Essrituale und Essgemeinschaft
Im letzten Kapitel haben wir gesehen, dass wir bei der kulinarischen Verwandlung des Rohen behutsam mit der Matrix und der Vielfalt ganzer Lebensmittel umgehen müssen. In diesem Kapitel soll es nun um die Essgemeinschaft gehen, in der sich die Nah rung noch einmal verwandelt, nämlich in Beziehungen, Kultur und Spiritualität.
Esther, eine Patientin von mir, litt als Jugendliche nach jeder Mahlzeit an enormen Bauchschmerzen. Eine Reihe von Abklärungen an einem Universitätsspital ergab, dass sich ihr Bauch und ihr Dünndarm nicht bewegen. Sie wird deshalb seither parenteral ernährt, was viele medizinische Nachteile hat, die ich im letzten Kapitel beschrieben habe. Im Gegensatz zu Claudia, die ich in der Einleitung erwähnt habe und die unter parenteraler Ernährung schnell verstarb, verträgt Esther diese Ernährungsform besser und ist froh, dass sie dadurch keine Bauchschmerzen mehr erleiden muss. Doch auch bei ihr verläuft es nicht frei von Problemen, neben körperlichen wie Erschöpfung und Schwäche klagt sie über ein soziales: »Ich bin vom sozialen Leben ausgeschlossen. Wenn man nicht isst, hat man auch keine Freunde. Auch keinen Freund. Niemand will mit mir befreundet sein, weil ich nicht essen kann.« Stellen Sie sich einen Moment in Ihrem Leben in Esthers Schuhen vor: kein Geburtstagskuchen, kein Lebkuchen zu Weihnachten und keine romantischen Abendessen zu zweit.
Esthers Beispiel zeigt, dass Essen mehr ist als bloße Nahrungsaufnahme, vor allem wenn wir in Gesellschaft essen. Es ist ein Vorgang, bei dem das Essen von einer Stellung außerhalb des Körpers nach innen wechselt. Diese Verinnerlichung und Integration findet gleichzeitig auch auf der zwischenmenschlichen Ebene statt. Es gibt vermutlich nichts Wirksameres, um eine Gruppe zu bilden, als miteinander zu essen. So ist es kein Zufall, dass Esswaren und Getränke in allen Kulturen wichtige Symbole und Identitätsmerkmale sind. Oft gibt die Art des geteilten Essens und Trinkens die Stärke der Bindung zwischen Menschen an. Getränke ohne Mahlzeit sind unverbindlich und geeignet, den Austausch zwischen einander unbekannten oder wenig bekannten Personen zu fördern. Mahlzeiten mit Getränken sind dagegen näheren Bekannten und Freunden sowie besonderen Gäste vorbehalten. Auch der Familienzusammenhalt wird durch gemeinsames Essen bestätigt und verstärkt. Hochzeits- und Geburtstagsfeiern etwa drehen sich um eine aufwendig dekorierte Torte und zu Weihnachten stehen oft das Festessen und Süßes im Mittelpunkt. Auf den Trobriand-Inseln, die zu Papua-Neuguinea gehören, ist Sex vor der Ehe erlaubt, nicht aber das gemeinsame Essen. Dieses Verbot zeigt eindrücklich, wie wichtig das Essen für den Familienzusammenhalt sein kann. Aber nicht nur in alten Kulturen und Familientraditionen spielt das gemeinsame Essen eine zentrale Rolle, sondern es erlebt eine Renaissance in Realityshows wie Survivor und Big Brother . Wie bei uralten Essritualen fördert es auch hier den sozialen Zusammenhalt, dient als Bühne für Konflikte und Dramen und trägt wesentlich zur emotionalen Tiefe der Shows bei.
Gemeinsames Essen ist zudem eine gute Gelegenheit, einen wichtigen Aspekt von Spiritualität zu verstehen. Es geht um folgendes Paradox: In ursprünglichen Kulturen und bei einem traditionellen Essen mit Gastgeber und Gästen nimmt mit jeder Person, die am Tisch sitzt, die Menge an Kalorien, die jedem zusteht, ab. Ohne Gemeinsinn, der oft einen spirituellen Aspekt hat, wäre dies nichts als ein Nachteil. Je mehr Personen am Tisch, desto schlechter würde es allen gehen. Doch in der Realität beobachten wir das genaue Gegenteil: Gemeinsames Essen bereitet mehr Freude als das Alleinessen, und dieser Effekt ist so groß, dass es für viele Menschen emotional schwierig ist, allein zu essen, obwohl ihnen dann alle Kalorien zur Verfügung stünden. Der fragwürdige Genuss der Alleinherrschaft über alle Kalorien zeigt sich etwa darin, dass Fernseher, Smartphones und Zeitungen als Gesellschafter hinzugezogen werden. Die Freude am Teilen von Kalorien scheint also stärker zu sein als die Freude am Konsum von Kalorien. Die Vermehrung von Speisen, die in der Bibel immer wieder vorkommt, spielt unter anderem auf diese wunderbare Steigerung der Freude an. Essen hat in diesem Sinn eine antikapitalistische Note: Es geht nicht darum, sich möglichst schnell das größte Stück zu greifen, um das eigene Kalorienkapital zu mehren. Der gute Tischgenosse ist eher geduldig, teilt gern, legt Streitigkeiten vor dem Essen bei, wartet, bis die anderen angefangen haben, und bleibt am Tisch, bis der Letzte fertig ist. Dem Widerspruch, dass der Kapitalismus das Vertrauen sowie Höflichkeits- und Umgangsformen, von denen er abhängt, untergräbt und zerstört, kann mit gemeinsamen Mahlzeiten entgegengewirkt werden.
Neben den sozialen und spirituellen hat das gemeinsame Essen auch gesundheitliche Vorteile. Im ersten Kapitel habe ich beschrieben, wie das achtsame Essen den Vagus-Nerv aktiviert. Neueste Studien zeigen, dass diese Wirkung deutlich ausgeprägter ist, wenn wir mit anderen zusammen achtsam essen. 61 Interessanterweise spiegelt sich dies im Begriff der Diät, der sehr viel facettenreicher ist, als allgemein angenommen wird . Das altgriechische » diaita« bedeutet Lebensart oder Lebensweise. Diät ist aber auch verwandt mit dem noch älteren Wort »diaitá o - «, das ein intensives Geben, Nehmen und Teilen meint. Auch andere altgriechische Wörter, die mit Diät verwandt sind, etwa »dais« und »daín u - mi«, bedeuten sowohl essen wie auch teilen. Dies zeigt, dass die ursprüngliche Idee der Diät weit mehr umfasste als die Auswahl geeigneter Nährstoffe. Es geht vielmehr um das Teilen und die sozialen Verbindungen, welche die Nahrung vermitteln. 62 So ist es auch kein Zufall, dass Menschen in den Blauen Zonen wie Schwester André und Kane Tanaka nicht nur achtsam und gesund essen, sondern auch gemeinsam mit anderen.
Gemeinsames Essen bei psychischen Problemen
Den wichtigen sozialen Aspekt des Essens sieht man auch bei Essstörungen, die leider oft zu zwischenmenschlichen Problemen und Vereinsamung beitragen. Die Bulimie ist gekennzeichnet durch Essattacken und ungesunde Maßnahmen zur Gewichtsreduktion wie Erbrechen, Abführmittel oder exzessiver Sport. Betroffene können einen so starken Hunger bekommen, dass sie es vorziehen, ihr Essen nicht zu teilen, um alle Kalorien allein verschlingen zu können. Diese Gier und die damit verbundenen Schamgefühle führen zu einem sozialen Rückzug und zur Verheimlichung der Essstörung. Bei der Magersucht hindert der Stolz, auf Kalorien verzichten zu können, die Betroffenen, sich in die Essgemeinschaft zu integrieren. Die verbindende Kraft des gemeinsamen Appetits ist ihnen fremd. Wenn sie sich zwingen zu essen, ersticken Magen-Darm-Beschwerden, aber auch Scham- und Schuldgefühle die Tafelfreuden. Umgekehrt gilt, dass soziale Probleme, etwa Zurückweisungen, Mobbing sowie emotionaler und sexueller Missbrauch, wichtige Ursachen von Essstörungen und Übergewicht sind. Dieser Zusammenhang wird nicht nur von Studien nachgewiesen, sondern auch von folgenden Redewendungen nahegelegt: »An diesem Vorwurf hatte ich zu kauen«, »Ich hungere nach einem lieben Wort«, »Sie haben mich schmoren lassen« oder »Er hat mich weichgekocht«.
Max war ein junger Mann mit einer Leidenschaft für Zahlen und einem außergewöhnlichen musikalischen Talent. Ich lernte ihn im Rahmen einer Abklärung seines Essverhaltens kennen. Seine Liebe zu Zahlen und seine Hellhörigkeit und Sensibilität machten ihm mitunter Freude. Sie brachten aber auch Herausforderungen mit sich, insbesondere in sozialen Situationen und bei der Nahrungsaufnahme. Schon in jungen Jahren zeigte Max Anzeichen einer Sensitivität gegenüber bestimmten Texturen und Geschmacksrichtungen. Für ihn war das Essen oft unangenehm, was dazu führte, dass er viele Lebensmittel vermied und sich am Tisch unwohl fühlte. Weil man bei ihm Autismus diagnostiziert hatte, waren seine Eltern sehr verständnisvoll und versuchten, ihm alle Wünsche zu erfüllen. Dies hatte zur Folge, dass er nur noch allein und zu unregelmäßigen Zeiten aß, hauptsächlich quadratischen Schmelzkäse, weiches Weißbrot und Schokolade. Dieses gestörte Essverhalten förderte wiederum seine soziale Isolation, weil er sich dafür schämte.
Dabei zeigte Max trotz seiner Autismus-Diagnose ein hohes Maß an sozialen Fähigkeiten. Auf unsere Therapiesitzungen freute er sich sichtlich. Er konnte gezielt meine Aufmerksamkeit auf Dinge lenken, die ihm wichtig waren – sei es ein Plastikgehirn auf einem Regal oder eine Darmskizze auf meinem Schreibtisch. Solch ein Verhalten ist eher untypisch für Autismus. Daher stellte ich die Diagnose infrage und empfahl den Eltern, gemeinsam mit Max zu essen und seine Ernährung schrittweise zu diversifizieren. Dies war für die Eltern eine enorme Umstellung, da sie es gewohnt waren, Max als hilfsbedürftig anzusehen und ihm in allem entgegenzukommen. Ich unterstützte sie darin, aktiver und konsequenter zu erziehen und einen strukturierten Essensplan zu etablieren. Doch interessanterweise war Max nicht böse auf mich, obwohl die neue Diät ihm anfänglich Bauchbeschwerden und Durchfall einbrachte und er sich nur langsam an das gesunde Essen mit ganzen Früchten und Gemüsen gewöhnte. Einmal sagte er zu mir: »Irgendwie haben Sie mich durchschaut, und das ist gar nicht nett, aber irgendwann musste es ja passieren.« Unter der Therapie verbesserte sich schließlich nicht nur sein Essverhalten, sondern auch sein Sozialleben. Er trat einem Tischtennisklub bei und war eher bereit, Bekannte zu treffen und mit ihnen zu essen und zu trinken, statt sich nur online mit ihnen zu vernetzen.
Wie Max’ Geschichte verdeutlicht, spielt gemeinsames Essen eine zentrale Rolle in der Therapie gegen soziale Isolation und Essstörungen. Allerdings gestaltet sich der Therapieansatz nicht immer so reibungslos. Wenn Eltern aus zeitlichen Gründen oder wegen eigener Essstörungen nicht daran teilnehmen können und in der Familie keine Tradition des gemeinsamen Essens existiert, wird die Therapie aufwendiger. In solchen Fällen können spezialisierte Kliniken für Essstörungen dank Gruppendruck und professioneller Unterstützung eine sehr hilfreiche Option sein, selbst bei schwer gestörtem Essverhalten. Manchmal genügt aber auch ein Retreat, bei dem der soziale Druck aufgebaut wird, regelmäßig und gemeinsam zu essen. Doch Vorbeugen ist immer einfacher und wirksamer als eine Behandlung. Das gemeinsame Essen mit Kindern senkt die Gefahr für psychische und körperliche Zivilisationskrankheiten. Familienrituale sind wichtige Voraussetzungen, um auch später einen Essrhythmus einzuhalten und achtsam zu essen. Je sicherer die soziale Bindung eines Kindes ist, de sto leichter fällt es ihm, die Nahrung von anderen anzunehmen – oder diese auch abzulehnen. 63
Überhaupt gehen Historiker davon aus, dass das gemeinsame Kochen und Essen der Anfang der menschlichen Kultur war. Vermutlich bezogen sich die ersten Wörter auf Essen, so wie das urtümliche Wort »Diät«, das zugleich Essen und Teilen meint. Beim Essen erleben wir unsere Schwächen , unsere geheime Lust, unseren Appetit, der uns eint. Ausdrücke wie »gemeinsam in den sauren Apfel beißen«, »seinen Senf dazugeben«, »die Suppe auslöffeln« und »für jemanden die Kastanien aus dem Feuer holen« sind ein Beleg, wie stark die Nahrungsaufnahme und das Sozialleben bis in unsere Zeit sprachlich verknüpft sind. Gewissermaßen ist das gemeinsame Essen der Vorläufer der Psychotherapie . Und Max konnte, leicht verspätet, zusammen mit seinen Eltern diesen Ursprung aller Kultur doch noch erfahren.
Gemeinsames Essen und die Hormone der Liebe
Essen zu teilen, ist nicht nur eine große kulturelle Leistung, sondern auch eine hormonelle Herausforderung und Chance. Tiere fressen allein oder in Gruppen, aber nur Menschen speisen wirklich zusammen. Bei Tieren gibt es eine physiologische Konkurrenz zwischen Essen und sozialem Verhalten. Die Hungerneuronen unterdrücken soziale Interessen, damit sich das Tier verstärkt um die Nahrungsaufnahme kümmert. Die Ausschüttung der Hormone Leptin und Neurotensin wiederum fördert Bewegung, soziale Kontakte und die Sexualität, indem sie den Hunger unterdrücken. 64 Bei Eulen ist diese Wechselwirkung besonders ausgeprägt. Eulen-Männchen zeigen ihre Fortpflanzungsbereitschaft, indem sie dem Eulen-Weibchen ihr Essen anbieten und dadurch ihren eigenen Hunger aushalten müssen. Diese Großzügigkeit wird mit Sex belohnt. Die Fähigkeit, den Hunger zu unterdrücken, ist auch das Zeichen, dass die Eule bereit ist, die Vaterrolle zu übernehmen und für die Verpflegung der Familie zu sorgen.
In der menschlichen Erotik spielt die Hunger-Askese dagegen keine entscheidende Rolle. Vielmehr sind es der geteilte Appetit, das gemeinsame Erleben von kulinarischen Genüssen und das Teilen von Kochkünsten, die Hormone wie Oxytocin, Leptin und Neurotensin stimulieren und somit eine tiefere Verbindung und Anziehungskraft fördern. Das Märchen Der Mann ohne Herz veranschaulicht dies eindrücklich. Ein alter Mann behauptet, ohne Herz zu leben. Er offenbart seiner jungen Haushälterin, dass sich sein Herz in einem Vogel befindet, der die Nahrung verweigert und in einer uralten Kirche gefangen ist. Die Haushälterin, verzweifelt über die Unfähigkeit, dem Alten zu mehr Liebe zu verhelfen, erzählt das Geheimnis einem attraktiven jungen Wanderer, der sich bereit erklärt, den Vogel zu suchen. Die Haushälterin packt ihm viel zu essen und zu trinken ein und wünscht ihm Glück. Auf der Wanderung setzt er sich zu den Essenszeiten auf den Boden und ruft: »Holla! Nun wollen wir schmausen! Herbei, wer mein Gast sein will!« Sein erster Gast ist ein Ochse, der sich’s schmecken lässt und sagt: »Habe du großen Dank, und wenn du einmal jemand brauchst, dir in Not und Gefahr zu helfen, so rufe nur in Gedanken nach mir, deinem Gast.« Sein zweiter Gast ist ein Schwein, das zum Abschied sagt: »Habe Dank, bedarfst du mein, so rufe dem Schwein!« Sein dritter Gast ist ein großer Vogel, der anschließend sagt: »Brauchst du mich, so rufe mich!« Alle drei Gäste halten Wort. Der große Vogel führt den Wanderer zu der Kirche, in der der gefangene Vogel verzweifelt herumflattert. Die Kirche ist jedoch von einem tiefen Wassergraben umgeben, den der Wanderer nicht überwinden kann. Doch der dankbare Ochse kommt im Eiltempo zu Hilfe und säuft den Graben in einem Zug leer. Die letzte Hürde ist die dicke Kirchenmauer, die keine Türen und Fenster hat. Bei diesem Problem hilft das Schwein, das willig herbeirennt und mit seinen Hauern ein Loch unter der Kirchenmauer hindurch gräbt. Der Wanderer schlüpft hinein, fängt den abgemagerten Herzvogel und übergibt ihn der Haushälterin. Als er seinen letzten Bissen, der von seiner Wegzehrung übrig ist, mit der Haushälterin teilt, kriegt auch der Vogel Appetit und isst mit. In diesem Moment schließt der alte Mann erlöst seine Augen für immer. Die junge Frau verliebt sich in den großzügigen Wanderer, der so gern teilt und isst, und wenn sie nicht gestorben sind, dann lieben sie sich noch heute.
Der oscarprämierte Film Babettes Fest , basierend auf einer Erzählung von Karen Blixen, verdeutlicht eindrucksvoll die verbindende Kraft des gemeinsamen Essens in einer größeren Gemeinschaft. Die Handlung spielt in einer abgelegenen dänischen Küstenstadt im 19. Jahrhundert, in der streng religiöse Bewohner unter der Führung der Töchter eines verstorbenen Pastors leben. Diese Gemeinschaft vermeidet Vergnügungen und beschränkt sich auf ein eher einfaches, fades Essen. Trotz ihrer tiefen christlichen Überzeugungen werden Spannungen, Neid und Missgunst immer präsenter. Eines Tages erscheint Babette, die aus Frankreich geflohen ist und um Unterkunft und Arbeit bei den Schwestern bittet. Nach und nach gewinnen die Schwestern Vertrauen zu ihr und schätzen ihre Hingabe und Unterstützung. Als Babette in einer französischen Lotterie 10 000 Francs gewinnt, beschließt sie, das Geld für ein opulentes Festmahl zu verwenden, das die Gemeinschaft verwandelt. Es ist faszinierend zu beobachten, wie Babette, trotz ihrer Position als Außenseiterin, durch das Essen Brücken baut und verlorene Beziehungen wiederherstellt. Durch ihre liebevolle Zubereitung des Festmahls gelingt es ihr, die Herzen der Menschen zu öffnen und Differenzen zu überwinden. Der Film unterstreicht eindringlich die transformative und verbindende Wirkung eines mit Leidenschaft zubereiteten Essens auf sozialer und spiritueller Ebene.
Die Psychologie der Essgemeinschaft
Die Hormone, die das gemeinsame Essen stimuliert, wirken auf die Psyche. Der britische Psychologe Robin Dunbar, der an der Universität Oxford lehrt, hat dazu eine interessante Studie durchgeführt. 65 Er konnte nachweisen, dass gemeinsames Essen das Vertrauen in andere stärkt, was eine typische Oxytocin-Wirkung ist. Dies führt dazu, dass die Interaktionen persönlicher werden und zwischenmenschliche Beziehungen entstehen können. Der Effekt hing nicht allein von den Menschen ab, sondern auch von den Essenszeiten. Menschen, mit denen man Abendmahlzeiten einnimmt, fühlt man sich im Durchschnitt besonders nah, weil diese meistens nicht zeitlich beschränkt sind, kein äußeres Ziel verfolgen und dabei mehr Alkohol getrunken wird, was den sozialen Austausch zusätzlich fördert (mehr dazu am Ende des Kapitels). Menschen, die man an sich binden möchte, lädt man deshalb am besten zum Abendbrot ein.
Dunbar fand außerdem heraus: Je mehr Menschen beim Essen anwesend sind, desto mehr wird gelacht und in Erinnerungen geschwelgt. Wenn die Stimmung in einer kleinen Tischgenossenschaft nicht in Schwung kommen will, kann es also eine gute Idee sein, noch mehr Personen dazuzuholen, vor allem natürlich heitere.
Auch für Vorgesetzte, die als übermäßig abgehoben und narzisstisch gelten, kann es hilfreich sein, gemeinsam mit den Kollegen zu essen, denn Tischgenossen erleben sich im Durchschnitt als angenehmer und sympathischer als im normalen Leben und begegnen sich eher auf Augenhöhe. Das zeigt sich darin, dass bestimmendes und unterwürfiges Verhalten am Esstisch zugunsten zustimmender Gesten abnehmen. Falls man hingegen als Chef Mühe hat, sich Respekt zu verschaffen und sich durchzusetzen, kann es hilfreich sein, dem Tisch der Mitarbeitenden fernzu bleiben und sie individuell zu treffen, für Besprechungen mit klaren Zielen.
Das gemeinsame Essen ist auch eine gute Gelegenheit, sich auf eine Person, die man nicht versteht und nicht einordnen kann oder von der man sich nicht verstanden fühlt, tiefer einzulassen, weil Essen intensive körperliche Erfahrungen und Handlungen beinhaltet und man sich weniger als bei einem normalen Gespräch verstecken kann. Ein wichtiger Teil unserer körperlichen Wahrnehmung sind die Spiegelneuronen, die sowohl aktiv werden, wenn wir selbst eine Handlung ausführen, als auch, wenn wir andere Personen beobachten, die sich ähnlich wie wir bewegen. Das gemeinsame Essen ist ein Fest für Spiegelneuronen, die bei so viel ähnlichen und vergleichbaren Bewegungen der Arme, Hände und Gesichtsmuskulatur einen wahren Rausch erleben. Das ist gut, weil die Neuronen uns helfen, auf einer körperlichen und intuitiven Ebene das Gegenüber kennenzulernen und zu verstehen. Dies erkennt man daran, dass die Gespräche und der Austausch konkreter, lebendiger und persönlicher werden. Langfristig führt dies dazu, dass einem die Person, mit der man im Spiegelneuronen-Austausch stand, weniger fremd und unverständlich vorkommt. Das erklärt auch, warum Claudia und Esther, die aufgrund ihrer Darmkrankheit nie in der Lage waren, mit anderen zu essen, sich nicht nur vom kulinarischen Genuss, sondern auch allgemein vom Leben ausgeschlossen fühlten. Diese Einsamkeit trug wiederum negativ zu ihrem Gesundheitszustand bei.
Aromen als sozialer Kitt
Wie ich schon angedeutet habe, spielen auch Gerüche beim sozialen Zusammenhalt eine wesentliche Rolle. Am Tisch mischen sich die Aromen der Speisen mit den Aromen der Menschen. Auf Dauer führt das zu einer Angleichung der Essensvorlieben und der Darmbakterien. Das erklärt, weshalb Tischgemeinschaften einen lebenslangen Halt geben können und zur kulturellen Identität beitragen. Der Vorläufer der Tischgemeinschaft ist die Schwangerschaft, während der die Mutter mit ihren Gerüchen und Essvorlieben ihr Kind nachhaltig prägen kann. Gut untersucht ist dies etwa bei der Vorliebe für Knoblauch, die sich mit der Milch von der Mutter auf das Kind überträgt.
Die Zeit an der Mutterbrust ist aber nicht nur für die Knoblauch-Liebe, sondern ganz allgemein für das Heimatgefühl und das Vertrauen in Esswaren und Menschen wichtig. Neugeborene haben eine sehr gute Aroma-Wahrnehmung, um vertraute Menschen zu erkennen. Kinder im Alter von sechs Wochen können bereits die Brust ihrer Mutter geschmacklich von einer anderen Brust unterscheiden. Auch Mütter empfinden den Geruch ihrer Kinder als angenehm und ziehen ihn dem Geruch eines fremden Kindes vor. Dass anziehende Menschengerüche mit den Aromen von Speisen zu tun haben, sieht man daran, dass beliebte Parfüms nach Lebensmitteln riechen. Sie enthalten häufig Vanille, Zitrone, Orange, Bergamotte, Mandarine und Pampelmuse, aber auch Kokosnuss- und Mandel-Aromen sowie Extrakte aus Grüntee, Schwarztee, Kamille, Minze und Gurke. Die Bibel weiß überdies zu berichten, dass Frauen des persischen Königs Ahasveros zwölf Monate damit verbrachten, sich mit den köstlichsten Lebensmitteln zu parfümieren, bevor sie ihn empfingen.
Nicht nur bei Kindern, sondern auch bei Erwachsenen haben die Aromen des gemeinsamen Essens eine verbindende Kraft, weil sie ein wichtiger Anker unseres Gedächtnisses sind und helfen, sich langfristig an die geteilte Zeit mit den Tischgenossen zu erinnern. Mahlzeiten, die intensiv riechen, etwa ein Braten, fördern dabei die Erinnerung an Tischgenossen im Durchschnitt mehr als wenig riechende Speisen wie Wasser und Eis. Nicht zufällig ist das wohlriechende Brot das bevorzugte Bindemittel des Christentums. Bekannte von mir, die sich mit dem Verkauf von Immobilien auskennen, empfehlen sogar, ein Brot zu backen, bevor man mögliche Kunden zur Besichtigung einlädt, denn so erhöht sich die Chance, dass sie sich wie zu Hause fühlen und bereit sind, einen hohen Preis zu zahlen.
Menschen, die Gerüche nicht gut wahrnehmen können, sind von diesen subtilen Interaktionen ausgeschlossen. Personen, die nach einer Coronainfektion mit einer Geruchsstörung zu kämpfen hatten, aßen vermehrt Fast Food und verloren ihren Essrhythmus. Auch ihre sozialen Beziehungen litten darunter, ihr Mitgefühl nahm ab und sie wurden als abwesend und unpersönlich wahrgenommen, was zu Frustration, Angst, depressiver Stimmung und sozialer Isolation beitrug. An diesen Problemen leiden auch Menschen, die mit einer schlechten Aroma-Wahrnehmung zur Welt kommen. Sie haben im Durchschnitt weniger Freunde, stehen Familienmitgliedern weniger nah und verbringen mehr Zeit allein. 66 Aber auch Menschen, die über einen übermäßig guten Geruchssinn verfügen und den kleinsten Parfüm- oder Mundgeruch als unangenehm intensiv und überwältigend erleben, leiden an sozialem Rückzug und schlechter Ernährung, weil bei ihnen die Aromen kein Heimatgefühl, sondern Ekel, Abneigung und Stress erzeugen.
All diese Befunde sprechen dafür, dass Aromen eine wichtige Rolle bei der Wahrnehmung von Geborgenheit und Heimat spielen. Diese Verbindung hat nicht nur tiefe Wurzeln in unserem persönlichen Leben, sondern auch in der Evolution. Ein eindrückliches Beispiel sind die Lachse, die in einem Fluss zur Welt kommen, den größten Teil ihres Erwachsenenlebens im Meer verbringen, um gegen Ende ihres Lebens zum Laichen zu ihrem Ursprung zurückzukehren. Als Jungfische bauen sie ein Aroma-Gedächtnis auf, das ihnen später hilft, den Weg zu finden. Auch bei Elefanten nimmt man an, dass sie nach langen Wanderungen die Landschaft ihrer Kindheit wiederfinden, weil sie chemische Erinnerungen an Vegetationen, Mineralien und Wasserlöcher besitzen, ja selbst an den Geruch des Regens.
Darmbakterien als Vermittler von Beziehungen
Wie oben schon kurz erwähnt, spielen auch unsere Darmbakterien eine wichtige Rolle bei der Bildung von Aroma-Gemeinschaften. Je länger und intensiver wir mit anderen Menschen zusammen leben und zusammen essen, desto ähnlicher werden unserer Darmbakterien und damit auch unsere Essvorlieben und Körpergerüche. 67 Je größer und vielfältiger unsere Tischgemeinschaften sind, desto vielfältiger werden unsere Darmbakterien, was wiederum die soziale Freude und die soziale Offenheit verstärkt.
Studien an Zwillingen mit identischem Erbmaterial belegen, dass die Verdauung und das Körpergewicht stärker von den untereinander ausgetauschten Darmbakterien als von den Genen abhängen. Das bedeutet, dass die Tischgenossenschaft unseren Appetit und unseren Stoffwechsel langfristig maßgebend beeinflusst. 68 Diese neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse wecken die Hoffnung, dass zahlreiche Erkrankungen, darunter Übergewicht, Depression, Autismus und Autoimmunkrankheiten, mittels Austausch von Darmbakterien verbessert werden können.
Wie groß das Bedürfnis geworden ist, sich über die Darmbakterien mit anderen Menschen und auch Tieren zu verbinden, zeigen folgende Beispiele. Kathy High, eine amerikanische Künstlerin, die an Morbus Crohn, einer entzündlichen Darmkrankheit, leidet, entschied sich, ihre Probleme mit einer Fäkaltransplantation behandeln zu lassen. Das ist ein medizinischer Eingriff, bei dem der Stuhl eines gesunden Spenders in den Darm des Patienten eingeführt wird, um das Mikrobiom anzureichern. Bei bestimmten Darminfektionen wird diese Methode bereits erfolgreich eingesetzt. Die größte Schwierigkeit besteht darin, einen gesunden Spender zu finden. Wer ist schon wirklich gesund und trägt garantiert keine Keime bösartiger Krankheiten in seinem Darm? High beschloss, selbst auf Stuhlsuche zu gehen, und fragte bei dem britischen Popstar David Bowie an, den sie bewunderte. Sie schickte ihm einige Fotos, auf denen sie sich wie er angezogen und geschminkt hatte, um ihre tiefe Verehrung zu bezeugen. Bowie starb jedoch leider, bevor er antworten konnte. Einen ähnlichen Wunsch hatte der kanadische Künstler und Biologe François-Joseph Lapointe, der nach Guinea reiste, um dort den Stuhl von Fledermäusen, seinen Lieblingstieren, zu sammeln und in seinen Darm zu transplantieren. Gemäß seinen Aussagen half ihm diese Methode, sich einen Fledermaus-Tanz auszudenken und aufzuführen. Beide Beispiele belegen, wie sehr die neuen Erkenntnisse zu Darmbakterien die Fantasie anregen, auch wenn sie jeweils unseriös waren und auf keinen Fall zur Nachahmung empfohlen werden können.
Auch ein Bekannter von mir nahm nach ausführlichen Abklärungen eine Behandlung mit Darmbakterien in Anspruch. Er ist ein erfolgreicher Biochemiker und Universitätsprofessor, der seit seiner Kindheit an Darminfektionen und Allergien litt, etwa auf Eier und Blütenpollen. Nach der Fäkaltransplantation, die er an der Taymount Clinic in England durchführen ließ, erlebte er eine starke und anhaltende Verbesserung seiner Symptome. Er kann wieder Eier essen und hat seither keine Infektionen mehr gehabt. Dies ist ein Einzelfall und keine Studie, aber immerhin eine verlässliche Quelle. E r sagte mir, dass er überzeugt sei, dass die anaeroben Bakterien für seine Gesundheitsprobleme relevant seien. Diese können nicht in einem Labor kultiviert werden und sind in keinem Probiotikum enthalten, weil sie Sauerstoff nicht vertragen.
Der Grund, warum diese Methode der Bakterientransplantation nicht breiter angewendet wird, ist neben der Schwierigkeit, geeignete Spender zu finden, dass es dabei zu schweren Nebenwirkungen kommen kann. Solange das nicht gelöst ist, sollte man auf natürliche Methoden des Bakterien-Austauschs zurückgreifen, allen voran auf das gemeinsame Essen. Besonders wirksam ist übrigens das schweizerische Fondue, das die Tischgemeinschaft aus einem einzigen Topf isst. Dabei reichern die vielfältigen Mikroben der Tischgenossen die Probiotika des Käses an.
Neben den hormonellen und psychischen Faktoren sowie den Gerüchen sind auch der Geschmack und die Chemie des Essens für die Tischgemeinschaft bedeutsam. Wenn alle Wein trinken und ich an einem Kamillentee nippe, fühle ich mich ausgeschlossen. Auch wenn alle einen Braten mit Pommes essen und ich nur Rohkost auf dem Teller habe, ist meine Verbundenheit mit der Essgemeinschaft eingeschränkt. Beim Alkohol ist die Erklärung einfach. Dieser verstärkt die Wirkung des beruhigenden Hirnbotenstoffs Gamma-Aminobuttersäure, kurz GABA , was zu einer Verlangsamung und Enthemmung des Gehirns und einer Emotionalisierung des Denkens führt. Das alles ist der Gemütlichkeit sehr zuträglich. Wer in einer solchen alkoholisierten Gemeinschaft einen Kamillentee trinkt, hat oft Mühe, sich mit den anderen zu synchronisieren und sich auf der gleichen mentalen Ebene auszutauschen. Vergleichbares könnte bei Koffein der Fall sein, welches das Hirn weckt und beschleunigt. Kräuterteetrinker können deshalb in einer Kaffeegemeinschaft zu trägeren Außenseitern werden.
Die soziale Abstimmung durch ähnliche Esswaren ist nicht so gut erforscht, weil wir noch viel zu wenig wissen, wie ganze Lebensmittel mit ihrer Vielfalt an Nährstoffen auf das Hirn einwirken. Naheliegend scheint mir aber, dass die herzhaften und sättigenden Umami-Aromen, die buddhistische Mönche entwickelten, um pflanzliche Nahrungsmittel attraktiver zu machen, auch eine soziale Qualität haben. Beliebte Gerichte wie Pizza, Spaghetti Bolognese, Thaicurry, Nudelsuppen, Sushi und Nasigoreng, die wie kaum eine andere Speise weltweit mit Kindheitserinnerungen verknüpft sind und so den globalen Zusammenhalt fördern, sind wahre Umami-Bomben.
Ein Lebensmittel, das besonders umami schmeckt, ist das Ei. Für viele Kinder ist das Ei das erste Lebensmittel, das sie selbst kochen. Es ist zudem das heidnische Symbol des christlichen Osterfestes und zeigt schon damit, dass es unterschiedliche Traditionen miteinander vereinen kann. Und es ist Teil von Bräuchen, etwa des Ostereiertickens, das im gesamten deutschen Sprachraum beliebt ist und eine große Vielfalt an regionalen Bezeichnungen trägt, etwa »ditschen«, »tippen«, »kitschen«, »tütschen« oder »kicken«, womit jeweils »zusammenstoßen« gemeint ist. Zwei Spieler nehmen je ein hart gekochtes Ei in die Hand. Ein Spieler fängt an und schlägt mit der Spitze seines Eis auf die Eispitze seines Gegenspielers, mit der Absicht, dessen Schale zu zerbrechen. Sieger ist, wessen Ei zum Schluss noch unversehrt ist . In der Familie wird dieses Spiel am Ostermorgen reihum am Tisch gespielt. Diese alte Tradition belegt eindrücklich, dass Lebensmittel nicht nur einen Nährwert, sondern auch eine soziale und symbolische Bedeutung haben.
Um die verschiedenen Formen des Umami-Einsatzes zu illustrieren, sei hier das Versöhnungsritual der chilenischen Schriftstellerin Isabel Allende erwähnt, das sie in ihrem autobiografischen Buch über die erotischen Freuden des Essens beschreibt. 69 Nach einem Ehestreit kochte sie eine Suppe, die voller Umami-Aromen steckte. Dazu verwendete sie gehackte Portobello-Pilze, gehackte Steinpilze, braune Pilze, Knoblauch, getrüffeltes Olivenöl, Portwein, Gemüsebrühe, Pfeffer, saure Sahne und eine großzügige Menge Salz. Sie fügte nicht den ganzen Portwein und nicht das ganze Olivenöl zu, sondern ließ ein paar Tropfen übrig, die sie sich als Aphrodisiakum hinter die Ohren tupfte. Sie zerkleinerte alles im Mixer und kochte es, bis die Suppe eine leicht dickflüssige Konsistenz hatte und eine n Duft, der den Speichelfluss anregte und auch andere Sekrete von Körper und Seele weckte. Dann zog sie ihr bestes Kleid an, lackierte ihre Fingernägel rot und servierte ihrem Mann die Suppe in vorgewärmten Schüsseln, garniert mit einem Klecks saurer Sahne.
Um die verbindende Wirkung von Aromen direkt zu erfahren, habe ich in einem Selbstversuch 50 verschiedene Düfte getestet und für jeden festgehalten, in welchem Maße sie mich an soziale Gemeinschaftserlebnisse oder Momente der Einsamkeit erinnerten. Zu meinem Erstaunen hatten fast alle sozialen Aromen mit Süßem zu tun, was ich als Diät eher nicht empfehle: geröstetes Brot, geröstete Haselnuss, geröstete Mandel, Kekse, Karamell, Kaffee und Butter. Am wenigsten soziale Gefühle lösten Ingwer, schwarzer Pfeffer, Kokosnuss, Gras, getrocknete Feigen, Minze und Apfel aus, obwohl ich all diese Aromen sehr gern mag. Dieses Experiment zeigte mir, dass es für meinen Geschmack introvertierte Aromen gibt, etwa das Grasaroma, die mich in innere Welten und in die Natur führen, sowie extravertierte, hauptsächlich Röst- und Back-Aromen, die mich in mein Elternhaus und in soziale Welten versetzen. Interessanterweise sind diese sozialen Aromen keine Naturprodukte, sondern neue Verbindungen, die durch langes, sorgfältiges Erhitzen entstehen. Dass sie – zumindest bei mir – vorwiegend in süßen Speisen vorkommen, mag daran liegen, dass Zucker wie kein anderer Nährstoff das Hirnbelohnungssystem aktiviert. Jedenfalls hat das Experiment mein Verständnis für Menschen vertieft, die gern Süßigkeiten essen oder sie ihren Kindern geben. Wobei wichtig ist zu betonen, dass bereits das Riechen dieser Aromen angenehme, heimatliche Gefühle auslösen kann, ohne dass der Konsum erforderlich ist. An den Geburtstagen meiner Tochter hat allein schon das Auspacken von Süßigkeiten einen großen sozialen Wert, der sich in Kichern und Lachen manifestiert. Diese geteilte Freude verdeutlicht, dass der soziale Wert oft nicht unbedingt im Verzehr von Süßem liegt, sondern in der Vorstellung davon.
Wie bereits erwähnt, können saure und bittere Aromen als Alarmsignale für die Angst vor Vergiftung dienen. Dennoch können auch diese Aromen die Gemeinschaft fördern, wenn sie in eine nationale oder spirituelle Tradition eingebunden sind. In Südamerika gibt es eine Tradition der Indianer, bei der bitterer Matetee in einer Kalebasse in der Mitte einer Gemeinschaft feierlich zubereitet wird . (Weil sich alternative englische Bezeichnungen nicht problemlos ins Deutsche übertragen lassen, wird im Folgenden von »Indianer« gesprochen, sofern Sammelbezeichnungen nötig sind. Die Native American Association of Germany e.V. betont auf ihrer Website, dass es bei der Bezeichnung »Indianer« weniger um die Bezeichnung an sich, sondern vielmehr um den Sachzusammenhang, in dem der Begriff verwendet wird, geht. Eine stereotypische Darstellung soll in diesem Buch in keinem Fall stattfinden). Der Gastgeber trinkt den Aufguss aus Mateblättern und heißem Wasser zuerst, da er oft besonders bitter schmeckt. Dies demonstriert seine Tapferkeit, was die Gruppe inspiriert, Bitterkeit gemeinsam zu ertragen und zu genießen. In Südkorea ist das saure Kimchi, eine würzige, fermentierte Beilage aus Chinakohl und anderen Zutaten wie Knoblauch, Ingwer, Chilipulver und Fischsoße, ein zentraler Bestandteil der Kultur und der nationalen Identität. Es wird fast zu jeder Mahlzeit serviert, sei es als Beilage zu Reis oder als Zutat in verschiedenen koreanischen Gerichten wie Kimchi-Pfannkuchen, Kimchi-Suppe und Kimchi-Reis. Kimchi wird oft in Gemeinschaftsarbeit hergestellt, bei der Familien und Nachbarn zusammenkommen, um große Mengen für den Winter vorzubereiten. Dies fördert soziale Bindungen und den Zusammenhalt. In der jüdischen Tradition ist das Verspeisen von bitteren Kräutern während des Passahfestes tief verankert. Dazu gehören Chicorée, Löwenzahn, Endivie und Römersalat. Die Bitter-Aromen erinnern die Juden an die Bitterkeit und das Leid, das ihre Vorfahren während der Zeit der Versklavung in Ägypten erlebt haben. Die Tradition kann als Resilienz-Übung verstanden werden und als Mahnung, dass Freiheit nur gemeinsam errungen werden kann.
Auch das Teilen von Gerichten hat eine verbindende Qualität. In arabischen, afrikanischen und asiatischen Kulturen ist es oft üblich, dass viele verschiedene Gerichte gleichzeitig auf dem Tisch stehen und von allen Gästen gemeinsam genossen werden. Dieses Gemeinschaftsessen spiegelt den Wert von Familiensinn, Großzügigkeit und Gastfreundschaft wider. Es fördert außerdem die Erweiterung des Geschmackshorizonts und vereinfacht es, auf die 30 Arten von Pflanzen zu kommen, die ich im letzten Kapitel bei der Vielfalt der Nahrung erwähnt habe.
Auch das Kochen ist für viele Menschen, mich eingeschlossen, eine Resilienz-Übung. Was mögen die Gäste? Was auf keinen Fall? Und was alles schieflaufen kann: versalzen, verbrennen, verkochen, verbraten, verzuckern – und das nicht aus Nachlässigkeit, sondern wegen eines Übermaßes an Engagement und Sorge. Kochen beinhaltet fast immer Großzügigkeit, Intimität und eine Form der Liebe, die Gegenliebe sucht. Ferner bewerten die Essenden die zubereiteten Speisen intuitiv im Mund, in der Nase und im Darm, sodass ihre Beurteilung nur teilweise gefiltert und beschönigt werden kann. Doch gerade diese Verwundbarkeit, die jede Köchin und jeder Koch kennt, ist eine Voraussetzung für tiefere soziale Bindungen und Freundschaften. Kochen und gemeinsames Essen sind deshalb besonders geeignet, um neue Freunde zu gewinnen und alte Freundschaften zu pflegen.
Das gemeinsame Fasten kann ebenfalls Bindungen stärken, etwa dank des gemeinschaftlichen Erlebens, an seine Grenzen zu stoßen, oder durch den gemeinsamen Wunsch, einen Neuanfang einzuleiten. Fast alle spirituellen Traditionen kennen gemeinsame Fastentage oder Fastenperioden, welche die Gemeinschaft zusammenhalten und die Solidarität fördern, weil sie daran erinnern, dass Gemeinschaft immer mit einem Verzicht auf persönliche Bedürfnisse einhergeht, also ein Selbstopfer beinhaltet.
Aromen als Vermittler von spirituellen Beziehungen
Duftaromen spielen in vielen spirituellen Traditionen und Praktiken eine bedeutende Rolle und werden oft als Mittel zur Erreichung von spiritueller Erfahrung und Bewusstseinserweiterung eingesetzt. Wie ich an anderer Stelle erwähnt habe, haben wir für Gerüche keine richtige Sprache, sondern müssen auf Vergleiche zurückgreifen, etwa: Es riecht nach Verbranntem. Diese Komplexität und Unfassbarkeit kann ein höheres Bewusstsein fördern. Geräuchertes Baumharz wie Weihrauch und Myrrhe sowie der warme Holzgeruch des Sandelbaums werden besonders häufig in Gottesdiensten und Ritualen verwendet, um eine Verbindung zur spirituellen Welt herzustellen.
Warum kommt gerade diesen Holzaromen eine spirituelle Bedeutung zu? Es hat damit zu tun, dass auf der ganzen Welt Opferrituale im Zentrum des spirituellen Lebens standen, bei denen Fleisch und andere Lebensmittel über dem Feuer erhitzt wurden. Sich um das Feuer zu versammeln und ein großes, getötetes Tier zu braten, war ein hoch emotionaler Akt für unsere Vorfahren, den sie mit göttlicher Bedeutung aufluden. Wir können deshalb davon ausgehen, dass Spiritualität ursprünglich mit dem Einatmen von rauchigem Barbecue-Duft in Verbindung stand. Bereits in den ältesten indischen Ritualen hatten Feuerdüfte die Aufgabe, die Götter zu beruhigen und an den Tisch der Menschen einzuladen, um die gegrillten Speisen mit den Menschen zu teilen. Wie unberechenbar und mächtig die Götter auch waren, die indischen Priester hatten nie einen Zweifel daran, dass sie die menschliche Schwäche für Grilldüfte teilten. Auch am Anfang der jüdisch-christlichen Kultur standen rauchige Gerüche. Im Alten Testament heißt es: »Und Aarons Söhne sollen das Holz auf dem Altar zum Brandopfer anzünden. Das ist ein Feuer zum Wohlgeruch dem Herrn.« Die alten Hebräer verfügten über eine differenzierte Vorstellung der Aroma-Wahrnehmung Gottes. »Nase« und »Zorn« haben im Hebräischen die gleiche sprachliche Wurzel. Der falsche Rauch konnte zur Reizung der göttlichen Nase und zu Zornesschnauben führen. 70
In der weiteren Entwicklung der Spiritualität lösten pflanzliche Räucheraromen die ursprünglichen Barbecue-Düfte ab. Die Friedenspfeife ist eine in Nordamerika verwendete rituelle Pfeife und diente den Stämmen der Lakota Cheyenne oder Pawnee dabei, soziale und spirituelle Verbindungen zu pflegen und Konflikte zu lösen. Tabak war beliebt, weil die entspannende und stimmungsaufhellende psychische Wirkung begleitet wird vom Rauch, der schöne Formen bildet, zum Himmel aufsteigt und damit die spirituelle Dimension des Friedens bestätigt. Neben Tabak wurden auch Bärentrauben, Königskerze, Lavendel, Salbei, Pfefferminz und Wachholder in der Pfeife geopfert. In der europäischen Antike wiederum ersetzte der Rauch von Baumharzen das ursprüngliche Tieropfer, um mit den höheren Mächten in Verbindung zu treten. Und die Mexikaner nehmen am Tag der Toten mittels Brot-Aromen Kontakt mit ihren verstorbenen Ahnen auf. Der dazu genutzte Altar wird mit Blumen, einem Kreuz, einem Bild des Verstorbenen, Backwaren, Maiskolben, Früchten, Weihrauch und wohlriechendem Brot bestückt. Dem Brotgeruch wird die Kraft zuerkannt, die Ahnen für eine Weile zurück an den Tisch der Lebendigen zu holen.
In allen Religionen, in denen nicht nur überweltliche Sphären, sondern auch bestimmte lebende oder verstorbene Menschen spirituelle Kräfte ausstrahlten, kam es zudem zu einer Kultivierung des Körpergeruchs. Die alten Ägypter entwickelten Methoden zur Einbalsamierung der Toten. Sie hatten den Zweck, die Toten in unsterbliche Götter zu verwandeln. Neue Studien zeigen, dass die Ägypter weltweiten Handel betrieben, um die besten Duftstoffe zu kaufen und damit die Gemeinschaft mit ihren göttlichen Ahnen angenehm zu gestalten. Bei dem besonders wichtigen Balsam mit dem ägyptischen Namen »antiu« handelte es sich nicht um Myrrhe oder Weihrauch, wie bisher angenommen, sondern um eine Mischung aus Zedern- und Zypressenöl. Es gab besondere Balsame für jedes Organ. Pistazienharz und Rizinusöl wurden ausschließlich für den Kopf verwendet, Wacholder war für die Leber bestimmt, Milchfett und Bienenwachs garantierten eine ewig-schöne Haut. 71
In der indischen Tradition gab der Körpergeruch Auskunft über das Karma. Der Buddha soll wunderbar nach Sandelholz gerochen haben, das für seine beruhigende und kühlende Wirkung bekannt ist. Dieses Holzaroma steht in der weltweiten Tradition der Barbecue-Gemeinschaften, die sich im Westen zum reinen Rauchopfer verfeinert hat. Im Buddhismus tritt das Feuer ganz zurück, weil der Buddha, das große spirituelle Genie, die Opferriten restlos in mentale Prozesse verwandelte. Nur dem Holzaroma blieb er treu, weil es wie kein anderer Sinnesreiz auf den Ursprung aller Verbundenheit verweist.
Im Christentum riecht der Sohn Gottes nach Brot und ist dafür verantwortlich, dass sich der angenehme Geruch des ewigen Lebens in jeden Winkel der Welt ausbreitet. Das zeigt sich eindrücklich bei der Wiedererweckung von Lazarus, der schon vier Tage tot war und in Luthers Sprache nicht nur übel roch, sondern richtiggehend stank. Jesu spirituelle Künste vermochten, diesen Gestank des Todes in den Wohlgeruch des Lebens zu verwandeln. Lazarus’ Schwester Maria verwendete als Dank ein Pfund teures und würziges Öl, um Jesus damit zu salben. Sie nahm so viel Öl, dass sie seine Füße mit ihren Haaren abtrocknen musste, wodurch sie mit ihm in eine Duftgemeinschaft eintrat. Der Duft breitete sich im ganzen Haus aus. Da gerieten die Jünger in Aufregung: »Was für eine Verschwendung! Man hätte das Öl verkaufen und das Geld den Armen geben sollen!«, riefen sie. Doch Jesus verwies sie auf die spirituelle Aromagemeinschaft, indem er ihnen befahl, den Duft für sein Begräbnis aufzubewahren. Das Einsalben mit wohlriechenden Aromen ist im Christentum so zentral, dass Jesus die Namen Christus und Messias erhielt. Beide Wörter stammen von dem griechischen beziehungsweise hebräischen Verb für »salben« ab. Nach Jesu Tod am Kreuz blieb der Todesgeruch wundersamerweise aus und an seine Stelle trat ein beruhigender Wohlgeruch. Das Aroma war ein kleiner Hinweis, dass er der Sohn Gottes ist.
Um das spirituelle Potenzial von Rauch- und Holzaromen auszuloten, führte ich eine Reihe von Selbstexperimenten durch. Eine gute Bekannte, die katholische Religion unterrichtet, gab mir die notenwendigen Utensilien, um ein Weihrauchexperiment durchzuführen: den Räucherkelch, den Sand, die Kohle und den Weihrauch, der aus gelben, roten, schwarzen und weißen Harzkügelchen bestand. Gemäß ihrer Anleitung streute ich den Sand auf den Grund des Kelchs. Dann hielt ich die Kohle mit einer Zange darüber und zündete sie mit einem Streichholz an. Sie sprühte gelb-orange Funken. Ich legte sie auf den Sand und wartete, bis sie grau wurde. Dann streute ich etwas Sand darauf und danach die bunten Harzkügelchen. Mich überraschte, wie schön der Rauch aufstieg. Er roch nach Feuer, und die glühende Kohle erinnerte an das ursprüngliche Brandopfer. Süßere, balsamisch-würzige und zitronige Töne veredelten den Rauch und gaben ihm eine geheimnisvolle Note. War dies bereits das Zeichen einer höheren Kraft, die das Leben verbrannte und erneuerte, es mit nicht auslotbaren Tiefen und Geheimnissen anreicherte und in Räume führte, die sich der Sprache entzogen? Der Rauch breitete sich schnell in der ganzen Wohnung aus. Nicht einen Winkel konnte ich vor ihm schützen. Ich hoffte auf eine intime Erfahrung, doch die blieb aus. Vielmehr übte der Weihrauch eine Ehrfurcht gebietende Kraft auf mich aus, die meinen Blick nach außen und auf große Dinge lenkte. Ich sah den Riesenaltar von Pergamon mit dem Giganten-Relief, den ich in Berlin bewundert hatte. Dann sah ich die mächtige Rauchsäule, die von Abels Opfer stolz zum Himmel stieg und Kains mörderischen Neid entfachte. Dann sah ich in die Kuppeln der Sixtinischen Kapelle und beobachtete Noahs Großfamilie, die gemeinsam das Opferfeuer bewacht und zwei Schafsböcke als Opfergabe darbringt. Die Weihrauch-Aromen offenbarten mir den ursprünglichen gesellschaftlichen Charakter des Duftes. Sie schienen weniger für eine intime Selbstbesinnung geeignet zu sein, sondern vielmehr eine Einladung zu prachtvollen Festlichkeiten und Mysterienkulten darzustellen. Sie riefen Bilder einer großen Gemeinschaft hervor, die mit Marmoraltären, imposanten Reliefs, majestätischen Rauchsäulen und beeindruckenden Schafsböcken einen reizbaren Gott ehren und besänftigen wollten.
Für das zweite, schamanische Experiment v erwendete ich einen Zopf amerikanischen Süßgrases, den mir eine Bekannte schenkte, die sich in den USA über viele Jahre mit Schamanismus beschäftigt hatte. Für meine Bekannte bedeutet dieses Gras das duftende Haar der Mutter Erde. Und tatsächlich roch es nach schwarzer Erde, aber auch nach Flusswasser, Honig und Vanille. Der Duft des Grases kann Erlebnisse und Erinnerungen wachrufen, von denen man oft nicht einmal wusste, dass man sie vergessen hatte. Der Rauch des Grases kann die Aura reinigen und genutzt werden, um gute Geister anzurufen. Deshalb brannte auch ich ein Ende des Graszopfs an. Es entstand ein angenehm würziger und süßlicher Duft. Beim Einatmen erlebte ich eine starke Naturverbundenheit. Die holzigen Noten erinnerten mich an die Lagerfeuer, an denen ich als Pfadfinder gesessen hatte. Dann hörte ich im Hintergrund schamanisches Trommeln, und Stimmen sangen ein Lied, das ich in einem Kurs über nordamerikanischen Schamanismus gelernt habe: »Hey hey hey Wakan Tanka hey hey hey.« Dies alles führte dazu, dass ich in eine leichte Trance eintrat, in eine andere Zeit, die nicht mehr linear, sondern zyklisch war. In diesem Zustand ging alles fort und alles kam zurück, alles schien wie ein Rad zu rollen. Alles starb, alles blühte wieder auf, alles verabschiedete sich, alles grüßte sich wieder und blieb sich ewig treu. Die Mitte der Zeit war überall und fühlbar hier und jetzt in den verbrannten Haaren der Mutter Erde.
Bei meinem dritten Selbstexperiment zur Spiritualität von Aromen wollte ich den karmischen Duft des Sandelholzes erfahren. Eine Bekannte, die in einer Parfümerie arbeitet, empfahl mir, dafür Parfüms zu verwenden, weil bis heute einige der teuersten und geheimnisvollsten Parfüms nach Sandelholz riechen, das auf Französisch »santal« heißt. Sie schenkte mir kleine Testfläschchen: Santal von Guerlain, Santal Blanc von Van Cleef & Arpels, White Sandalwood von Goldfield & Banks, Molecule 04 von Escentric Molecules und Most Wanted von Azzaro. Tatsächlich waren all diese Düfte kühlend und beruhigend. Der billigste Sandelholzduft von Azzaro enthielt am wenigsten Geheimnisse. Sein Name Most Wanted sagt es klipp und klar: Der Holzgeruch soll wie ein Lagerfeuer oder ein rituelles Feuer die Menschen entflammen und an sich binden. Ein angenehmer Duft, doch für mein spirituelles Experiment war er mir zu flach und zu gefällig. Das Sandelholz von Guerlain schien mir allzu weiblich und das australische von Goldfield & Banks allzu männlich für meine Zwecke. Escentric Molecules stellt laut meiner Bekannten Parfüms her, die man nur subtil riecht und unbewusst wahrnimmt. Der Duft mit der Nummer 4 ist reines Sandelholz. Tatsächlich roch ich ihn nicht bewusst, doch schien er mich zu entspannen und ein Gefühl von Verbundenheit zu erzeugen. Diese Subtilität war für mein Experiment jedoch ebenfalls ungeeignet. Meine Wahl fiel daher auf Santal Blanc von Van Cleef & Arpels, das in seiner klaren Duftsprache ein beruhigendes und verbindendes Lagerfeuer in Reinform war.
Zu Hause sprühte ich mein Zimmer mit Santal Blanc ein. Meine Kinder, die bei meinem Weihrauchexperiment Angst vor einem Hausbrand hatten und den Rauch des schamanischen Süßgrases naserümpfend als zu intensiv ablehnten, schnüffelten nun begeistert. Nachdem ich sie ins Bett gebracht hatte, roch ich spät am Abend direkt am Fläschchen, doch leider stellte sich keine Vision ein. Es war einfach ein angenehmer Zustand. Deshalb entschied ich mich an einem anderen Tag, ein intensiveres Sandelholzexperiment durchzuführen. Dazu verwendete ich den Räucherkelch, den Sand und die Kohle, die ich beim Weihrauchexperiment benutzt hatte, doch statt Weihrauchharz verbrannte ich diesmal Sandelholzspäne. Zusätzlich tat ich etwas fein gemahlenes Sandelholz, das als Gewürz und Färbemittel für Backwaren verkauft wird, auf meine Zunge. Mit der Nase roch ich an einem Tuch, das ich mit Santal Blanc besprüht hatte. Zusammen ergab dies ein extrem intensives Aroma, das eine Vision auslöste:
Ich stehe mit anderen um ein Feuer, eingehüllt in Tierfelle, und rieche das erhitzte Fett einer Stierkeule, die Fetttropfen, die vom Rost fallen, blitzen im Feuer. Wir singen und schauen hinauf zum Sternenhimmel und wissen, dass wir nicht allein sind auf dieser Welt. Dann verwandeln sich die Felle in feine Tücher, die sich angenehm weich anfühlen, und ein alter Mann, vermutlich ein Brahmane, singt seltsam klingende Verse, die mit einem »Om« enden. Dann kommt ein zweiter alter Mann mit einem langen Bart, der die Nase rümpft. Man sieht, dass unsere Fleischgerüche seine große Nase unangenehm reizen. Dann erlischt das Feuer und das Fleisch verschwindet. Wir stehen betreten um das Feuer und streuen warme Asche auf unsere Köpfe. Dies löst einen kurzen Taumel aus, bei dem ich den Sinn für Ort und Zeit verliere. Als ich daraus erwache, stehe ich in einem Kloster vor einer Buddha-Statue, die stark nach Sandelholz riecht. Die Mönche lachen fröhlich, obwohl es nichts zu lachen gibt. Ich lache herzhaft mit. Im Hintergrund erklingt der Ton einer Klangschale. Dann sitze ich mit vielen anderen an einem großen Tisch. Ein junger Mann mit langen Haaren hält eine Rede. Die Stimmung ist ernst. Er bricht ein Stück duftendes Holzofenbrot ab und sagt bedeutungsvoll-widersprüchliche Worte. Wir alle legen das Stück Brot, das wir erhalten, auf die Zunge. Es schmeckt wunderbar nach Holz und Kohle. Der Mann ruft uns auf, dieses langsam und würdevoll zu essen, weil er selbst dieses Brot sei. Er sei das Brot des Lebens und der Duft des Lebens. Und auf einmal bin ich als junger Mann in den USA und fühle mich einsam. Jemand winkt mir und ruft: »Barbecue, Barbecue! Do you want to join?« Ich nicke und folge ihm. Stolz legt er ein saftiges Steak vom Grill auf meinen Teller, das wunderbar riecht, und seine Frau und Kinder lachen mich an. In breitem Amerikanisch erzählen sie mir aufgeregt von einem Cowboy, der einen Grillwettbewerb gewinnt. Ich kann ihrer Begeisterung nur halbwegs folgen, doch fühlt es sich an, als gehörte ich schon seit ewigen Zeiten zu dieser Aroma-Gesellschaft.
Dann legte ich mich ins Bett und schlief rasch ein. Es war beeindruckend, die Wirkung dieses Aromas selbst zu erleben. Sie riefen Erinnerungen an die Erfahrungen wach, die ich in meinem Buch Higher Self erkundet hatte.
Die verbindende Kraft des Alkohols
Ein Kapitel über die Essgemeinschaft zu schreiben, ohne auf Alkohol einzugehen, wäre eine schwere Unterlassung. Schon seit dem Jahrtausende vor Jesu gelungenen Versuch, die Menschen mit Wein vom göttlichen Wesen der Gemeinschaft zu überzeugen, kamen dem Alkohol wichtige soziale und spirituelle Rollen zu, etwa um Zugang zu anderen Menschen zu erhalten oder in Kontakt mit Ahnen und Göttern zu treten.
Alkohol zu verdauen, ist für unseren Körper eine große Herausforderung. Ein ganzes Zehntel der unzähligen Enzyme unserer Leber beschäftigt sich mit dem Abbau von Alkohol. Die Abbaukapazität ist jedoch trotz dieses Aufwands beschränkt, sodass größere Mengen Alkohol die Leber, das Herz und das Hirn schädigen. Es gibt die Theorie, dass unsere relativ gute Fähigkeit, kleine Mengen Alkohol zu verdauen, uns einen entscheidenden Vorteil in der Evolution verschaffte, weil wir dadurch Zugang zu haltbaren Kalorien erhielten, etwa wenn ein Bienenstock zu Boden fiel, sich mit Regenwasser mischte und zu gären begann. Es gab aber auch noch einen anderen, sozialen Aspekt des Alkoholkonsums: Weil man betrunken leicht verunglücken, sich verlaufen oder einem Feind zum Opfer fallen konnte, mussten Menschen sich zusammentun, um sich im alkoholisierten Zustand gegenseitig zu schützen. Auch Schimpansen, denen Alkohol zur Verfügung steht, trinken ihn fast nie allein, sondern beim geselligen Zusammensein.
Wie wichtig der Alkohol für den menschlichen Zusammenhalt ist, belegen die Rituale der Carba-Indianer in Bolivien, die aus genetischen Gründen Alkohol schlecht vertragen. 72 Schon nach wenigen Schlucken wird ihnen schwindelig und speiübel. Trotzdem trinken sie bei Ritualen hochprozentigen Zuckerrohrschnaps, weil es die Zusammengehörigkeit stärkt – dafür nehmen sie die körperlichen Nebenwirkungen gern in Kauf.
Alkohol führt zu einer überaus starken Dopaminausschüttung und macht deshalb besonders sozial. Ferner führt er zu einer Ausschüttung von GABA , dem wichtigsten beruhigenden Botenstoff des Gehirns, was soziale Ängste und Hemmungen unterdrückt. Die alkoholische Stimulierung des Endorphinsystems lässt körperlichen und psychischen Schmerz vergessen, was zu einer größeren Bejahung anderer Menschen und Meinungen und von sich selbst f ührt. Das bedingungslose Ja-Sagen zum Leben nennt man auch Mystik, im Gegensatz zur Nüchternheit, die rechnet, beurteilt, teilt und trennt.
Doch leider ist die Wirkung des Alkohols nicht immer prosozial, sondern kann auch ins Gegenteil kippen. Er kann großzügig und geschwätzig machen, aber auch uninteressiert und gleichgültig; verliebt, aber auch eifersüchtig und gereizt; geistreich, aber auch einfältig. Er kann Herz und Hirn stimulieren, diesen Organen aber auch bleibenden Schade n zufügen. Deshalb verstärkt der Konsum von Alkohol nicht nur soziale Rituale, sondern braucht selbst Rituale, in Bezug auf Menge und Geschwindigkeit, um die entfesselten psychischen Energien in eine positive Richtung zu lenken. D er Umgang mit Alkohol hat uns Menschen gelehrt, dass wir Spiritualität im Sinne von Selbstbeschränkung und Ritualen benötigen, um unser soziales und mystisches Potenzial anzuzapfen und zu realisieren. Es ist kein Zufall, dass Schwester André, die spirituelle Langlebekünstlerin, sich jeden Tag ein Glas Wein zum Mittagessen mit den anderen Heimbewohnerinnen gönnte.