln sie ihre günstigen Wirkungen. Selbst ganze Lebensmittel wirken nicht allein, sondern immer in einer körperlichen und sozialen Umgebung. Eine Speise wie Schwester Andrés Überraschungssoufflé ist auf nüchternen Magen viel ungesünder als nach einer vollen Mahlzeit, weil der Körper nicht darauf vorbereitet ist und die Grundlage aus Salat und Gemüse fehlt, um die Zuckerflut zu verlangsamen. Das heißt, ganze Lebensmittel müssen in Mahlzeiten und Tagesabläufe eingebunden sein, um ihre positive Wirkung zu entfalten. Neueste Forschung weist darauf hin, dass sogar die Atmung und der Schlaf die Aufnahme von Nährstoffen und die Regeneration des Körpers nach dem Essen beeinflusst. In den Blauen Zonen wirkt sich zudem die soziale Umgebung, das Teilen und die spirituelle Bedeutung des Essens auf die Gesundheit von Mahlzeiten aus, wie eine Reihe von Studien belegt. 4 Das bestätigt auch die moderne Sinnesphysiologie, die zeigt, dass Essen die komplexeste und intensivste Sinneswahrnehmung überhaupt ist, für die große Teile des Gehirns verantwortlich sind. Essen ist also immer auch eine Hirnaktivität und hat das Potenzial zur Bewusstseinserweiterung. Achtsame Esser leben daher gesünder als unachtsame, selbst wenn sie die exakt gleichen Nährstoffe zu sich nehmen, weil Achtsamkeit dem Körper die Möglichkeit gibt, sich auf die Verdauung vorzubereiten, und Entspannung das Ansetzen unnötiger Fettdepots verhindert. 5
Die große und verständliche Versuchung der modernen Medizin ist, komplexe gesundheitliche Phänomene auf banale chemische Prozesse zurückzuführen, obwohl es immer offensichtlicher wird, dass diese Strategie oftmals ungenügend ist, um komplexe Systeme zu verstehen, die stets mehr als ihre Einzelteile sind. Claudias Tod ist ein eindrücklicher Beleg dafür. Dazu kommt, dass die Nahrungsmittelindustrie Komplexität scheut wie der Teufel das Weihwasser, weil industrielle Methoden darauf ausgerichtet sind, einzelne, gut haltbare Nährstoffe in großen Mengen billig herzustellen. Der Aufbau komplexer Lebensmittelstrukturen wäre viel zu aufwendig. Die medizinische, biologische und geisteswissenschaftliche Forschung ist sich hingegen zunehmend der Notwendigkeit bewusst, Nahrung in ihrer ganzheitlichen Komplexität zu untersuchen.
Damit steht sie in einer langen Tradition. Die Beziehung, die wir zu Essen und Nahrungsmitteln haben, ist das zentrale Thema aller spirituellen Lehren der letzten Jahrtausende. Unser Körper und alle seine Organe beteiligen sich am Essen. Die Augen sehen die Nahrung. Arme und Hände führen sie zum Mund. Über die Speiseröhre und den Magen gelangt sie in den Darm. Dort wird sie mithilfe von Säften der Bauchspeicheldrüse und der Galle verdaut. Die Leber entgiftet das Aufgenommene, sodass über das Blut die Nährstoffe im ganzen Körper verteilt werden können. Sie werden ins Hirn und in die Sinnesorgane befördert, in Herz und Lunge, Haut und Haare, in die Bauchhöhle, die Geschlechtsorgane, Knochen und Muskeln sowie ins Fettgewebe. Eine Reihe von Hormonen bestimmt, wie und wo die Stoffe verwandelt und genutzt werden. Die Darmbakterien und das Immunsystem sind zuständig für die Erkennung und Entsorgung schädlicher Stoffe. Die Nieren filtern Überschüssiges aus dem Blut und entfernen es über die Blase. Der Enddarm leitet Unverdauliches als Stuhl aus. Darüber hinaus verlassen Nährstoffe den Körper über die Lymphe und die Haut. Es ist wie ein Lebensstrom, der durch unseren ganzen Körper fließt. Prana nannten die indischen Gelehrten diesen Strom, der den Atem, die Nahrung und die höheren Welten miteinander verbindet. Die moderne Biologie bestätigt, dass unser Körper Tausende von Detektoren im Hirn und in allen anderen Organen besitzt, um den Nährstoffstrom zu erfassen, was die vielfältigen Einflüsse der Nahrung auf unsere Psyche, unsere soziale Ausstrahlung und unser Bewusstsein wissenschaftlich erklärt. Praktisch bedeutet dies, dass wir es beim Essen und Kochen selbst in der Hand haben, diesen Strom zu spüren, zu steuern, zu fördern oder zu unterbrechen.
Die neue Wissenschaft der ganzheitlichen Ernährung
Dieses Buch soll aufzeigen, was wirklich nährt. Jedes Kapitel enthält praktische Hinweise auf dem Weg zur ganzheitlichen Ernährung. Das erste Kapitel spürt der Beobachtung nach, dass sehr alt gewordene Menschen einen ausgesprochen guten Geschmacks- und Geruchssinn haben, den sie durch achtsames Essen laufend trainieren. Was können wir von ihnen lernen? Das zweite Kapitel nimmt die abnehmenden Pausen zwischen Mahlzeiten und Snacks in den Blick und zeigt auf, warum das problematisch ist und was wir dagegen tun können. Stichwort: Fasten. Im dritten Kapitel geht es um gesunde Lebensmittel und darum, warum ein ganzer Apfel deutlich gesünder ist als Apfelsaft, obwohl beide aus den gleichen chemischen Molekülen bestehen. Im vierten Kapitel ergründe ich das Geheimnis der Essgemeinschaft und von Essritualen, die in allen Kulturen genutzt werden, um soziale Netze zu knüpfen und aufrechtzuerhalten. Das fünfte Kapitel ist dem Fluss der Nährenergien gewidmet und vermittelt einfache mentale Techniken, die dabei helfen, Kalorien in psychische, soziale und spirituelle Kraft zu verwandeln. Um gesund zu bleiben, muss der Körper sich von Nahrungsresten befreien, die keiner Verwandlung zugänglich sind. Wie wir diese Reinigung bewusst stärken und steuern können, bildet den Inhalt des sechsten und letzten Kapitels.
Die ganzheitliche Ernährungswissenschaft erweitert die chemische Vorstellung von Nahrung und bezieht auch psychische, soziale, ökologische und spirituelle Aspekte mit ein. Wobei die Frage, was uns wirklich nährt, natürlich immer bei der konkreten Nahrung beginnt. Neueste Forschung zeigt, dass ganze Lebensmittel, die möglichst wenig zerkleinert und industriell verarbeitet werden, uns am besten nähren. Wenn solche Nahrungsmittel in Kombination gegessen werden, etwa ganze Äpfel, Birnen und Nüsse zusammen, ist die nährende Wirkung noch größer. Die Forschung über das Essverhalten von Menschen, die sehr alt geworden sind, weist zudem darauf hin, dass die gesunde Ernährung eine positive Einstellung zur Nahrung einschließt. Durch achtsames Essen, aber auch durch Fasten, geraten wir in einen intensiven und direkten Bezug zur Nahrung, sodass aus den bloßen Nährwerten ein psychisches Erleben wird. Die Tischgemeinschaft ist eine gute Gelegenheit, dieses Erleben in einen größeren sozialen und spirituellen Kontext einzubinden. Der Energiekreislauf beginnt im Darm, der durch metabolische Prozesse die Nährstoffe dem Körper aneignet. Dies ist ein kreativer Prozess, in dem neue Stoffe und Zusammenhänge entstehen, etwa durch die Enzyme der Darmbakterien. Anschließend muss sich die Nährenergie, die durch das Feuer der Verdauung gegangen ist, in andere, subtilere Energien verwandeln, etwa in Willenskraft, Herzensgüte und mentale Beweglichkeit. Richtige Ernährung beinhaltet deshalb immer auch eine ausgiebige Energiearbeit, deren biologische und psychische Dimensionen ich im Detail erklären werde. Zu guter Letzt müssen die unverbaubaren Bestandteile der Nahrung ausgeschieden und der Körper gereinigt werden, weil die unverdauten Nahrungsreste eine Reihe von Krankheiten verursachen können, darunter Diabetes, Herzkrankheiten, Krebs und Demenz. Was wirklich nährt, ist also nicht die einzelne, nackte Kalorie, sondern vielmehr die Ganzheit der Nahrung, unsere Einstellung zur Ernährung und die Verwandlung und Reinigung der Nährenergie. Diesen Ansatz nenne ich spirituell, weil er die Verbundenheit ins Zentrum stellt und nicht nur Fachwissen anhäuft, sondern eine Praxis beinhaltet und einen Weg in ein erfülltes Leben weist.