Verlangsamung und Bewusstwerdung sind die großen Themen des achtsamen Essens. In diesem Kapitel über das Fasten nehme ich diese Themen auf und wende sie auf größere Zeiträume an. Jede Mahlzeit ist eine Herausforderung für den Körper, bei der er verschiedene mechanische, biochemische, bakterielle und hormonelle Systeme mobilisiert, um Nahrungsmittel in verwertbare Nährstoffe umzuwandel n. Wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, beinhaltet dies viel mehr als nur die chemische Zerlegung von Nahrungsmitteln in einzelne Kalorien, sondern ist ein mehrstufiger, kreativer Prozess, in dem neue Nährstoffe und neue Verbindungen von Nährstoffen entstehen.
Ein Hauptteil unserer Hirnleistung bezieht sich darauf, zukünftige Ereignisse vorwegzunehmen, weil unser Organismus besser funktioniert, wenn er sich vorbereiten kann. Dies gilt auch für die Verdauung. Der große Vorteil von fixen Essenszeiten gegenüber unregelmäßigem Essverhalten besteht folglich darin, dass der Körper sich besser für die Nahrungsaufnahme wappnen kann. Dies zeigt sich in einer geringeren Ausschüttung von Verdauungshormonen, was dabei hilft, den Hunger zu kontrollieren und die Bildung von Fettpolstern zu verhindern. Die spontane Einnahme eines Snacks löst hingegen eine übermäßig große Insulinausschüttung aus, weil der Körper auf dem falschen Fuß erwischt wird, was wie unerwarteter psychischer Stress zu Heißhunger und Verstimmungen beiträgt. Darüber hinaus ist die Verdauung ein energetisch anspruchsvoller Prozess, während dem sich unser Körper in Esspausen regenerieren und entgiften muss. Dadurch bieten die Esspausen einen Schutz vor verschiedenen Krankheiten wie Übergewicht, Diabetes, Autoimmunerkrankungen, Darmkrebs und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Phasen der Nüchternheit führen auch zu einer Steigerung der Empfindlichkeit in Mund und Darm, sodass das Essen besser schmeckt, was das achtsame und bewusste Essen erleichtert.
Fasten hat eine lange Tradition. Es meint in erster Linie die normalen täglichen Esspausen, was man am englischen und französischen Wort für Frühstuck, » breakfast« beziehungsweise »déjeuner«, ablesen kann. Beide Begriffe bedeuten »Fastenbruch«, was darauf hinweist, dass diese Sprachen den nächtlichen Schlaf als Fasten betrachten. Ich nenne diese Pausen Mikro-Fasten, um sie vom Makro-Fasten über längere Zeiträume zu unterscheiden. Schwester André, Kane Tanaka und Oma Anna waren überzeugte und disziplinierte Mikro-Fastende.
Alle Fastenmethoden betonen die Bedeutung eines festen Tagesablaufs. Bereits die ältesten Lebewesen, die wie Polypen oder Quallen nur aus einem Darm bestanden, kannten den Tag-Nacht-Rhythmus und stellten ihre Verdauung auf bestimmte Esszeiten ein. Die ersten »Sinnesorgane« dieser Urwesen waren licht- und geschmacksempfindliche Zellen an der Oberfläche ihres Darms. Diese Zellen haben eine Verbindung zu unserer Netzhaut und unserem Geschmackssinn. Die Verdauungsbereitschaft der Tageszeit anzupassen war die erste große Optimierung des Lebens, auf die wir nicht verzichten sollten. Denn Fasten aktiviert ein uraltes Sparprogramm, wodurch es sich auch dazu eignet, in einer chaotischen Lebensphase wieder Rhythmus und Energie zu finden. In der Bibel fastete König David, um politische Krisen und den Tod von engsten Vertrauten zu überstehen. Selbst bei schweren psychischen Krankheiten, wie etwa der bipolaren Störung, kann das strikte Einhalten des Schlaf- und Essrhythmus zu einer maßgeblichen Verbesserung beitragen.
Das Heilpotenzial des Mikro-Fastens weitet sich stetig aus, denn die Überernährung und die Anzahl der Mahlzeiten und Snacks pro Tag nehmen zu, wodurch die Esspausen kürzer werden. Die Anzahl der Mahlzeiten hat sich seit 1980 fast verdoppelt, von drei auf durchschnittlich fünf bis sechs Mahlzeiten. Dieser neue Rhythmus wird den Kindern früh eingeimpft. Nach dem Frühstück isst der Durchschnittsschüler einen Vormittagssnack, dann ein Mittagessen, später einen Nachmittagssnack, dann ein Abendessen, eine weitere Zwischenverpflegung zwischen den Halbzeiten seines Fußballspiels und dann vielleicht noch einen Snack vor dem Schlafengehen. In der Schweiz heißen die Zwischenmahlzeiten »Znüni« und »Zvieri« und sind damit den Hauptmahlzeiten »Zmorge«, »Zmittag« und »Znacht« sprachlich gleichgestellt. Sie beinhalten die implizite Anweisung an Eltern, Schulleiter und Arbeitgeber, um neun Uhr morgens beziehungsweise um vier Uhr nachmittags genügend Zeit für einen Snack einzuplanen. Schon eine Fastenperiode von nur wenig mehr als drei Stunden ist für Kinder, die so aufwachsen, eine Herausforderung. Eine Amerikanerin, die mit ihrer Familie nach Frankreich gezogen war, erzählte mir, dass sie über die französische Tradition schockiert war, Jugendliche von Zwischenmahlzeiten zu entwöhnen – bis auf eine Frucht am Nachmittag. Nach einer gewissen Zeit des Widerstands gab sie jedoch auf und erklärte ihren Kindern, dass Hungern und Hungergefühle nicht das Gleiche seien. Schon bald war sie begeistert über den Snackentzug: Bei den Hauptmahlzeiten aßen ihre Kinder mit mehr Freude und Genuss, außerdem waren sie mental fitter, was sich unter anderem in besseren Schulleistungen widerspiegelte.
Ein Teil der Gesundheitsvorteile von Mikro-Fasten geht auf die Nahrungsqualität zurück, weil eine höhere Anzahl an Mahlzeiten oft mit einem vermehrten Verzehr von industriellem Fast Food einhergeht. Wer hat schon die Zeit, sechsmal am Tag frische Speisen zuzubereiten? Umgekehrt gilt, dass die Reduktion der Anzahl an Mahlzeiten das Potenzial hat, deren Qualität zu steigern, denn Hauptmahlzeiten sind fast immer gesünder als Snacks.
Methoden des Makro-Fastens
In der Medizin wird mit Fasten die völlige oder teilweise Enthaltung von allen oder bestimmten Speisen, Getränken und Genussmitteln über einen bestimmten Zeitraum bezeichnet, üblicherweise für einen oder mehrere Tage. Das klassische Fasten, auch Heilfasten genannt, dauert typischerweise sieben bis zehn Tage und kann ein- oder zweimal pro Jahr durchgeführt werden. Wird nur eine ganz konkrete Art der Nahrung oder ein Genussmittel weggelassen oder eingeschränkt, spricht man von Enthaltung oder Abstinenz. Ferner reduziert die Entleerung den Hunger und entspricht der spirituellen Idee der Reinigung. Je nach Methode werden Getränke und kleine Mengen von Lebensmitteln empfohlen, um das Fasten angenehmer zu gestalten. Beim Buchinger-Fasten, das in Deutschland besonders populär ist, beginnt man mit einer Darmentleerung, herbeigeführt durch Glaubersalz und Einläufe. Darauf folgt der »Aufbau« mit geringen Mengen Obst, Reis, Frischkost und Wasser. Dieses Fasten hat den Vorteil, dass man dafür kein Hungerkünstler sein muss, weil Kalorien erlaubt sind, zudem fördert es die Umstellung auf eine gesunde Ernährung mit ganzen pflanzlichen Lebensmitteln (mehr dazu im nächsten Kapitel). Bei anderen Methoden werden Rohsäfte, Molken und Kräutertees empfohlen. Dies soll die Entgiftung und die Hautgesundheit verbessern, hat aber den Nachteil, dass im Blut Zuckerspitzen entstehen, die den Hunger verstärken. Bei der Mayr-Methode ist nach dem Abführen Milch und das achtsame Kauen von Semmeln erlaubt. Die Vorteile hiervon sind, dass Milch ein vollwertiges Nahrungsmittel ist und Semmeln eine Kohlenhydrate-Quelle sind, die keine Zuckerspitzen verursacht. Der Nachteil ist, dass Milch und Semmeln keine positive Inspiration und kein gutes Vorbild für die Ernährung nach dem Fasten sind.
Eine erstaunlich wirksame Strategie, um Gewicht zu verlieren, ist das Intervallfasten. Dabei geht es darum, regelmäßig die natürlichen nächtlichen Fastenperioden zu verlängern. Bei der 16:8-Methode liegen zwischen der letzten Mahlzeit des Vortags und der ersten Mahlzeit des aktuellen Tages 16 Stunden. In den acht Stunden, in denen man essen darf, sind zwei Mahlzeiten vorgesehen. Bei der 14:10-Methode ist die Fastenzeit 14 statt 16 Stunden lang. 12:12 entspricht dem üblichen Essrhythmus mit drei Mahlzeiten pro Tag, was für immer mehr Menschen allerdings eine Herausforderung darstellt, weil sie sich von den Zwischenmahlzeiten der Kindheit nie verabschiedet haben. Bei der 5:2-Methode wird an fünf Tagen der Woche normal gegessen, während an zwei Tagen gefastet wird. Die Fastentage müssen nicht aufeinanderfolgen. Beim alternierenden Fasten, auch 1:1-Methode genannt, isst man an einem Tag normal, gefolgt von einem Tag, an dem man maximal ein Viertel der üblichen Kalorienmenge zu sich nimmt.
Das Intervallfasten erlaubt es dem Körper, dank dem Abfall des Insulinspiegels die verschiedenen Energiespeicher des Körpers anzuzapfen. Die Geschwindigkeit der folgenden Schritte ist je nach Konstitution und Ernährung verschieden. Als Erstes wird Zucker, der in der Leber in Form von Glykogen gespeichert ist, aufgebraucht. Danach beginnt der Körper, gespeichertes Körperfett zur Energiegewinnung zu nutzen. Als Folge davon ist so wenig Zucker im Körper übrig, dass der Stoffwechsel aus dem Fettgewebe Ketonkörper herstellt, die dem Hirn als Zuckerersatz dienen. Der Abbau der Fettreserven ist gesund, weil diese viele Probleme wie Entzündungen verursachen. Wer würde schon einen riesigen Benzintank auf das Dach seines Autos montieren, wenn alle 100 Kilometer eine Tankstelle steht. Ein solcher Zusatztank würde die Lebensdauer des Autos nicht verlängern, sondern verkürzen, weil er eine Belastung für den Motor, das Getriebe und die Räder ist. Ferner kann er auch rosten und das Auto verschmutzen. Im Übrigen ist es nicht so, dass beim Fasten Muskeln verbrannt werden, wie man gelegentlich hört. Vielmehr wird beim Fasten hochspezifisch die Fett- und nicht die Muskelmasse verstoffwechselt. Erst wenn der Fettanteil des Körpers unter fünf Prozent fällt, beginnt der Abbau der Muskelmasse, weshalb untergewichtige Menschen auf Makro-Fasten verzichten sollten. Bei Normal- und Übergewichtigen kann Fasten den Muskelaufbau hingegen sogar begünstigen, weil Mahlzeiten und Snacks die Ausschüttung von Wachstumshormonen unterdrücken. Diese Unterdrückung umfasst circa 80 Prozent. Aus diesem Grund ist Fasten ein starker und natürlicher Anreiz zur Ausschüttung von Wachstumshormonen, die den Aufbau von Muskeln und Knochen fördern. Unsere Vorfahren haben von diesem Effekt stark profitiert, wenn auch unfreiwillig aus Mangel an Nahrung. Warum aber sollten wir auf diese Belohnung verzichten?
Der schnelle Gewichtsverlust, der beim Fasten eintreten kann, ist meistens auf Wasserverlust zurückzuführen, der auch eine Abnahme des Blutdrucks mit sich bringt, wodurch das Herz und die Gefäße entlastet werden. Der Wasserverlust ist eine Folge des tiefen Insulinspiegels, der dem Körper Entspannung und Entschlackung signalisiert. Mit dem Wasser geht zwar auch etwas Kalium, Kalzium, Magnesium und Phosphor verloren, die kann der Körper aber aus seinen riesigen Mineralienreserven in den Knochen ersetzen.
Parallel zum Abbau der Wasser- und Energiereserven ist Fasten ein sehr wirksames Mittel, um das Zucker-Insulin-System nachhaltig zu beruhigen. Regelmäßiger Konsum von Zucker durch Fast Food führt zu Zucker- und Insulinspitzen, die sich gegenseitig verstärken. Man nennt dieses Phänomen auch die Zucker-Insulin-Achterbahnfahrt, die zu Krankheiten wie Kopfschmerzen, Migräne, Depression, Demenz, Arterienverkalkung, Arthritis, Nieren- und Augenerkrankungen sowie Krebs beiträgt. Bekannte Gründe dafür sind die Verzuckerung der Gefäße und die Freisetzung von freien Radikalen, weil Zucker oxidativen Stress erzeugt. Oxidativer Stress entsteht, wenn das Gleichgewicht zwischen der Produktion freier Radikaler, die chemisch aggressiv sind, und der Fähigkeit des Körpers, diese durch Antioxidantien zu neutralisieren, gestört ist. Freie Radikale können genetische Schäden verursachen, und in Kombination mit Insulinspitzen, die als Wachstumssignale wirken, kann dies die Entstehung von Krebs fördern.
Durch die Senkung des Insulinspiegels und die Aktivierung des Vagus-Nervs hemmt Fasten Entzündungsreaktionen und hilft, Autoimmunkrankheiten günstig zu beeinflussen. Die Wirkung auf das Immunsystem ist bei Menschen mit Übergewicht noch fundamentaler, denn Immunzellen haben ihren Ursprung im Fettgewebe, genauer im Thymus hinter dem Brustbein und im Knochenmark. Weil sie sich darin sozusagen heimisch fühlen, wandern sie gern in überschüssiges Fettgewebe ein. So kommt es zu einer Überbevölkerung des Körpers mit Immunzellen, was sowohl die Gefahr von Autoimmunkrankheiten wie auch von schweren Infektionen erhöht. Die Reduktion von Fettgewebe durch Nahrungseinschränkung und Fasten bringt das Immunsystem wieder in die Balance. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von einem Aushungern der Entzündungszellen. 31
Bei Tieren konnten zudem positive Wirkungen des Fastens auf das Gehirn nachgewiesen werden. Autophagie bezeichnet den natürlichen Prozess, bei dem beschädigte oder abgestorbene Zellkomponenten im Hirn abgebaut und recycelt werden. Diese Müllabfuhr hält das Hirn jung. Die Abnahme des Blutzuckers, des Insulins und von entzündlichen Prozessen schützt das Hirn zusätzlich vor neurodegenerativen Krankheiten wie Demenz. Ferner steigert Fasten die Neuroplastizität, also die mentale Offenheit und Lernfähigkeit des Gehirns, sowie die Ausschüttung des Wachheit-Botenstoffs Noradrenalin. Die Ketonkörper, die beim Fasten entstehen, beruhigen das Hirn und schützen es vor Übererregung. Darüber hinaus können sie eine leichte Euphorie erzeugen, die das Fasten erleichtert. Dies entspricht Berichten von Menschen, die dank Fasten einen offenen, klaren und ruhigen Kopf mit positiven Gedanken haben und besser meditieren können. All diese Prozesse können bereits nach einer Fastenzeit von sechs Stunden aktiviert und in den ersten 24 Stunden deutlich verstärkt werden. Die Steigerung der Neuroplastizität mag mit ein Grund dafür sein, weshalb sich Fasten auf der ganzen Welt als spirituelle Praxis durchgesetzt hat. So waren die alten Griechen beispielsweise überzeugt, dass sie während des Fastens Probleme und Rätsel effektiver lösen konnten.
Diese mentalen Effekte der Ketonkörper und der Neuroplastizität wurden von dem norwegischen Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger Knut Hamsun sehr treffend beschrieben. Als junger Mann suchte er in den Straßen Oslos nach Essen: »Immer wenn ich längere Zeit hungerte, war es gleichsam, als rinne mein Gehirn langsam aus dem Kopf und als würde er leer. Das Haupt wurde leicht und abwesend, ich fühlte seine Schwere nicht mehr auf meinen Schultern … Ich war vor Hunger trunken geworden, mein Hunger hatte mich berauscht … Ich verspürte keinen Schmerz, mein Hunger hatte ihn abgestumpft; stattdessen fühlte ich mich angenehm leer, unberührt von allem um mich her und froh darüber, von keinem gesehen zu werden. Ich legte die Beine auf die Bank und lehnte mich zurück, auf diese Weise konnte ich am besten das ganze Wohlsein der Abgesondertheit fühlen. Keine Wolke war in meinem Gemüt, kein Gefühl des Unbehagens, keine unerfüllte Lust oder Begierde, so weit meine Gedanken reichten. Ich lag mit offenen Augen, in einem Zustand der Abwesenheit meiner selbst, ich fühlte mich herrlich entfernt … Ich war in den frohen Wahnwitz des Hungers verfallen, war leer und schmerzfrei und meine Gedanken waren ohne Zügel. Und still erwäge ich alles bei mir selbst … Nicht einmal den Hunger fühlte ich so schlimm wie vor einigen Stunden, ich konnte gut bis zum nächsten Tag aushalten.« 32
Auch Hamsuns Erfahrung weist darauf hin, dass Fasten nicht nur körperlich, sondern auch psychisch fit hält. Fasten stärkt die Resilienz, indem es eine Hungersnot imitiert, so wie Saunieren eine Hitzewelle und das Schwimmen im kalten See einen Kälteeinbruch vorwegnehmen und einüben können. Verzichten und Versuchungen widerstehen sind wichtige Elemente der Selbstkontrolle. Kleine Erfolge beim Fasten, etwa der Verzicht auf Brot beim Frühstück, können sich im Sinne der Selbstwirksamkeit zu größeren Erfolgen entwickeln, etwa zum Verzicht auf Snacks zwischen den Hauptmahlzeiten. Wem es gelingt, Hungergefühle auszuhalten, dem wird es auch leichter fallen, Neid, Eifersucht, Hass, Missgunst und Rachegefühle vorüberziehen zu lassen, ohne darauf zu reagieren. Dementsprechend beinhaltete der Verzicht auf Essen in ursprünglichen Gemeinschaften immer auch den Aspekt des Selbstopfers, verbunden mit der Einsicht, dass man gelegentlich etwas von sich aufgeben muss, um sich psychisch weiterzuentwickeln.
Selbstverständlich kann Fasten, wie jede wirksame Therapie, auch Nebenwirkungen verursachen. Dazu gehören Müdigkeit, Erschöpfung, Kopfschmerzen und gedrückte Stimmung. Außerdem ist noch nicht abschließend geklärt, wie schnell, stark und häufig die erwähnten positiven Effekte einsetzen und wie lange sie anhalten. Sicher ist aber, dass Intervallfasten geeignet ist, um Fettdepots abzubauen und die Gefäße vor Verzuckerung zu schützen. Dies sind rasch eintretende und gut messbare Gesundheitsvorteile. Ebenfalls belegt ist, dass längeres Fasten sich günstig auf Diabetes, Gicht und Entzündungen auswirkt. Patienten mit diesen Krankheiten sollten jedoch ausschließlich unter ärztlicher Aufsicht fasten. Auch Menschen, die von Reflux betroffen sind, einer Reizung des untersten Teils der Speiseröhre, sollten nicht ohne medizinische Betreuung fasten, weil es dabei zu einer vorübergehenden Zunahme der Magensäure kommen kann. Hunger ist beim Fasten normal, nicht aber Übelkeit, Unwohlsein, Schwindel, Erbrechen und Schwäche. Wenn solche Symptome über mehrere Stunden anhalten, sollte das Fasten abgebrochen werden.
Fasten als Grenzerfahrung
Fasten als bewusste Enthaltsamkeit gibt es erst, seit wir dank der Landwirtschaft Nahrung im Überfluss haben, also seit circa 8000 Jahren. Vorher war intermittierendes Fasten mit dem Auslassen von Mahlzeiten und mit Tagen ganz ohne Nahrung das normale Leben. Sammler und Jäger hatten nicht täglich Glück, und die gefundene oder erjagte Nahrung war nicht haltbar. Dürren, Konflikte oder Insektenbefall führten zudem zu längeren Hungerperioden. Der menschliche Körper hat sich an diese Nahrungsknappheit angepasst, was erklären mag, warum Fasten so gesund ist: Es entspricht der Situation, die wir seit Jahrtausenden kennen und auf die unser Körper optimal eingestellt ist. Als die Zeiten des unfreiwilligen Hungerns abnahmen, erkannten die spirituellen Lehrer sehr schnell, dass chaotisches Daueressen körperlich wie psychisch wenig förderlich war. Vermutlich beobachteten sie, dass Krankheiten auftraten, die vorher unbekannt waren, und schlussfolgerten, dass bestimmte Nahrung oder ein bestimmtes Essverhalten den Körper verschmutzte.
Fasten ist somit die älteste bekannte spirituelle Praxis. Der Ayurveda betrachtet die Verunreinigung durch Nahrung als Hauptursache aller körperlichen und psychischen Krankheiten und empfiehlt, durch freiwilliges Fasten Körper und Psyche zu reinigen, zu entgiften und zu läutern. Auch ein Mittel zur Prävention von Krankheiten und Verbesserung des Wohlbefindens sieht er im Fasten.
Der Buddha wiederum lotete auf seinem Weg zur Erleuchtung die Grenzen seiner Fastenfähigkeit aus. Als junger Mann verließ er sein wohlhabendes Elternhaus, um als Asket Erleuchtung zu suchen. Unter anderem folgte er einer Extremdiät, die ihm ein Wanderasket empfahl. Diese hielt er strikt ein, verlor an Gewicht und war bald so schlaksig und dünn, dass Sujata, eine junge Frau, Mitleid mit ihm hatte und ihm Milchreis anbot, was er zum Anlass nahm, sein Fasten zu brechen. Er spürte, dass ihm die Speise wohltat und seine Meditation nicht störte, sondern vertiefte und ihm die Kraft gab, sich unter den Bodhi-Baum zu setzen und spirituell zu erwachen. Er musste sich eingestehen, dass die asketische Diät für ihn eine Sackgasse war. Zwar half sie ihm, vorübergehend Gewicht zu verlieren und seine Bedürfnisse zu unterdrücken, sie förderte aber weder sein Wohlbefinden noch sein spirituelles Erwachen. Seine Meditation über diese existenzielle Grenzerfahrung und das menschliche Leid im Allgemeinen führte zu seiner Lehre vom Mittleren Weg, der zwischen Lust und asketischer Quälerei hindurch zu einem höheren und freieren Leben führt. Bis zu seinem Lebensende beschäftigte er sich mit dem richtigen Umgang mit Hunger und den sozialen und ökologischen Auswirkungen des Essens. Dazu gehört sein Gebot, angebotenes Essen nicht abzulehnen, was seine tiefe Dankbarkeit gegenüber dem Leben ausdrückte. Ein eindrückliches Beispiel dafür ist die vergiftete Speise, die er aus Respekt vor seinem Gastgeber zu sich nahm. Je nach Überlieferung waren es verdorbenes Schweinefleisch oder giftige Pilze, die es dem Buddha erlaubten, in den Nirwana-Zustand einzutreten. So verschieden die Geschichten seines Übergangs auch sein mögen, in allen hatte er zweifellos einen Umami-Geschmack in seinem Mund.
Die Grenzen des Fastens, die der Buddha auslotete, nennt man medizinisch die metabolische Flexibilität. Damit ist die Fähigkeit gemeint, rasch von Fettaufbau zu Fettabbau umschalten zu können. Ein regelmäßiger Essrhythmus und der Verzicht auf Snacks erlaubt es, diese Fähigkeit wie eine Sprache zu lernen. Allerdings gibt es Menschen, die eine geringe Stoffwechselflexibilität haben. Dazu gehören Menschen mit Essstörungen (etwa Bulimie), sehr magere Menschen, Kinder unter 18 Jahren sowie Schwangere und stillende Mütter. All diese Personen sollten nicht länger als zwölf Stunden fasten.
Fasten als spiritueller Reset
Ein spiritueller Reset bezieht sich auf den Prozess oder die Praxis, sich von täglichen Ablenkungen, negativen Energien oder Gewohnheiten zu entfernen, um eine tiefere Verbindung zu sich selbst, dem Universum oder einem höheren Selbst herzustellen. Ähnlich wie bei einem physischen Reset, bei dem ein Gerät oder System auf seinen ursprünglichen Zustand zurückgesetzt wird, bedeutet ein spiritueller Reset, sich von emotionalen, mentalen oder spirituellen Blockaden zu befreien.
Fasten ist die ursprünglichste und verbreiteste Praxis, um einen solchen Reset im Sinne von Reinigung, Erfrischung, Verjüngung und Verbindung zu fördern. Der Ursprung dieser Praxis wurzelt vermutlich in der Überzeugung unserer Vorfahren, dass dämonische Kräfte über Speisen und Getränke aufgenommen werden. Fasten bot einen sicheren Schutz vor solchen Kräften. Je leichter und reiner die Speisen waren, die unsere Vorfahren zu sich nahmen, umso sanfter und reiner fühlte sich ihre Seele an.
Eine erste Steigerung dieser Idee war die Vorstellung, dass Fasten hilft, aktiv böse Geister aus dem Körper zu vertreiben. Sie lebt in dem christlichen Brauch weiter, mit reinigendem Fasten die Seele für das Osterfest vorzubereiten. Die nächste Steigerung bestand darin, mit asketischem Fasten seine mentale Macht zu fokussieren, bis hin zur Ekstase und zum Aufstieg in höhere spirituelle Sphären. So fasteten die Wüstenväter und Johannes der Täufer in der Einsamkeit, um den spirituellen Hunger zu verstärken und sich auf übersinnliche Offenbarungen vorzubereiten. Selbst Jesus musste eine vierzigtägige Fastenprüfung bestehen, um seine göttliche Berufung zu belegen. Abgeschwächte Formen des Fastens erleichterten mentale und körperliche Verwandlungsprozesse im Alltag. Fastenriten dienten etwa der Stimulierung der Fruchtbarkeit und bereiteten Pubertierende auf die Aufnahme in die Gemeinschaft der Erwachsenen vor. Das Trauerfasten wiederum half den Hinterbliebenen, den Tod des geliebten Menschen zu verarbeiten.
Schon früh entdeckten Gelehrte, dass der metabolische Reset – im Sinne einer Neueinstellung, die darauf abzielt, den Stoffwechsel des Körpers zu optimieren und neu zu kalibrieren – half, die Gesundheit zu verbessern und schlechte Lebensgewohnheiten loszuwerden. Die Beruhigung der Entzündungs- und Verdauungssysteme, die so entstehen kann, war eine gute Voraussetzung für einen mentalen Neuanfang. Der christliche Mönch und einflussreiche Asket Johannes von der Leiter, der im frühen Mittelalter lehrte, schrieb etwa: »Wenn man Schläuche erweicht, erweitern sie sich und fassen mehr als gewöhnlich; werden sie aber vernachlässigt, so trocknen sie aus und fassen weniger. Wer seinen Bauch mit Speisen überfüllt, dehnt seine Eingeweide aus, wer aber mäßig zu leben strebt, verengt sie. Die verengten Eingeweide fassen weniger; und somit macht die Natur uns wie von selbst enthaltsam.« Von dieser Wiederherstellung der Därme profitiert gemäß Johannes auch die Seele: »Durch das Fasten verliert die Völlerei allen Reiz des Süßen, wodurch sie bisher Menschen verführte. Das Fasten gibt der Nacht die Ruhe des Schlafs zurück und dem Gebet seine Lauterkeit. Das Fasten ist ein Licht der Seele und das Tor zur Seligkeit des Paradieses.« 33
Fasten bietet somit nicht nur körperliche Vorteile, sondern hat auch das Potenzial, seine Grenzen kennenzulernen und negative Gewohnheiten, Energien und Gedanken auszuscheiden und abzulegen. Darüber hinaus kann es die psychische Widerstandskraft stärken, indem es mentale Veränderungsprozesse fördert, insbesondere nach einem Verlust und in Zeiten des Abschieds und der Trauer sowie beim Start eines neuen Projekts oder Lebensabschnitts. Zu guter Letzt ist Fasten eine einfache und wirksame Übung in Genügsamkeit, die ein enormes Glückspotenzial birgt, da sie die Welt erstaunlich neu, lohnend und befriedigend macht.
Fasten bei Tieren und beim Mensch
Manche Tiere fasten tage- oder gar monatelang. Einige fasten oder schlafen während des Winters. Dies geschieht aufgrund von Mangel an Nahrung und zur Vermeidung von Gefahren bei der Futtersuche. Krokodile, Schlangen, Frösche, Libellen, Erdferkel, Lemuren, Schnecken, Lungenfische, Krebse und Schnecken können über mehrere Monate fasten, ohne Schaden zu leiden. Das kann man gut an Fröschen beobachten, die im Winter fasten und im Frühling so hoch wie im Herbst springen, weil ihre Muskeln vor der metabolischen Eigen-Verdauung in der Fastenzeit geschützt sind. Andere Tiere können dagegen nicht fasten, etwa Mäuse und Ratten. Je länger sie keine Nahrung zu sich nehmen, desto nervöser und unruhiger werden sie. Der Mensch jedoch gehört zu den Lebewesen, die fasten können. Diese Fähigkeit war eine der Voraussetzungen dafür, die Tropen verlassen und Regionen mit unwirtlichen Jahreszeiten und unzuverlässiger Nahrungszufuhr bewohnen zu können. Traditionelle Fastenperioden fallen daher nicht zufällig auf das Ende des Winters, wenn früher die Nahrungsvorräte langsam knapp wurden.
Nicht nur unser Körper, sondern auch unsere Psyche ist auf Mangel getrimmt. Das zeigt sich schon darin, dass wir uns einen Nahrungsüberfluss kaum vorstellen können. Das macht es der Lebensmittelindustrie so leicht, uns einen Mangel einzureden. Immerhin haben wir einzusehen gelernt, dass ein Überfluss von Salz und Kalorien uns nicht guttut, obwohl beides essenzielle Nahrungsbestandteile sind, die unser Körper selbst nicht herstellen kann. Es herrscht aber immer noch in breiten Kreisen der Bevölkerung der Irrglaube vor, wir würden an einem allgemeinen Mangel an Mikronährstoffen leiden. Dies mag für Kinder und Menschen mit Essstörungen und Verdauungsproblemen zutreffen, insgesamt gesehen ist ein solcher Mangel in unseren Breiten dagegen höchst unwahrscheinlich. Aus Fehlern der Nahrungsverarbeitung hat man gelernt und viele Nahrungsmittel haben wieder deutlich mehr Nährstoffe als nach dem Zweiten Weltkrieg. Mehl ist heute deutlich weniger weiß, weil es weniger gründlich von Ballaststoffen gereinigt wird als vor 30 Jahren, und Reis enthält deutlich mehr Mikronährstoffe als der unserer Großeltern. Auch Dünger und Futtermittel enthalten zunehmend große Mengen an essenziellen Mikronährstoffen wie Vitaminen, Kupfer, Selen und Zink, was sich in einer Zunahme dieser Nährstoffe in unserer Nahrung widerspiegelt.
Der beste Beleg für einen Überfluss an Mikronährstoffen, der in den letzten Jahren immer mehr zum Problem wird, ist die Zunahme von Hypervitaminosen. Das sind Krankheitserscheinungen durch eine Überdosierung von Vitaminen. Am gefährlichsten sind die fettlöslichen Vitamine A, D und E in Nahrungsergänzungsmitteln. Eine solche Überdosierung zeigt sich in bestimmten Vergiftungssymptomen wie Kopfschmerzen, Schwäche, Schwindel, Übelkeit, Verstopfung, Durchfall, Empfindungen eines inneren Zitterns, der Unfähigkeit zur körperlichen Betätigung oder zur Bewältigung der täglichen Routine. Schon eine Menge von 120 Einheiten pro Tag, was unter der Dosis eines frei käuflichen hoch dosierten Vitamin-E-Präparats liegt, steigert die Gefahr für eine Hirnblutung. 34 Zudem zeigen immer mehr Studien zu essenziellen Mikronährstoffen wie Vitaminen und Spurenelementen, dass diese in hohen Mengen die Gesundheit nicht fördern, sondern schädlich sind. Vitamin A und E schützen nicht vor Krebs, sondern erhöhen das Krebsrisiko. Vitamin D hat in großen Studien die Gefahr für Knochenbrüche und Asthma nicht verringert, sondern gesteigert. 35 , 36 Omega-3-Fettsäuren haben in einer Studie mit 18 000 Amerikanern Depressionen nicht verbessert, sondern verstärkt. 37 Auch eine Kombination aus Folsäure, Omega-3-Fettsäuren, Zink, Tryptophan und Aminosäuren, die Patienten mit Depressionen gegeben wurde, verstärkten deren depressiven Zustand. 38 Neueste Studien zeigen zudem, dass die Messungen von fettlöslichen Vitaminen im Blut nicht verlässlich sind und selbst dann einen Mangel anzeigen können, wenn die Speicher übervoll sind. Diese unzuverlässigen Tests haben sogar Gesundheitsbehörden zu der Verkündung verleitet, dass im Winter Vitamin-D-Mangel herrsche. Inzwischen hat die US Preventive Services Task Force, ein Gremium unabhängiger Experten, den so oft behaupteten Mikronährstoffmangel als einen methodischen Irrtum entlarvt. Auch führende Vitaminforscher wie der britische Arzt Tim Spector haben ihre Meinung zu Vitamin D radikal geändert und warnen nun vor Ergänzungsmitteln mit den fettlöslichen Vitaminen A, D, E und K. Schon die Weisen des Ayurveda meinten, wenn sie von Entgiftung sprachen, sowohl Makro- wie auch Mikronährstoffe. Es ist daher besonders wichtig, während des Fastens keine Nahrungsergänzungsmittel einzunehmen, sodass sich auch Ansammlungen von Mikronährstoffen und Hypervitaminosen zurückbilden können.
Hungermanagement
Angesichts all dieser Vorteile des Fastens überrascht es mich selbst, dass ich nicht früher damit begonnen habe. Wahrscheinlich war meine unbewusste Angst vor dem Hunger der Hauptgrund für meine anfängliche Skepsis. Diese Angst war zum Glück übertrieben, wie ich beim Abspecken nach einem mehrjährigen USA -Aufenthalt erfahren durfte. Unsere Fähigkeit, zu fasten beinhaltet verschiedene Mechanismen, die den Hunger ab dem Tag nach Fastenbeginn mindern. Wäre dies nicht der Fall, wäre Fasten nie so beliebt geworden. Physiologisch erklärt sich dieses Phänomen durch die Senkung des Insulinspiegels, die nach etwa zehn Stunden eintritt und hilft, den Hunger im Zaum zu halten. Nach einem Tag scheidet der Magen zudem weniger des Hungerhormons Ghrelin aus, was zu einer weiteren Entspannung führt. Nach ein paar weiteren Tagen geben die Darmhormone Leptin und Ghrelin, die für den akuten Hunger zuständig sind, die Führung teilweise ab und andere Hormone, die für das langfristige Überleben und den Metabolismus zuständig sind, etwa das Agouti-related-Protein, übernehmen das Zepter. Das ergibt auch evolutionsbiologisch Sinn, denn großer Hunger in natürlichen Hungerperioden hätte dazu führen können, dass wir verzweifelt potenziell ungute oder gefährliche Nahrung essen. Diese langfristig denkenden Hormone reagieren dagegen nicht auf übertriebene Ängste, zu verhungern, und sind in das Urgeheimnis des Lebens eingeweiht, dass leere Speicher besser sind als volle, weil die unnötige Nährstoffspeicherung aufwendig ist und Entzündungen verursacht, wie sich an Menschen, die an Übergewicht leiden, gut beobachten lässt. Mit jedem zusätzlichen Kilogramm Fett weitet sich die Entzündung im Körper etwas aus. 39 Versuche an Hefepilzen, Fliegen, Würmern, Nagetieren und Affen zeigen, dass diese Entzündung eine nachteilige Wirkung auf den Stoffwechsel und die Erneuerung von Geweben hat. 40 Ständige Nahrungszufuhr beschleunigt den Alterungsprozess, wä hrend Nahrungseinschränkung und leere Speicher die beste bisher bekannte Anti-Aging-Methode sind und die Lebensdauer bis zu 30 Prozent verlängern können.
Praktisch bedeutsam ist die hungerdämpfende Wirkung beim Intervallfasten, die durch die Umstellung des Essrhythmus entsteht, indem man täglich immer die gleiche Mahlzeit weglässt. Diesen Mechanismus können wir auch ohne Intervallfasten an uns selbst beobachten, nämlich beim nächtlichen Fasten. Nach dem Aufstehen ist der Hunger typischerweise gering, obwohl man die ganze Nacht nichts gegessen hat. Dieser Mechanismus wird beim Intervallfasten gezielt eingesetzt. Der Verzicht auf eine Mahlzeit mag am Anfang viel Überwindung kosten, doch der Körper passt sich schnell an den neuen Rhythmus an und der Hunger verschwindet. Dass es sich dabei um eine spezifische Regulation handelt, merkt man, wenn man aus dem Takt fällt und das Intervallfasten bricht. Dies ruft am nächsten Tag zur gleichen Uhrzeit typischerweise einen Bärenhunger hervor. Denn wir können uns nicht nur das Sättigungsgefühl, sondern auch den Hunger antrainieren. Wenn wir daran gewöhnt sind, morgens ein ausgiebiges Frühstück zu essen, wird der Hunger nach dem Aufstehen entsprechend groß sein. Dies entspricht aber nicht einem physiologischen Bedürfnis, sondern ist Ausdruck des Hunger-Rhythmus, an den wir uns angeeignet haben. Die Hadza, ein ursprünglich lebendes nomadisches Volk von Jägern und Sammlern in Ostafrika, erinnern uns daran, dass das Frühstück eine moderne Erfindung ist. Nach dem Erwachen essen sie nicht, weil sie keine Nahrung zur Verfügung haben. Erst am späteren Vormittag essen sie die Beeren, die sie frisch gesammelt haben. Das ergibt eine Fastenzeit von 10 bis 14 Stunden. Damit will ich allerdings nicht sagen, dass das Weglassen des Frühstücks die beste Option ist. Der Zeitpunkt des Essensverzichts ist nicht das Entscheidende und unser Organismus kann sich auf unterschiedliche Fasten-Rhythmen einstellen.
Neben dem Schlaf, dem Tagesrhythmus und der Regelmäßigkeit der Nahrungsaufnahme gibt es noch viele andere mentale Programme, die den Hunger steuern und mit dem echten Kalorienbedarf fast nichts zu tun haben. Selbst wenn wir keinen Hunger verspüren, kann uns der Geruch eines bratenden Steaks und das Brutzeln, das wir dabei hören, ziemlich hungrig machen. Viele solcher Hungerreize sind angeboren, andere lernen wir in der Kindheit oder später im Leben.
Für die Erforschung des Hungerlernens anhand von Experimenten an Hunden hat der russische Psychologe Iwan Pawlow den Nobelpreis erhalten. Voraussetzung für seine Entdeckung war die Messung des Speichelflusses bei Hunden. Immer wenn Pawlow den Hunden Futter gab, nahm deren Speichelfluss zu. Dies belegte, dass Nahrung den Appetit anregt. Das ist an sich schon ein wichtiger Befund und erklärt, weshalb an unserem Arbeitsplatz und in unserer Wohnung keine Snacks herumliegen sollten. Diese Einsicht allein hätte aber natürlich nicht für den Nobelpreis gereicht. Doch Pawlow beobachtete darüber hinaus, dass auch dann, wenn er sich ohne Futter dem Hundekäfig näherte, der Speichelfluss zunahm. Die Hunde hatten also gelernt, dass seine Schritte bedeuteten, dass es Essen geben wird. So genügten nun die Schritte, um in den Hunden den Hungerprozess auszulösen. Das nennt man Konditionierung. Dabei geht die Bedeutung des Futters auf einen Reiz über, der mit Futter an sich nichts zu tun hat. In späteren Experimenten benutzte Pawlow einen Glockenton, der ursprünglich bei seinen Hunden keinen Speichelfluss erzeugte. Läutete er die Glocke aber immer, wenn die Hunde gefüttert wurden, begannen sie auch dann zu speicheln, wenn der Glockenton nicht mit Futter einherging. Auf die gleiche We ise ist unser Appetit konditioniert, typischerweise auf gewisse Tageszeiten. Solange die Konditionierung unserem Kalorienbedürfnis entspricht, ist das sinnvoll, damit wir regelmäßig essen, was gesund ist, weil sich dank dieser Konditionierung der Körper auf die Nahrungsaufnahme vorbereiten kann.
Beim Fasten muss diese zeitliche Konditionierung neu eingestellt werden, was glücklicherweise bereits nach wenigen Tagen geschieht. Außerdem sollten konditionierte Reize wie Cornflakespackungen und Gerüche aus Bäckereien und Restaurants beim Fasten gemieden werden, weil sie wie Pawlows Glocke den Appetit steigern. Neben diesen generellen Konditionierungen, denen wir alle unterliegen, muss jeder individuell beobachten, welche weiteren konditionierten Essreize bestehen. Es könnten der Fernseher, das Auto, ein bestimmter Film oder ein Lied sein, was den Appetit anregt. Je besser es gelingt, uns solchen Reizen zu widersetzen und nur noch zu geplanten Zeiten am Tisch zu essen, desto schneller verlieren diese Reize ihre Wirkung. Dies war eine weitere Entdeckung von Pawlow: Je länger er die Glocke nur dann ertönen ließ, wenn es kein Futter gab, desto weniger reagierten die Hunde auf den Ton. Man nennt dies folgerichtig Dekonditionierung oder Verlernen. Beim Reiz-Verlernen kann es helfen, das Essen durch eine andere Tätigkeit zu ersetzen, etwa durch das Trinken eines Tees oder eines schwarzen Kaffees. Diese Methode dämpft die Entzugssymptome. Sport ist besonders geeignet, Hungerreize zu verlernen, da dank der anaeroben Verbrennung Milchsäure entsteht, die den Appetit aktiv senkt. Das heißt: Kalorienverbrennung kann den Hunger reduzieren und das Weglassen von Zwischenmahlzeiten oder ganzen Mahlzeiten kann den Bewegungsdrang verstärken. Dies mag auf den ersten Blick unlogisch erscheinen. Doch tatsächlich ist unser Stoffwechsel kein »logischer« Kalorienbuchhalter, sondern arbeitet »psycho-logisch« im Sinne der Selbstwirksamkeit: Je mehr Bewegung und Kalorienverzicht, desto mehr steigt die Freude an Bewegung und Kalorienverzicht. Ungeeignet, um den Hunger zu senken, ist dagegen künstlicher Süßstoff, weil er die Insulinausschüttung fördert und damit den physiologischen Hunger verstärkt. Eine vielversprechendere Strategie ist da die Beschäftigung. Wenn wir in den gewohnten Essenszeiten arbeiten, ist es einfacher, die Welle eines konditionierten Hungers ohne Rückfall zu überstehen.
Neben dem Hunger, der aus den erwähnten Gründen oft unnötig entfacht wird, besteht zudem das Problem, dass auf unsere Sättigungsgefühle wenig Verlass ist. Dies spiegelt das Grundproblem wider, dass wir auf Überfluss körperlich wie mental nicht vorbereitet sind. Wenn unsere Vorfahren an einem Ort voller Früchte und Tiere ankamen, war es trotzdem immer eine Anstrengung und eine Gefahr, an gesunde Lebensmittel zu kommen, sie zuzubereiten und zu kauen. Sie mussten sich also stets zweimal fragen, ob sie wirklich Hunger hatten. Der unbewusste, immerwährende Hunger, den wir heute erleben, konnte sich in einer solchen Situation schlicht nicht entwickeln. Aus diesem Grund sagt unsere natürliche Sättigung nie: »Iss auf keinen Fall den Hamburger oder die Currywurst, du bist satt!« Der bewusste Verzicht auf eine Nahrung, die uns zubereitet zur Verfügung steht, ist ein neues Problem, das aktiv und bewusst bewältigt werden muss.
Fasten ist eine Lösung dafür, und sie nimmt in allen Kulturen die Moral zu Hilfe. Früher waren dies Gottesfürchtigkeit und das Bedürfnis, sich spirituell zu reinigen. Heute stehen eher gesundheitliche Aspekte im Vordergrund. Die moderne moralische Stimme sagt also: »Du darfst das nicht essen, es ist ungesund, es macht dick, und am Ende wirst du noch zuckerkrank.« Dazu kommen die sozialen Ängste: »Meinst du wirklich, niemand bemerkt den Riesenhaufen Pommes auf deinem Teller? Schämst du dich nicht?« Allerdings gibt es auch eine entgegengesetzte moralische Stimme, die man obszönes Über-Ich nennt. Diese sagt etwa: »Du musst das essen! Du liebst dieses Essen – steh doch zu deiner Lust!« Das Grundmotiv aller moralischer Stimmen ist die Freiheit in einem umfassenden Sinn, etwa Freiheit vor Hunger und vor Scham. Die obszöne Stimme verwechselt diese umfassende Freiheit jedoch oft mit kurzfristigen Freiheitsgefühlen und Beliebigkeit – sie nimmt zu wenig Rücksicht darauf, dass die langfristige Freiheit Einschränkungen im Moment bedingt. Fasten ist daher eine gute Gelegenheit, sich seiner Moral und seiner tieferen Wünsche bewusst zu werden: Besteht meine Freiheit darin, beliebig viele Donuts in einer Stunde zu essen, oder eher darin, auch noch im Alter von 70 Jahren mit meinen Freunden, Enkeln oder Patenkindern auf einen Ausflug gehen zu können? Die Freiheit ist der entscheidende Unterschied zwischen Hungern und Fasten: Hungern ist ein unfreiwilliger Verzicht auf Nahrung. Hungernde Menschen wissen nicht, wann sie die nächste Mahlzeit bekommen. Fasten hingegen ist der freiwillige Verzicht auf Essen aus gesundheitlichen, spirituellen oder anderen Gründen. Überhaupt macht der Wunsch nach Freiheit für viele Menschen die Faszination am Fasten aus. Im Extremfall werden Hungerstreiks sogar dazu eingesetzt, um mehr Unabhängigkeit zu erreichen. Mahatma Gandhi etwa hat mit einer Fastenaktion erfolgreich gegen die britische Kolonialherrschaft in Indien protestiert.
Praktisches Vorgehen
Eine häufige Frage, die beim Planen von Fasten-Perioden aufkommt, ist folgende: Was soll ich tun, wenn ich während des Fastens Hunger habe oder mich nicht gut fühle? Wenn ich es nicht aushalte, mich nicht mehr wie ich selbst fühle, wahnsinnig vor Hunger werde und beginne, Geschirr zu zerschlagen? Die Antwort ist klar: Etwas essen!
Bei der gefühlten Unfähigkeit, fasten zu können, sollten wiederum diese Punkte berücksichtig werden: Zu hohe Erwartungen und eine zu schnelle Umstellung des Essrhythmus gehören zu den wichtigsten Ursachen von Fasten-Abbrüchen. Wer oft und regelmäßig Zwischenmahlzeiten einnimmt, sollte mit dem Mikro-Fasten beginnen, das zum Ziel hat, auf Snacks zu verzichten und sich auf die Hauptmahlzeiten zu konzentrieren. Um den Körper auf das Fasten vorzubereiten, sollten diese Mahlzeiten immer zur gleichen Zeit eingenommen werden. Einer der wichtigsten Befunde meiner eigenen Forschung ist die Beobachtung, dass eine kurze oder unregelmäßige Bettdauer den Appetit steigert, weil sie den Schlaf-Wach-Rhythmus aus dem Gleichgewicht bringt. 41 Ich sage Bettdauer und nicht Schlafdauer, weil es genügt, von 22 bis 6 Uhr ruhig im Bett zu liegen, um in einen guten Rhythmus zu kommen. Der Schlaf selbst ist zwar angenehm, aber zur Appetitregulation nicht notwendig.
Neben den unrealistischen Erwartungen und dem fehlenden Rhythmus kann auch eine falsche Ernährung das Fasten zum Scheitern bringen. Industrieller Zucker und ein Mangel an Früchten und Gemüse, die natürliche Eiweiße und lange Kohlenhydrate enthalten, können den Appetit in unerträgliche Höhen treiben. Auch Flüssigkeitsmangel und eine massive Steigerung von Bewegung und Sport können zu diesem Problem beitragen. Ein weiteres wichtiges Hindernis auf dem Weg zum geglückten Fasten ist das emotionale Essen. Dabei ist der Hunger nicht körperlich-metabolischer Natur, sondern dient der Stressverarbeitung und der Gefühlsregulierung. Der emotionale Hunger tritt typischerweise plötzlich auf, getriggert durch Gedanken und Gefühle. Körperlicher Hunger entwickelt sich dagegen eher langsam und beginnt mit dem Knurren des Magens. Den emotionalen Hunger stillen nur ganz bestimmte Lebensmittel, etwa Sahnetörtchen oder Pralinen, während der körperliche Hunger auf alle Arten von Kalorien anspricht, selbst auf Speisen, die man nicht besonders mag. Der emotionale Hunger kann sich zu regelrechten Essattacken ausweiten, während der körperliche Hunger durch eine normale Portion verschwindet. Emotionales Essen führt zudem oft zu Scham-, Reue- und Schuldgefühlen, was beim Stillen des körperlichen Hungers selten vorkommt. Zum emotionalen Essen gehört auch der bereits angesprochene Irrglaube, an einem Nährstoffmangel zu leiden, was jedoch lediglich auf unseriöse Werbung, von der Industrie gesponserte Berichterstattung und pseudowissenschaftliche Bluttests zurückzuführen ist.
Die Erkenntnis, dass Hunger kein rationales Signal ist, sondern einem unstillbaren Begehren ähnelt, das sich eher auf höhere Ziele als nur auf Kalorien richtet, ist eine uralte Weisheit. Im Buddhismus steht das Hungergefühl im Zentrum der Betrachtung des Leidens. Gemäß der buddhistischen Psychologie besteht Hunger aus zwei verschiedenen »Pfeilern«: einer unmittelbaren körperlichen Empfindung und einer Reaktion auf diese, die mit Emotionen wie Lust, Unruhe oder Abneigung verbunden ist sowie mit Gedanken wie »Ich muss dringend etwas essen!«. Buddhistische Achtsamkeit soll dabei helfen, die unmittelbare, körperliche Hungerempfindung von der gefühlsmäßig-gedanklichen Reaktion darauf zu entkoppeln: »Ja, es gibt Hunger in meinem Körper«, sagte mir einmal ein buddhistischer Lehrer lächelnd, ohne jedoch die geringsten Anstalten zu machen, darauf zu reagieren.
Der Buddha hat sich nicht nur mit den psychologischen und spirituellen Aspekten des Hungers beschäftigt, sondern war sich auch bewusst, dass beim Fasten soziale Faktoren wesentlich sind. Fasten in der Gruppe, etwa in einem Kloster, ist einfacher als allein. Umgekehrt gilt: Das Einzelfasten aus gesundheitlichen, psychologischen oder spirituellen Gründen scheitert häufig an sozialen Zwängen. Eine Einladung zum gemeinsamen Essen abzulehnen, ist nach wie vor eine schwerwiegende Sache. Viele Menschen fühlen sich dadurch vor den Kopf gestoßen oder gar persönlich angegriffen. Wie ich im Kapitel über die Essgemeinschaft erklären werde, ist das eine verständliche Reaktion, die tief in unserer Geschichte verankert ist. Wir müssen die zwischenmenschliche Funktion des gemeinsamen Essens sehr ernst nehmen und das Fasten den Gegebenheiten anpassen, sodass keine sozialen Nachteile entstehen. Bei wichtigen Anlässen wie einem Geburtstag oder einer Hochzeit sollte das Fasten daher unterbrochen werden. Doch bevor ich vertieft auf die Essgemeinschaft und Essrituale eingehe, dreht sich das nächste Kapitel um die konkrete Nahrung, auf die unser Körper angewiesen ist.