In diesem Kapitel möchte ich das achtsame Essen erweitern mit einem Blick auf die Energien, in die sich die Nahrung in unserem Körper verwandelt. Claudia, die ich in der Einleitung erwähnt habe, war nicht in der Lage, die künstliche Ernährung langfristig in einen Lebensstrom umzuwandeln, weshalb sie leider sehr jung starb. Esther, die ich im letzten Kapitel vorgestellt habe, hatte Mühe, die Nährenergie in zwischenmenschliche Energie umzuwandeln. Im Gegensatz dazu gelang es Kane Tanaka, Schwester André und Oma Anna, ihre achtsam gegessene Nahrung in körperliche, soziale und spirituelle Energie zu verwandeln, was sich an ihrem langen Leben, ihrer Dankbarkeit und ihrem Einsatz für ihre Mitmenschen ablesen lässt.
Wenn ich hier von Energie spreche, meine ich damit sowohl die objektiven Energien des Körpers als auch die Energie, die wir subjektiv spüren und wahrnehmen. Der Energiehaushalt des Körpers wird maßgeblich vom limbischen System und insbesondere vom Hypothalamus gesteuert. Dieser kleine, aber entscheidende Teil des Gehirns hat direkten Kontakt mit den Sinnesnerven und den Nährstoffen in der Hirnflüssigkeit. Deshalb kann er auf Ernährung, Umgebungswechsel und emotionale Wahrnehmungen schnell reagieren. Über Neuropeptide beeinflusst er andere Hirnregionen, etwa das limbische System, das für Emotionen zuständig ist. Durch Hormone sowie den Vagus-Nerv und den Stressnerv kann er die energetischen Ströme im gesamten Körper regulieren. Dies wird vor allem bei akutem Stress deutlich: Der Körper reagiert auf einen bedrohlichen Hund mit einem erhöhten Energieverbrauch, was als Angst, Hitzeempfindungen, erhöhter Puls oder Schweißausbruch zum Ausdruck kommt.
In Asien haben Gelehrte die Existenz dieses Energiesystem bereits vor 3000 Jahren erahnt, weil sie sich in der Anatomie von Tieren bestens auskannten und Meditationstechniken entwickelten, die sie befähigten, Energieströme im Körper zu spüren und zu visualisieren. Sie begriffen, dass es in Verbindung mit der Wirbelsäule wichtige Energiezentren gibt, und nannten sie »Chakren«, was auf Sanskrit Rad oder Scheibe bedeutet. Chakren können sich öffnen und schließen wie Blüten, was ein gutes Bild für die Funktionsweise der Hormondrüsen ist, die durch die chemischen Signale des Hypothalamus aktiviert oder deaktiviert werden. Dazu gehören die Schilddrüse, die Nebennieren, die Eierstöcke und die Hoden, die dem Halschakra, dem Bauchchakra beziehungsweise dem Sakralchakra zugeordnet sind. Die Chakren entsprechen aber auch den Nervengeflechten, in denen sich der Vagus-Nerv und der Stressnerv verbinden und die entlang der Wirbelsäule angeordnet sind. Das größte Geflecht, der Solarplexus, wird dem Nabelchakra zugeordnet, das für die Verdauung zuständig ist. Die Chakren sind in der indischen Vorstellung Verwandler von Energie, etwa von Nährenergie in sexuelle oder soziale Energie. Diese Energiewandler sind über Kanäle untereinander ver bunden, die auf Sanskrit »Nadi« heißen, was wörtlich übersetzt Röhre, Nerv oder Puls bedeutet. Die Gelehrten gingen davon aus, dass es 350 000 Nadi in unserem Körper gibt, was dem Nervensystem entsprechen könnte. Sie unterschieden einen Hauptkanal und zwei Nebenkanäle. Alle drei verlaufen entlang der Wirbelsäule und der Hauptkanal zudem direkt durch die Chakren, was wiederum den nervlichen Verbindungen zwischen den Nervengeflechten entlang der Wirbelsäule entspricht. Links und rechts davon liegen die beiden Nebenkanäle, welche die Hormonströme darstellen, analog zur anatomischen Tatsache, dass Hormondrüsen Paare bilden: Geschlechtsdrüsen und Nebennieren finden sich auf beiden Körperseiten, die Schilddrüse und der Thymus bestehen aus linken und rechten Lappen. Im indischen Denken gibt es keinen Kreislauf in den Kanälen, was dagegenspricht, die Nadis als Blutgefäße zu verstehen. Die Nährströme fließen vielmehr in eine Richtung, wie Wasser in einem Baum von der Wurzel zur Krone steigt, oder wie ein Wind, der Regenwolken über die Felder treibt. Die ältesten östlichen Vorstellungen der Körperenergien stammen von indischen Hebammen, die den Nährstrom in der Nabelschnur von Mutter zu Kind als Grundlage nahmen, um die Energieflüsse in Beziehungen zu verstehen.
Über Jahrhu nderte diente die Vorstellung von Chakren und Nadis dazu, das Funktionieren des Körpers zu erklären. Die Energie, die in diesem System fließt, heißt in Indien Prana und in China Qi, wo auf Grundlage dieser Energielehren Heilmethoden wie Akupunktur weiterentwickelt wurden. Das Energiekonzept half, den Zusammenhang zwischen Stoffwechsel und Bewusstsein zu verstehen und eine Psychologie der Triebe, Emotionen und Motivationen zu erarbeiten. Im Laufe dieser Entwicklung entstand der Begriff »Tantra«, der viel mehr als Sexualität umfasst. Die tantrische Lehre, die auf alle östlichen Traditionen wie Buddhismus und Hinduismus einen bedeutsamen Einfluss hatte, geht davon aus, dass Verunreinigungen und Blockaden in den Chakren und Nadis Krankheiten und Störungen des Wohlbefindens verursachen und dass Heilmethoden wie Akupunktur, Akupressur, Shiatsu, chinesisches Schattenboxen und tantrische Sexualtechniken die Möglichkeit bieten, die Blockade der Energieflüsse zu lösen und damit das psychische und körperliche Wohlbefinden zu verbessern.
Diese Energielehren trugen nicht nur zu einflussreichen Heilmethoden bei, sondern auch zur Entwicklung der östlichen Spiritualität. Ähnlich wie im Westen dominierte in den Anfängen des indischen Denkens die Vorstellung, dass Körper und Geist strikt voneinander getrennt seien. Im Gegensatz zum Westen wurde diese Zwei-Welten-Lehre in Indien jedoch viel früher kritisiert, weil sie dem östlichen Verständnis von Ganzheit und Verbundenheit widersprach. Über Jahrhunderte versuchten Gelehrte, einen Ausweg aus diesem Dilemma zu finden. Die Bhagavad Gita , ein wichtiger Text der indischen Tradition, der verschiedene Denkrichtungen miteinander verknüpft, löst das Leib-Körper-Problem auf, indem sie eine Nährenergie annimmt, die alles verbindet. Der Gott der Nahrung steht für die Heiligkeit des Lebens, für die kraftvolle, unerschütterliche Feststellung, dass das Eine immer auch die körperlich-geistige Zweiheit meint. In der Bhagavad Gita spricht der Gott der Nahrung: »Ich bin beides, die Lebenskraft und der Lebensstoff, beides zugleich.« 73 Die Nahrung gibt uns jeden Tag die Möglichkeit, diese verbundene Zweiheit direkt zu erleben, nämlich als Lebensmittel und als Lebensenergie.
Im Westen werden diese östlichen Lehren oft missverstanden, weil die westliche Philosophie Materie und Geist derart strikt getrennt hat, dass die Energien der Chakren und Nadis rein geistig gedeutet werden. Der spirituelle oder »feinstoffliche« Aspekt der Lehre bezieht sich in der indischen Überlieferung zwar auf das bewusste Erleben und Visualisieren von Energien und deren bewusste Beeinflussung, doch diese Energien sind eben nicht rein geistig, sondern beziehen sich auf unseren realen Körper und unsere Ernährung. Im Laufe der Zeit haben sich jedoch Verwandtschaften zwischen östlichen und westlichen Traditionen entwickelt. Das griechische Ideal des Athleten etwa beinhaltet eine solche Energielehre, die davon ausgeht, dass die körperliche Fitness die Voraussetzung für die moralische, persönliche und intellektuelle Entwicklung ist. Dieses Konzept lebt im modernen Sportunterricht weiter. Im Christentum steht die energetisch-feinstoffliche Natur von Brot und Wein im Zentrum des Abendmahls. Im Judentum und im Islam haben sich mystische Traditionen herausgebildet, in denen sich Nahrungsenergien in gasförmige, aufsteigende Spiritenergien verwandeln. Auch die moderne westliche Tiefenpsychologie enthält einige Grundgedanken der östlichen Energielehre. Wenn Sigmund Freud und C. G. Jung von der Libido oder Lebenskraft sprechen, die blockiert, fixiert, abgewehrt, abgespalten oder verdrängt ist, übernehmen sie bewusst oder unbewusst das indische Energiekonzept. Inzwischen übt diese ganzheitliche Sichtweise auch auf die Neurowissenschaften einen zunehmenden Einfluss aus. Am 9. November 2023, dem Tag, da ich diesen Abschnitt schreibe, erscheint in der führenden naturwissenschaftlichen Fachzeitschrift Nature ein Editorial mit dem Titel: »Brain and body are more intertwined than we knew« (Gehirn und Körper sind stärker miteinander verwoben, als wir bislang wussten). Es ist ein Aufruf an die Neurowissenschaftler, über das Gehirn hinauszublicken auf den ganzen Körper, und an die Klinikerinnen, die den Körper behandeln, dessen Verbindungen zum Hirn im Auge zu behalten. Die neuen Wissenschaftsgebiete der Psychoendokrinologie (Hormonlehre), der Stressforschung, der Psychoneuroimmunologie, der Epigenetik und der Neuroplastizität befassen sich alle mit der Verbindung zwischen Bewusstsein, Psyche und Körper.
Ein aktuelles Beispiel für die große Bedeutung des körperlichen Energiesystems für unser Wohlbefinden stammt aus der Psychoneuroimmunologie: die autonome Dysregulation, die bei einer Coronainfektion auftreten kann – eine Störung des autonomen Nervensystems, das aus Vagus-Nerv und Stressnerv besteht. Ein Grund der Störung sind Antikörper, die die Geflechte des Nervensystems im Sinne einer Autoimmunreaktion schädigen. Ein objektives Zeichen für die fehlerhafte Funktionsweise ist ein starker und anhaltender Abfall des Blutdrucks, wenn man nach dem Schlafen aufsteht, was sich als Schwindel bemerkbar macht. Weil alle Teile des autonomen Nervensystems betroffen sind, können eine Fülle von lähmenden Symptomen auftreten, von Atemnot, Brustschmerzen, Herzklopfen, unerklärbarer Müdigkeit, unerklärbarer körperlicher Erschöpfung, Angstzuständen, Magen-Darm-Beschwerden bis hin zu Durchfall. Diese Symptome können selbst nach einer leichten Erkrankung wochenlang oder noch länger anhalten – die Betroffenen erfahren also buchstäblich am eigenen Leib, was es heißt, wenn die Körperenergie nicht optimal verwandelt und verteilt wird. Zum Glück bildet sich der Schaden über Wochen bis Monate fast immer zurück.
Im Folgenden werde ich das Energiesystem anhand der Chakralehre veranschaulichen und zeigen, wie wir über Visualisierungen, Körperübungen und Ernährung Einfluss darauf nehmen können. Die wissenschaftliche Grundlage dafür ist die zentrale Regulierung der Körperenergien im Hypothalamus, der direkt unter dem Wahrnehmungsstrom des Thalamus und unmittelbar hinter der Kreuzung der Sehnerven liegt. Seine derart vernetzte Lage im Gehirn macht es plausibel, dass gelenkte Wahrnehmung, Meditation und Energievisualisierungen den Energiehaushalt des Körpers verändern können. Praktisch geht es mir darum, das achtsame und bewusste Essen durch die Erfahrung der Nährenergien und Nährströme zu erweitern, in die sich die Nahrung verwandelt. Damit greife ich sowohl östliche Traditionen als auch die von Hildegard von Bingen auf. Sie war überzeugt, dass wir nach dem Essen nicht schlafen oder uns ablenken, sondern achtsam bleiben sollten, bis der Geschmack, der Saft und der Geruch der verzehrten Lebensmittel an den richtigen Platz gelangt sind. Andernfalls können sie, so Hildegard, wie Staub, der hin und her geweht wird, am falschen Ort landen.
Nabelchakra (Energie der Verdauung)
Medizinisch lässt sich die Speicherung und Verwandlung der Nährenergie mit einem kleinen Kühlschrank in der Wohnung und einer großen Tiefkühltruhe im Keller vergleichen. Die Nahrungsenergie wird primär im Kühlschrank als Zuckerketten in der Leber gespeichert, und nur wenn er voll ist, wandern die Lebensmittel in den Keller, wo sie als Fett gelagert werden. Umgekehrt gilt, dass wir nur dann Energie aus dem Tiefkühler im Keller holen, wenn der Kühlschrank in der Wohnung fast leer ist. Das Hormon Insulin ist wesentlich an dieser Entscheidung beteiligt. Wenn viel Insulin in unserem Blut ist, ist es unwahrscheinlich, dass wir im Keller Energie holen, weil Insulin die Botschaft in sich trägt: »Speicher füllen!« Wir bringen also eher noch mehr Energie in den Keller. Ein tiefer Insulinspiegel, etwa durch Fasten oder eine kohlenhydratarme Diät, birgt dagegen das Potenzial, die großen Energiespeicher im Fettgewebe anzuzapfen. Dies erklärt die paradoxe Erfahrung, dass der Verzicht auf Kalorien die Körperenergie steigert und Menschen, die wegen einer metabolischen Störung einen erhöhten Blutzucker aufweisen, oft an Angst, Energiemangel und Tagesmüdigkeit leiden.
Neben dem Insulin, das auf Snacks und verzuckerte Nahrung reagiert, schließen auch die Stresshormone, die über den Hypothalamus gesteuert werden, den Tiefkühler im Keller. Darum verfügen gestresste Menschen über wenig Energie und neigen dazu, im Bauchraum Fett anzusammeln. Bei anhaltendem Stress ernährt sich unser Körper nur noch aus dem kleinen Kühlschrank in der Wohnung, und es kann der falsche Eindruck entstehen, dass dieser Kühlschrank unser gesamtes Energiepotenzial umfasst. Burn-out-Betroffene erinnern sich gelegentlich, dass sie bedeutsame Dinge im Keller lagern, doch vor lauter Stress vergessen sie es gleich wieder. Für viele gestresste Menschen braucht es schon eine Krise, eine Lebensumstellung, eine große Entbehrung oder eine Reise, um in den Keller zu gehen. Entspannung durch Meditation, Atemtechniken und Yoga helfen, mit dem energetischen Potenzial der Kellerräume (also dem Fettspeicher) in Kontakt zu bleiben.
Diese Speicherung und Verwandlung der Nährenergie wird als Nabelchakra visualisiert. Die Farbe des Chakras ist das Gelb des Feuers, das für den Metabolismus und die verbrennende Verwandlung steht. Dazu gehören auch die optimale Transformation und Vorbereitung der Nährenergien beim Kochen und die Zerstörung von Nährenergien bei der industriellen Überhitzung. Das Chakra wird mit der Wurzel eines Baumes verglichen, die Energie speichern und abgeben kann. In der östlichen Tradition haben Bäume eine große spirituelle Bedeutung – der Buddha etwa fand unter einem Baum zur Erleuchtung –, deshalb überrascht es nicht , dass sich die östlichen Weisen die Energieströme des Körpers als Baum vorstellen. In den alten ayurvedischen Schriften entspricht der Darm der Wurzel und dem Baumstamm, aus dem wie Äste die anderen inneren Organe sprießen, etwa die Leber, die Gallenblase und die Bauchspeicheldrüse. Interessant an dieser Vorstellung ist, dass sie gut mit der modernen Evolutionslehre, aber auch mit der modernen Embryologie übereinstimmt – am Anfang war der Darm.
Das Nabelchakra liegt auf der Höhe des Nabels unmittelbar vor der Wirbelsäule, wo sich anatomisch der Solarplexus befindet, aber auch die Bauchspeicheldrüse, die mit ihrem Insulin zentral für die Regulierung der Nährenergie ist. Aus moderner Sicht würde man auch das Darmnervensystem zu diesem Chakra zählen, das über 500 Millionen Nervenzellen verfügt, mehr als doppelt so viele wie das Rückenmark und das vegetative Nervensystem zusammen und fast so viele wie bei einer ausgewachsenen Katze. Das Darmnervensystem reagiert unabhängig vom Hirn auf die Nahrung und trifft selbstständig energetisch wichtige Entscheidungen zur Blutverteilung, Muskelaktivität, Ausscheidung von Verdauungssäften, Immunabwehr bis hin zum bewussten Spüren und Erleben der Verdauung. Bauchschmerzen erinnern uns daran, dass sich im Darm das erste Nervensystem unseres Körpers entwickelte und unsere ältesten Vorfahren kurzen Därmen glichen, deren einzige Reaktion auf ihre Umgebung das Zusammenziehen war, um etwas Schädliches wieder loszuwerden. Dieses Darmbewusstsein lebt in uns weiter.
Obwohl wir Menschen ein ausgeklügeltes Darmnervensystem haben, ist unser Darm im Vergleich zum Hirn ausgesprochen klein. Wir gleichen deshalb großen Bäumen mit kleinen Wurzeln und haben dadurch eine natürliche Neigung zur Kopflastigkeit. Ferner kann das Nervensystems des Darms komplett unbewusst arbeiten, was die Gefahr der gefühlsmäßigen Abkoppelung von der Nährenergie fördert. Die fehlende Wahrnehmung der Energie unserer Nahrung führt dann oft zu einer mangelnden Sättigung und zum Überessen. Umgekehrt kann eine bessere mentale Verwurzelung im Nabelchakra dazu beitragen, die Kalorienmenge zu reduzieren und damit den Energiehaushalt zu entlasten.
Blockaden von Energieflüssen und die Anstauung von Energie in einem Chakra haben gemäß den östlichen Gelehrten einen Einfluss auf die Persönlichkeit. Die Fähigkeit des Organismus, die Nährenergie im Bauchraum zurückzuhalten und zu kontrollieren, ist in der Chakralehre ein Zeichen der Macht. Deshalb zeichnet sich die Energie des Nabelchakras durch Willenskraft und Durchsetzungsvermögen aus. Eine Dominanz dieses Chakras ist jedoch vergleichbar mit einem Staat, der über große Ölquellen verfügt und dessen Politik sich vorwiegend darum dreht, die Einnahmen aus dem Ölverkauf auf eine kleine Gruppe von privilegierten Personen zu verteilen, worunter die Entwicklung des Landes als Ganzes leidet. Demgegenüber sind Menschen mit einem schwachen Nabelchakra willensschwach, ihnen fehlt es an Fokus und Selbstbeherrschung. Sie sind von den Ölquellen abgekoppelt. Das lateinische Wort »focus« kann helfen, diese Lehre intuitiv zu verstehen – es bedeutet Herd, Feuerstelle. Im Leben einen Fokus zu haben, meint, über ein Feuer zu verfügen, auf dem man bewusst Energie bündeln und in Antrieb und Zielorientierung umwandeln kann. Fehlender Kontakt zur metabolischen Feuerstelle führt zu dem Unvermögen, das wohltuende und belohnende Ankommen der Nahrungsenergie nach einer Mahlzeit achtsam zu genießen, was zu Essanfällen, Überernährung und Übergewicht beiträgt. Wenn ich mich hungrig, willenlos und unfähig fühle, mich auf eine Aufgabe zu konzentrieren, betrachte ich deshalb gern meinen Bauch, um mir darüber klar zu werden, dass ich in diesem Moment mein energetisches Potenzial nicht optimal ausschöpfe. Ich sage dann zu ihm: »Unlock your potential!«, was mir wie ein Mantra hilft, neue Energie zu schöpfen.
Achtsames Essen ist die einfachste und beste Methode, um mit der Nährenergie des Bauchraums in Kontakt zu treten. Laut der indischen Lehre kann die bewusste Bauchatmung während und nach dem Essen den Fluss der Nährenergien zusätzlich fördern. Bei Stress, der die Darmwahrnehmung einschränkt, kann es helfen, die Hände auf den Bauch zu legen, um seine Wölbung während des Atmens bewusster wahrzunehmen. Ich selbst habe die Erfahrung gemacht, dass Visualisierungen von Flammen und gelber Energie mir helfen können, meine Verdauung anzuregen. In der Ayurveda-Tradition gelten gelbe Nahrungsmittel wie Mais, Bananen und Gelbwurz (Kurkuma) als förderlich für das Nabelchakra. Yoga-Posen, die die Bauchmuskulatur stärken, etwa das Boot oder der Schmetterling, sowie Pilates-Übungen, die den Körper zentrieren, tragen ebenfalls dazu bei. Eine Abfolge von Yoga-Posen, die dem Sonnengruß ähneln, ist geeignet, die Energie aus dem Nabelchakra in den gesamten Körper zu verteilen. All diese Methoden haben allerdings auch ihre Grenzen. Claudia etwa, deren Darm nicht funktionierte, wodurch die Nährenergie nicht richtig verdaut wurde, hätte diese Energiearbeit allein vermutlich nicht retten können.
Unmittelbar unter dem Nabelchakra befindet sich das Sakralchakra. Nach indischer Überlieferung verwandelt dieses die Nährenergie in allgemeine Lebenslust, die Sinnlichkeit und Sexualität beinhaltet, aber weit darüber hinausgeht – es ist die Basis für das Interesse an der Welt. Laut Freud lernen wir im ersten Lebensjahr, der sogenannten oralen Phase, die Lust an der Nahrung zu einer generellen Lebenslust zu erweitern . »Oral« bedeutet »auf den Mund bezogen« und weist darauf hin, dass beim Säugling der Mund als primäre Quelle der Befriedigung dient, zum Beispiel durch Nuckeln und Saugen. Der Säugling erfährt, dass in der nährenden Energie der Muttermilch die Freude an der Brust mitschwingt, die sich allmählich auf die ganze Mutter und ihre Umwelt ausdehnt. In dieser Phase lernen wir, unsere Existenz als lustvoll und lebenswert wahrzunehmen. Freuds Theorie geht auf die Beobachtung zurück, dass bei starkem Stress und großer Unsicherheit die allgemeine Lebenslust schrumpft und orale Bedürfnisse zunehmen, etwa das Bedürfnis nach nackten Kalorien, nach Zigaretten oder der Zwang, an den Fingernägeln zu kauen. Diese orale Gier kann sich später als Depression manifestieren. Die Theorie der oralen Phase ist aber auch evolutionsbiologisch interessant, weil sich an der vorderen Öffnung des Urdarms – also am Urmund – die ersten größeren Gruppen von Darmnervenzellen bildeten, aus denen sich schließlich unser Hirn samt seinen vielfältigen Funktionen und Interessen entwickelte.
Das Sakralchakra befindet sich im Bereich des Unterbauchs, etwa zwei Fingerbreit unterhalb des Bauchnabels, wo in der Tiefe der Nervenplexus liegt, der die Geschlechtsorgane steuert. Um dieses Chakra zu stärken, eignet sich die Atmung in den Unterbauch. Seine Energie wird als orange beschrieben, daher bietet sich eine Visualisierung als pulsierende, orangefarbene Energiekugel an. Die Mantras »Meine Emotionen fließen frei« oder »Ich bin in Kontakt mit meiner Kreativität« können dabei behilflich sein, sich mit dem Sakralchakra in Beziehung zu setzen. Die Yoga-Posen Krieger II , Schmetterling oder Fisch können dazu beitragen, die Sakralenergie in Balance zu bringen. Der Ayurveda empfiehlt Lebensmittel mit einem orangen Farbspektrum, wie Orangen, Mangos, Karotten und Süßkartoffeln, sowie ätherische Öle mit Zitrus- und Orangen-Aromen, um die sakrale Kreativität zu fördern. Auch entspannende Bäder oder eine Meditation am Wasser können dieses Chakra aktivieren, weil es mit dem Element Wasser verbunden ist. Und auch kreative Aktivitäten wie Malen, Schreiben, Tanzen oder Musizieren und die Auseinandersetzung mit Kunstwerken sind geeignet, die sakrale Chakraenergie im Gleichgewicht zu halten.
Wurzelchakra (Bodenhaftung und materielle Sicherheit)
Gemäß der indischen Lehre liegt das Wurzelchakra am untersten Ende der Wirbelsäule, dem Steißbein. Sein ursprünglicher indischer Name ist »Muladhara«, was wörtlich übersetzt Wurzel-Unterstützung bedeutet. Es hat eine dunkelrote Farbe und ist dem Element Erde zugeordnet. Seine Energie verbindet den Körper mit der Erde und der physischen Welt. In Freuds Entwicklungslehre entspricht dieses Chakra der analen Phase, in der die Kontrolle über den Kot im Mittelpunkt steht, wofür der Steißbeinplexus zuständig ist, der den Enddarm, den Darmverschluss und die Darmentleerung steuert.
Freud hat dem Enddarm in seiner Psychologie eine große Rolle eingeräumt. Er ging davon aus, dass sich die anale Phase vom 18. Monat bis zum dritten Lebensjahr eines Kindes erstreckt. Die praktischen Entwicklungsaufgaben bestehen laut Freud darin, die Fähigkeit zur Kontrolle der Darmausscheidung zu erlernen und zu festigen. Der Kot sei das erste Produkt, das das Kind selbst herstellt und das es seinen Eltern schenken oder verweigern kann, was ein Vorlauf zum Umgang mit Geld und Macht sei. Ob die Eltern das Kind frei gewähren und sich verschmutzen lassen, ihm einfühlsam helfen, mit seinem Produkt umzugehen, oder es ihm brutal entreißen, hat nach Freud einen Einfluss auf die Entwicklung der Persönlichkeit. Eine übermäßige Betonung der Kontrolle kann gemäß der psychoanalytischen Theorie zu einer analen Fixierung führen, die sich in Eigenschaften wie Sturheit, Ordnungsliebe oder Kontrollsucht manifestiert. Eine allzu lasche Haltung kann zu chaotischer Lebensführung, Haltlosigkeit, Verschwendungssucht und finanziellen Problemen beitragen.
Wissenschaftlich ist diese Theorie der analen Phase nicht, aber der Ausdruck des »analen« Charakters der Ordnungsliebe, Pünktlichkeit, Sauberkeit, Genauigkeit und des Sinns für das Finanzielle und Materielle hat sich durchgesetzt. Interessant ist auch, dass die indische Lehre dem Darmbereich genau die gleichen psychischen Qualitäten zuschreibt, nämlich Sicherheit und Stabilität der materiellen Existenz. Im Gegensatz zu Freud betont sie allerdings weniger die Kindheit und mehr die lebenslange Aufgabe, dieses Chakra zu nähren und zu pflegen. Ein gesundes Wurzelchakra geht mit Sicherheit, guter Erdung und Heimatgefühlen einher. Angst und Stress sind typische Störfaktoren der Wurzelenergie. Wenn jemand einen Schlag einstecken muss und sich innerlich einigelt, zieht er automatisch seine Körperöffnungen zusammen, einschließlich Mund und Darmausgang. Seine Atmung wird flach. Entsprechend meint das Wort »Angst« ursprünglich eng oder Verengung. Damit entkoppelt man sich stückweise vom Fluss der Lebensenergie, der über die Nahrung und die Atmung durch uns fließt. Das mag kurzfristig richtig sein, doch wird diese Reaktion regelmäßig oder anhaltend, entsteht ein Gefühl der Entfremdung, der Erstarrung und des Energiemangels. Die chinesisch-taoistische Tradition geht davon aus, dass gestaute Energie im Wurzelchakra, die nicht durch die Hauptkanäle abfließen kann, sich Neben- und Sickerwege sucht, was sich als unwillkürliche Bewegungen und Empfindungen wie Schmerz, Juckreiz, Kälte, Wärme und Tinnitus sowie als Verstopfung bemerkbar macht.
In der indischen Überlieferung ist das Zusammenziehen der Schließmuskeln des Anus für ein paar Sekunden, gefolgt von einer bewussten Entspannung, eine einfache Übung, um das Wurzelchakra zu beleben . Danach ein Mal durch den Mund ein- und ausatmen, um das gesamte Verdauungssystem zu öffnen und die Energie zum Schwingen zu bringen. Bei der Wurzelchakra-Meditation wird auch empfohlen, sich auf die Nasenspitze zu konzentrieren. Das könnte daran liegen, dass der Hirnteil, der das Wurzelchakra repräsentiert, mit der Nase verbunden ist. Ferner ist die Nase auf Höhe des Hypothalamus, der mittels des Wachmacherhormons Hypokretin die Aufmerksamkeit steigert, was die erdigen Wurzelenergien zum Blühen bringt. Da es dem Element Erde zugeordnet wird, ist das Wurzelchakra direkt mit dem Geruchssinn verbunden. Es geht darum, zu riechen, was wir und andere riechen möchten. Unterstützend können bei der Meditation Mantras wie »Ich bin sicher und geschützt«, »Ich vertraue dem Leben« oder »Ich bin fest mit der Erde verwurzelt« eingesetzt werden.
Zur Ernährung des Chakras empfiehlt der Ayurveda Wurzelgemüse wie Karotten, Kartoffeln, Pastinaken, Radieschen, Rüben, Zwiebeln, Knoblauch und eiweißreiche Nahrungsmittel wie Eier, Fleisch, Bohnen, Tofu, Sojaprodukte und Erdnussbutter. Die passenden Gewürze sind Schnittlauch, Paprika und Pfeffer. Neben diesen Nahrungsmitteln erwähnt der Ayurveda auch das Berühren oder Tragen von Erdungskristallen wie schwarzem Onyx, braunrotem Hämatit oder rotem Jaspis. Diese Steine sollen dabei helfen, das Wurzelchakra zu kräftigen und auszubalancieren.
Das Wurzelchakra hat neben der energetischen und gesundheitlichen Bedeutung eine besondere spirituelle Dimension. In esoterischen und spirituellen Traditionen, vor allem aus dem Hinduismus und einigen Strömungen des Yoga, wird das spirituelle Potenzial des Wurzelchakras als eine Schlangenenergie namens »Kundalini« vorgestellt, die am unteren Ende der Wirbelsäule zusammengerollt schläft. Das Erwachen und Aufsteigen der Kundalini wird als Prozess der Reinigung und Durchflutung aller Chakren mit Energie verstanden, wodurch die Befreiung von Blockaden, spirituelles Wachstum und ein tieferes Energiebewusstsein erreicht wird. Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass dieses Erwachen auch gefährlich sein kann. Wenn die frei gewordene Energie außerhalb der drei Kanäle fließt, können sich ein Verlust des Realitätssinns und psychotische Zustände entwickeln. Dies alles weist daraufhin, dass materielle Sicherheit, Selbstkontrolle und sozialer Halt keine Hindernisse, sondern Voraussetzungen der spirituellen Höherentwicklung sind.
Nachdem ich das Absteigen der Nährenergie tief in den Körper zu den Zentren der Lust, der Macht und der Erdverbundenheit beschrieben habe, wende ich mich nun der Energie zu, die aus diesen Zentren zum Herzen aufsteigt. Diesem Aufstieg wird sowohl in der ayurvedischen Heilkunde wie auch in der östlichen Spiritualität höchste Bedeutung beigemessen . Die Welt mit dem Herzen zu erfahren, ist aber auch ein christliches Gebot.
Laut indischer Vorstellungen kann beim Aufstieg der Nährenergie viel schiefgehen. So kann sie sich etwa auf viele Nebenkanäle verteilen und verzetteln, was alle Spielarten von Anhaftung, Abstoßung und Illusion nährt, was wiederum Verlangen, Gier, Hass, Neid und Sucht zur Folge hat. Je mehr es gelingt, den Zentralkanal zu öffnen und alle Energie in diesen einen Herzkanal zu überführen, desto größer wird das Gefühl von Elan, Antrieb, Freiheit, Ausgeglichenheit und Mitgefühl. Die Tantra-Meditation, die auch »Yoga des inneren Feuers« genannt wird, hat genau dieses Ziel: Die Körperenergien zentral zu bündeln und frei ins Herzchakra fließen zu lassen, wo diese in subtilere und herzlichere Energie umgewandelt werden.
Ein blühendes Herzchakra zeigt sich gemäß der indischen Lehre als Empathie, Liebesfähigkeit, soziale Offenheit und emotionale Intelligenz, aber auch als spirituelle Gefühle dieser Art: »Die ganze Welt ist in mir«, »Ich bin in allem« oder »Alles ist verbunden«. Die Meditation der liebevollen Güte eignet sich meiner Erfahrung nach besonders, die Nährenergie in Liebe und Wohlwollen gegenüber sich selbst und anderen zu verwandeln. Zuerst schickt man liebevolle Gedanken an sich selbst, erweitert dies dann auf einem nahestehende Menschen, dann auf wenig bekannte und unbekannte Personen und schließlich auf die ganze Welt. Dabei sollte man darauf achten, dass viel Energie in den Brustkorb fließt. Außerdem kann es hilfreich sein, Mantras wie »Ich liebe und akzeptiere mich selbst« oder »Ich öffne mein Herz für Liebe und Mitgefühl« leise oder laut zu sprechen. Auch Yoga-Übungen können dazu beitragen, das Herzchakra zu stärken. Beispiele dafür sind Rückbeugen wie Krieger I, Krieger II oder das Kamel. Ferner kann es helfen, Zeit in der Natur zu verbringen, besonders an Orten, die friedvoll und entspannend sind. Zu guter Letzt ist liebevolles und uneigennütziges Verhalten gegenüber anderen stets eine ausgesprochen wirksame Methode, das Herzchakra zu öffnen und die Nährenergie in Mitgefühl zu verwandeln.
Halschakra (Kommunikations- und Sprachenergie)
Das Halschakra ist in der östlichen Tradition ein Energiezentrum, das mit Atmen, Sprechen, Kommunikation, Kreativität, Authentizität und Selbstausdruck in Verbindung gebracht wird. Es beinhaltet die Schilddrüse, die vom Hypothalamus gesteuert wird und Hormone produziert, die den Metabolismus im ganzen Körper regulieren. Schilddrüsenhormone sind insbesondere wichtig für das normale Wachstum und die Entwicklung von Geweben, Organen und des Nervensystems. Biologisch haben Schilddrüsenhormone das Potenzial, das Körpergewicht zu senken, die Motivation zu steigern und die Stimmung aufzuhellen. Deshalb werden sie auch in der Psychiatrie eingesetzt, um die Wirkung von Antidepressiva zu verstärken.
Lange vor der Entdeckung der Schilddrüsenhormone brachten westliche wie östliche Heillehren das Halschakra mit Übergewicht in Verbindung. Der griechische Philosoph Aristoteles beobachtete, dass Esssüchtige die Nahrung ausschließlich in ihrem Hals empfinden, was zu Unersättlichkeit führt. Der indische Weise Patanjali, der die Yoga-Lehre maßgebend geprägt hat, betrachtete den Hals ebenfalls als Ort der Unersättlichkeit. Er empfahl das folgende Mantra, um Hunger und Durst auszuhalten: »Hunger-Röhre im Rachen, löse dich auf!« Auch Flüssigkeiten wie Wasser, Kräutertee und klare Suppe helfen, die Gier des Halses zu besänftigen.
Energetisch gesprochen bleibt bei einem geschlossenen Halschakra die Nährenergie im Hals stecken, wodurch sie das Sakral- und das Wurzelchakra nicht erreicht. Menschen mit einer solchen Blockade schrieb Freud einen oralen Charakter zu. Diesen fällt es schwer, Halt zu finden und auf eigenen Füßen zu stehen. Sie klammern sich an andere und sind nicht gern allein. Gelegentlich wenden sie sich zwar von allem ab, können aber nur für sich sein, weil Nähe die orale Lust ins Unerträgliche steigern würde. Sie leiden fast immer an innerer Leere, da die Nahrung eben stecken bleibt und sie nicht erfüllt. Oft haben sie Stimmungsschwankungen und depressive Schübe. Nicht selten haben sie das Gefühl, die Welt schulde ihnen etwas. Die Ausdrücke »großmäulig«, »den Mund zu voll nehmen« und »verkniffener Mund« beschreiben ihre gestauten Halsenergien gut. Mögliche Folgen davon sind verkrampfte Kaumuskeln und schmerzhafte Störungen des Kiefergelenks. Im Gegensatz dazu sind Verstummen und Wortkargheit sowie abstraktes, unanschauliches und negatives Denken Anzeichen dafür, dass das Halschakra energetisch unterversorgt ist.
Weil Menschen nicht nur im Körper, sondern auch in der Sprache zu Hause sind, können kommunikative Halsenergien von großem Wert für Wohlbefinden und Gesundheit sein. Sie ermöglichen es, Gefühle, Empfindungen und Erfahrungen in Sprache zu verwandeln und sich damit mit sich selbst und anderen Menschen zu verbinden. Besonders geeignet, das Halschakra zum Blühen zu bringen, ist die körpernahe, intuitive Sprache von Mantras, Gedichten und Gesang. Dagegen können Gefühle, die nicht versprachlicht und anerkannt werden, auch nicht vollständig gefühlt werden. »Ich fühle mich niedergeschlagen«, »Ich fühle mich ausgeschlossen«, »Ich fühle mich angegriffen«, »Ich fühle mich beschämt«, »Ich fühle mich ungeliebt«, »Ich fühle mich hoffnungslos«, »Ich fühle mich verurteilt«, »Ich fühle mich einsam« – all diese Gefühle werden allzu oft übersetzt in: »Ich fühle mich hungrig«. Dieser Übersetzungsfehler verwandelt sie zurück in metabolische Bedürfnisse, was es unmöglich macht, aus ihnen zu lernen, an ihnen zu wachsen und sie zu verarbeiten.
Die ausgleichende Wirkung der Sprache ist in allen Kulturen belegt. In der griechischen Mythologie hat das Wort des Meeresgottes Poseidon die Kraft, die Wellen zu beruhigen u nd zu glätten. In der Bibel geht Jesus auf das Wasser und stoppt mit einem Wort den Sturm. Die östliche Spiritualität hat Meditationstechniken entwickelt, um das Halschakra zu stärken. Der buddhistische Mönch Thich Nhat Hanh sagte: »Ein achtsamer Atemzug ist wie ein kleiner Snack für Ihren Körper und hilft, starke Gefühle zu erkennen und zu umarmen. Danach haben Sie vielleicht weniger Lust, sich mit Essen abzulenken. Ihr Körper wurde durch Ihren Atem genährt.« 74 Aus all diesen Gründen ist es wichtig, sich klar und authentisch auszudrücken, beim Sprechen bis in den Bauch zu atmen und achtsam zu kommunizieren. Atemübungen, Singen und Tagebuchschreiben sind geeignet, diese Fähigkeiten zu stärken. Die indische Tradition stellt sich das Halschakra als hellblaue, pulsierende Energie vor, die sich vom Hals auf den ganzen Körper ausbreitet. Dieses Bild kann bei der Meditation helfen. Blaue Kleider, Steine und Halsketten können die Meditation zusätzlich unterstützen. Auch bestimmte Yoga-Posen können dazu beitragen, das Halschakra zu öffnen. Dazu gehören Schulterbrücke, Fisch und Pflug.
Stirnchakra (Einsichts- und Weisheitsenergie)
Das Stirnchakra, auch als Ajna-Chakra oder Drittes Auge bezeichnet, ist in östlichen Traditionen ein Energiezentrum, das mit Wahrnehmung, Intuition, Erkenntnis, Vorstellungskraft und geistigem Bewusstsein in Verbindung gebracht wird. Es liegt mitten zwischen den Augen an der Nasenwurzel, was der Höhe des Übergangs zwischen dem Thalamus, der die Wahrnehmung koordiniert, und dem Hypothalamus, dem Energiezentrum, entspricht. Das Stirnchakra ist gemäß der indischen Überlieferung der Sitz von Weisheit und Einsicht, Fantasie, Intelligenz und Vertrauen – es hilft, die Dinge im Blick zu behalten. In diesem Sinne hatten Wissenschaftler wie Albert Einstein, Mystikerinnen wie Hildegard von Bingen und Psychiater wie C. G. Jung ein blühendes Stirnchakra, das ihnen half, abstrakte physikalische, theologische und psychologische Vorstellungen mit Energie zu füllen und Geist, Körper und Materie miteinander zu verbinden. Kunstschaffende wie Frida Kahlo und Picasso benutzten ihre gut vernetzte Stirnenergie, um ihre außerordentliche Wahrnehmung in Kunstwerke zu verwandeln, die Generationen von Menschen inspirieren.
Wenn Thalamus und Hypothalamus nicht ausreichend miteinander kommunizieren, entsteht der abgehobene Charaktertyp, den man sich als geschlossenes Stirnchakra denken kann. Betroffene sind blind vor Erwartungen und fixen Vorstellungen und frustriert, dass die Welt und die Mitmenschen ihren Erwartungen nicht entsprechen. Geist und Körper fühlen sich getrennt an. Dieser Typ isst wahllos, einseitig oder chaotisch, und ein Teil der Nahrungsenergie fließt nicht nach unten, sondern in unverarbeiteter Form nach oben. Das führt zu einer Spaltung von Denken, Fühlen und Körperempfindungen. Das Denken verliert dadurch den Bezug zur sozialen Welt und zu konkreten D ingen. Dies entspricht einem energetischen Rückzug von der Welt, aber auch vom Körper. Intime, gefühlsbetonte Beziehungen werden vermieden. Körperlich kann dies durch ein kaltes Gesicht, kalte Händen und Füßen zum Ausdruck kommen. Die Augen nehmen selten Kontakt auf. Die Gesichtsmuskeln sind oft verspannt und das Gesicht wirkt wie eine Maske. Kopfschmerzen und Migräne sind typisch. Ein solcher Charakter geht einher mit geringen, flachen Gefühlen, die aber, sobald die angestaute Energie einen Ausweg findet, explosiv in Wut und Feindseligkeit umschlagen können. Im günstigen Fall entwickelt sich aus der Kopflastigkeit und Überempfindlichkeit eine Faszination für die Kunst und philosophische Systeme, die den Erwartungen des abgehobenen Typs besser entsprechen als die reale Welt.
Die Stirnchakraenergie hat eine indigoblaue Farbe, entsprechend gelten im Ayurveda blaue Beeren, schwarze Beeren, Himbeeren, Traubensaft, Lavendelöl und Gewürze wie Mohn als geeignet, das Chakra zu nähren. Zu den ätherischen Ölen, die für das Stirnchakra förderlich sind, gehören Lavendel, Weihrauch oder Bergamotte. Man kann für diese Öle einen Diffusor verwenden oder sie verdünnt auf die Haut auftragen.
Für die Stirnchakra-Meditation sollten gemäß indischer Überlieferung die Augen geschlossen und die Atmung auf den Bereich zwischen den Augenbrauen gelenkt werden, um das Dritte Auge möglichst tief zu entspannen. Grundsätzlich ist jede Meditation und jede Achtsamkeit im Alltag geeignet, die Augenenergie zum Fließen zu bringen, solange sie die Verbindung zwischen der Wahrnehmungsfunktion des Thalamus und der Energieregulation des Hypothalamus fördert. Körperfokussierte Meditation und das Führen eines Traumtagebuchs tragen dazu bei, die innere Wahrnehmung zu stärken und Einblicke in das Unbewusste zu geben. Zu den Stirnchakra-Yoga-Posen gehören Kindhaltung, Adlerhaltung und Erde.
Kronenchakra (universelle Energie)
Das Kronenchakra ist das höchste Energiezentrum, das gemäß der indischen Energielehre für das höhere Bewusstsein und die Verbindung zu universellen Energien zuständig ist. Es befindet sich über dem Scheitel des Kopfes, also etwas außerhalb des Körpers in der energetischen Aura, dargestellt als aufblühender Lotus oder strahlende Krone. Ein ausgeglichenes Kronenchakra trägt zu einem tiefen Verständnis des Daseins, innerem Frieden und spirituellem Wachstum bei.
Im 15. Kapitel der Bhagavad Gita gibt es eine rätselhafte Stelle, an der ein innerer Baum erwähnt wird. Es heißt, dieser Baum sei unvergänglich, und wer ihn erklimme, gelange zu höherer Erkenntnis. Im Gegensatz zu dem Baum, der den Darm und das Nabelchakra darstellt, steht dieser unvergängliche Baum verkehrt herum. Seine Wurzeln befinden sich in unserem Kopf und schauen nach oben, weil sie mit dem Universum verbunden sind, sein Stamm und seine Äste wachsen nach unten in den Körper und stellen die flüchtigen Sorgen, Ängste und Begierden dar. Den Baum zu erklimmen bedeutet, sich von materiellen Zwecken und kurzfristigen Zielen ab- und höheren Dingen und universellen Werten zuzuwenden. Tatsächlich ist der Baum ein gutes Bild für das Kronenchakra, das die Nährenergie von unten mit der spirituellen Energie von oben verbindet. Biologisch ist das Kronenchakra der Zirbeldrüse zugeordnet, deren Botenstoffe Serotonin und Melatonin den Tag-Nacht-Rhythmus und andere zeitliche Rhythmen regulieren, was darauf hindeutet, dass der umgekehrte Baum auf das Eintreten in eine größere Zeit und den Kontakt mit dem Ursprung verweist.
Die Farbe des Kronenchakras ist Violett, entsprechend sind dunkle Kirschen, die das Schlafhormon Melatonin enthalten, mit dieser Energie verwandt. Außerdem stimulieren laut Ayurveda Sandelholz- und Lotus-Aromen sowie die Räucherkräuter Salbei und Wacholder die Kronenenergie. In vielen spirituellen Traditionen ist Fasten eine bewährte Methode, um den umgekehrten Baum zu entdecken, weil es uns dazu anregt, Nahrung, die nicht auf dem Teller serviert daherkommt, zu erschließen. Für fortgeschrittene Yogi eignet sich der Kopfstand, um das Hirn als Wurzel zu erleben. Die Kronenchakra-Meditation zielt nicht nur darauf ab, unser verborgenes Inneres und unser vielschichtiges Selbst zu ergründen, sondern auch darauf, unsere geheimnisvolle Ausdehnung in den Raum zu erfahren. Die Chakravisualisierung beinhaltet violette und weiße Energie, die von oben herabfließt . Mit diesem Bild können wir endlich verstehen, warum die Chakraenergie im indischen Denken nicht als Kreislauf im Körper gedacht ist, sondern als Teil eines umfassenderen Stroms: Die Verwandlungen der Nährenergie sollen uns in den Kreislauf des Kosmos einbinden.