Filmliebhaber kennen die beiden großen Filme des Komikers Charlie Chaplin: Der große Diktator und Moderne Zeiten. Die meisten wissen, dass der erste dieser beiden Filme eine Karikatur auf Adolf Hitler ist, aber nur die wenigsten ahnen, dass der zweite einen Mann aufs Korn nimmt, der ebenfalls gewaltigen Einfluss auf das 20. Jahrhundert hatte. In Moderne Zeiten spielt Charlie Chaplin einen Fließbandarbeiter, der immer schneller Muttern auf Schrauben drehen muss, in dem verzweifelten Versuch, mit dem von der Fabrikleitung vorgegebenen Tempo mitzuhalten; am Ende wird er schließlich in die Maschine gezogen und stürzt die ganze Fabrik ins Chaos.1 Der Film ist eine Parodie auf Frederick W. Taylor, einen der Propheten des Evangeliums der Effizienz. Frederick Winslow Taylor wurde 1856 als Sohn einer wohlhabenden Quaker-Familie in Philadelphia geboren. Er besuchte die renommierte Phillips Academy in Exeter, New Hampshire und entschloss sich danach zu einer Ausbildung als Maschinenbauer. Er erklomm Führungspositionen in mehreren Unternehmen, darunter die Bethlehem Steel Corporation. Später lehrte er an der Tuck School of Business des Dartmouth College und wurde 1906 Präsident des Amerikanischen Ingenieursverbands (American Society of Mechanical Engineers ASME). 1911 veröffentlichte er Die Grundsätze wissenschaftlicher Betriebsführung – die Bibel der Effizienz und eine Anleitung für ihre Verankerung im Herzen der modernen Zivilisation.

Taylor entwickelte ein System der Arbeitsteilung, mit dem das Management buchstäblich jeden einzelnen Handgriff jedes einzelnen Arbeiters in jeder einzelnen Produktionsphase steuerte. Sein System, das später als Taylorismus bezeichnet wurde, basierte auf einem einzigen übergreifenden Grundsatz: der Trennung von Führung und Planung auf der einen Seite und der Ausführung der Tätigkeiten in der Fabrik auf der anderen sowie der Aufspaltung dieser Tätigkeiten in immer einfachere Einheiten, die aufeinander abgestimmt waren, um die Effizienz des Produktionsprozesses zu steigern. Nachdem der Beitrag jedes Arbeiters auf einzelne, einfache, wiederholbare und bis ins Kleinste vorgeschriebene Tätigkeiten reduziert worden war, maßen Vorarbeiter mit der Stoppuhr die für jeden Handgriff erforderliche Zeit, um jede überflüssige und verlangsamende Bewegung zu beseitigen und die Abläufe noch schneller und noch akkurater zu machen. Sie sollten ermitteln, wie viel Zeit eine Tätigkeit unter optimalen Bedingungen in Anspruch nahm, um diese Zeit als Maßstab der Effizienz zu verwenden. Kleinste Veränderungen in den Bewegungsabläufen, die eine Verrichtung verlangsamen konnten, wurden korrigiert, um kostbare Sekunden einzusparen.

Die Tätigkeit der Arbeiter wurde standardisiert, alle Eigenheiten des Verhaltens wurden ausgemerzt, um ein absolut rationales Arbeitsumfeld zu schaffen, in dem Arbeiter nicht mehr von den Maschinen zu unterscheiden waren, die sie bedienten. Alle Faktoren in der Produktion waren Teile einer wissenschaftlich geführten Übermaschine, deren Leistung ständig nach Effizienzkriterien gemessen und deren Wert durch Kosten-Nutzen-Analyse errechnet wurde.

Die Fabrik sollte allerdings nur der Brückenkopf sein, über den der Taylor’sche Effizienzfeldzug in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhundert in die Gesellschaft vordrang. Das Geniale an Taylors Erzählung war ihr wissenschaftlicher Anstrich, der ihr die nötige Legitimität verlieh, um sie der gebildeten Mittelschicht schmackhaft zu machen und den Begriff der Effizienz, der eigentlich aus dem Ingenieurwesen kam und die Leistung von Maschinen beschrieb, für jeden Aspekt des Lebens tauglich erscheinen zu lassen. Das Maschinenzeitalter war angebrochen. Neue, atemberaubende Erfindungen erreichten die breite Bevölkerung: Telefon, Dynamo, Elektrizität, künstliche Beleuchtung, Auto, Flugzeuge, Wolkenkratzer, Radio, Kino, Fließbänder, elektrische Haushaltsgeräte und so weiter. Millionen von Familien gingen staunend durch die Weltausstellungen, angefangen von der in Chicago 1893 bis zu der in New York 1939, wo sie die von den Naturwissenschaften und der effizienten Wirtschaft errichteten Utopien mit Händen greifen konnten. Die Ausstellungsstücke sollten den Besuchern die Zukunft vor Augen führen, die sie selbst mit aufbauen und in der sie leben würden.

Kein Ort war besser geeignet, der Öffentlichkeit diese neue Weltsicht einzuimpfen als das Zuhause. In einer Flut von Artikeln forderten Frauenzeitschriften ihre Leserinnen auf, »fortschrittlich zu denken und sich der Effizienzbewegung anzuschließen«. Sie appellierten an die Vernunft der Leserinnen, sie schreckten allerdings auch nicht vor dem Zeigefinger zurück. Mütter der Mittelschicht wurden ermahnt, die Familie sei »Teil der großen Fabrik zur Produktion von Bürgern«.2 In einer beliebten Frauenzeitschrift forderte die Hauswirtschafterin Christine Frederick die Hausfrauen auf, wissenschaftlich zu denken und den häuslichen Betrieb effizient zu führen. Sie bekannte: »Jahrelang war mir nicht bewusst, dass ich allein beim Wäschewaschen achtzig falsche Bewegungen ausführte, die beim Aufräumen, Wischen und Saubermachen gar nicht eingerechnet.«3 Frederick appellierte an alle Hausfrauen, das Geschirrspülen zu standardisieren und »Bewegungen zu identifizieren, die effizient sind, und andere, die unnötig und ineffizient sind«.4 Experimentierstationen wurden eingerichtet, um die Effizienz der Tätigkeiten im Haushalt zu ermitteln. Bewegungsabläufe wurden gestoppt, um für jede Arbeit im Haushalt optimale Bewegungs- und Zeitsegmente zu finden und Daten zu sammeln, mit denen Hausfrauen »in den Grundsätzen der Haushaltstechnik« unterwiesen werden konnten.5 Der Effizienzkreuzzug war in vollem Gange. »Das Heim sollte mechanisiert und systematisiert« und nach dem Rhythmus der Effizienz optimiert werden.6 Das Heim war das Einfallstor, über das der Taylorismus Einzug in die Gesellschaft hielt, doch die Schule wurde der Lehrer, Führer, Vermittler und Vollstrecker der Effizienzagenda. Nach den Grundsätzen der wissenschaftlichen Betriebsführung wurden Schulen zu Lernfabriken umgestaltet und Kinder zu kleinen Tayloristen geformt, um sie auf die Chancen und Aufgaben »der Welt von morgen« vorzubereiten.

Auch die Medien schürten die Hysterie gegen ein altes Bildungsmodell, das nicht mit den Anforderungen der Arbeitswelt Schritt hielt und die Schüler nicht darauf vorbereitete, Rädchen in einem industriellen System zu werden, welches mit den Mitteln der wissenschaftlichen Betriebsführung Effizienz und Produktivität steigerte und Wohlstand produzierte. Die Evening Post geißelte »unsere mittelalterlichen Schulen«, wie sie sie nannte und fragte: »Wollen wir unsere Kinder auf das 12. oder auf das 20. Jahrhundert vorbereiten?« Der Artikel machte sich über die »Kavaliersbildung« lustig, die »in der Welt, vor allem der Geschäftswelt, keinen Platz mehr hat«.7 Ein weiterer Anhänger des Taylorismus schimpfte: »In der unternehmerischen Führung vieler Schulen gibt es Ineffizienzen, wie man sie in der Welt der Büros und Fabriken niemals dulden würde.«8 Pädagogen nahmen den Fehdehandschuh auf. Schulbehörden drängten auf eine Neuorganisation des staatlichen Schulwesens nach den Grundsätzen der wissenschaftlichen Betriebsführung. Oberste Priorität war die Entmachtung der Lehrer mit ihren individuellen Unterrichtsmethoden. Tayloristen verlangten, Lehrplan, Unterricht und Prüfungen in die Hand der Schulbehörde zu geben, sie zu standardisieren und den Lehrern präzise Vorgaben zur Unterrichtsgestaltung zu machen.

In dieser neuen Schule übernahm die Schulbehörde die Rolle des Managements in Fertigungsunternehmen, und die Lehrer waren die Fließbandarbeiter, die spezifische Aufgaben erhielten sowie detaillierte Anweisungen, wie sie den Stoff zu vermitteln hatten. Wissen wurde in kleinste Häppchen zerteilt, die sich leicht schlucken und in standardisierten Prüfungen wieder hervorwürgen ließen.

Standardisierte Prüfungen und Benotungen wurden zur Norm. Der traditionelle Anspruch einer Wissensvermittlung, der es um das »Warum« ging, wurde ersetzt durch eine fast schon missionarische Begeisterung für das »Wie«. Effizienz wurde das wesentliche Kriterium bei der Beurteilung von Leistung. Aufgaben mussten unter Zeitdruck gelöst werden. Wissen wurde in Fächer eingeteilt, um das Erlernen von konkreten Aufgaben zu erleichtern. Die Qualität einer Schule wurde daran gemessen, wie viele Kinder in einer standardisierten Prüfung ein bestimmtes in Zahlen ausgedrücktes Ergebnis erreichten und damit in die nächste Klasse versetzt wurden. Heutzutage wird die Qualität amerikanischer Highschools am Abschneiden der Schüler bei den landesweiten Hochschulzugangstests abgelesen.

Im Laufe der letzten hundert Jahre erlebte dieser Tayloristische Bildungsansatz zwar geringfügige Korrekturen, doch im Grunde hat sich nichts geändert. Das amerikanische Bildungswesen des 20. Jahrhunderts diente vor allem dem Zweck, Kindern die Taylor’sche Effizienz zu vermitteln und sie für die Arbeitswelt fit zu machen.

Die staatlichen Gesetze zur Bildungsförderung aus dem Jahr 2001 lesen sich, als stammten sie direkt aus dem Taylor’schen Lehrbuch. Im Mittelpunkt stehen noch immer möglichst anspruchsvolle standardisierte Tests und detaillierte Anweisungen, wie Lehrer den Stoff im Unterricht zu vermitteln haben. Inhalte, die sich nicht auf standardisierte Benotungen reduzieren lassen, wurden aus dem Lehrplan gestrichen.

Pädagogikprofessor Wayne Au von der University of Washington beschrieb in einem Artikel den anhaltenden Taylorismus in Lehrplänen und Tests und seine Auswirkungen auf die Schulen der Vereinigten Staaten:

Wissen verkommt zu einem Sammelsurium unzusammenhängender Fakten, Operationen, Verfahren oder Daten, die für die standardisierten Prüfungen auswendig gelernt werden … In der Folge erwerben Schüler vor allem mit niederen Denkfunktionen zusammenhängendes Wissen, und sie lernen dieses Wissen in Häppchen und ausschließlich im Kontext von Prüfung. Die standardisierten Prüfungen behindern also die Wissensvermittlung an den Schulen der Vereinigten Staaten.9

Nirgends erhielt die Effizienzbewegung größere Bedeutung, und nirgends wurde sie in der öffentlichen Debatte mehr missverstanden als im Umgang mit natürlichen Ressourcen. Den Naturschützern des beginnenden 20. Jahrhunderts ging es darum, die Schönheit der Wildnis aus ästhetischen Gründen zu bewahren und Ökosysteme zu erhalten, um der heimischen Tier- und Pflanzenwelt neben der zunehmend industrialisierten Umwelt einen Platz einzuräumen. Doch die Berufsverbände, die Industrie und die Regierung von Präsident Theodore Roosevelt definierten den Naturschutz zur Effizienzagenda um. Sie argumentierten, die natürlichen Ressourcen seien der Schlüssel für einen raschen Aufstieg zur führenden Industriemacht der Welt. Doch sie warnten auch, dass mit einer zu eiligen Inbesitznahme und Ausbeutung der natürlichen Schätze des Landes die Gans getötet würde, die goldene Eier legte. Daher drängten sie auf eine effizientere Ausbeutung des natürlichen Erbes im Dienste der amerikanischen Industrie und Wirtschaft. Da es sich bei der Ausbeutung von Ressourcen um eine technische Angelegenheit handelte, sollte sie in die Hände von Experten gegeben werden, die sich am besten auf das effiziente Management der natürlichen Reichtümer des Landes verstanden.

Der Umwelthistoriker Samuel P. Hays fasste die Kernpunkte der neuen Naturschutzbewegung so zusammen: »Die Effizienzapostel ordneten die Ästhetik der Zweckdienlichkeit unter. Der Erhalt natürlicher Landschaften und historischer Stätten musste hinter der Steigerung der industriellen Produktivität zurückstehen.«10 Wer glaubt, dass sich in den Vereinigten Staaten am Umgang mit staatlichem Grundbesitz im Laufe der letzten hundert Jahre etwas geändert hat, der möge sich folgende Zahlen zu Gemüte führen: »Aktuell stehen 90 Prozent des staatlichen Grundbesitzes der Öl- und Gasförderung zur Verfügung, und nur 10 Prozent für Naturschutz und andere Werte wie Freizeit und Wildnis«.11 Schlimmer noch, 42 Prozent der in den Vereinigten Staaten geförderten Kohle, 22 Prozent des Rohöls und 15 Prozent des Erdgases, die für 23,7 Prozent der klimaschädlichen Kohlendioxidemissionen der Vereinigten Staaten verantwortlich sind, stammen aus öffentlichem Grund.12 Das Effizienznarrativ der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts war ein probates Mittel, um grundlegendere Fragen von wirtschaftlicher und politischer Gleichheit, Gleichstellung der Frau, Aufhebung der Rassentrennung, Moral und der Verantwortung des Menschen für die Natur auszuhebeln. Effizienz wurde als neutrale Kraft verkauft. So wie Darwin das Buch der Natur umschrieb mit seiner Behauptung, die Auslese garantiere das Überleben des am besten Angepassten, und damit die Fragen der göttlichen Bestimmung ausschaltete, brachten die Grundsätze der wissenschaftlichen Betriebsführung ihre eigene Logik mit, der zufolge Effizienz über den widerstreitenden gesellschaftlichen Interessen steht. Wer die Effizienz infrage stellt, legt sich mit den unhintergehbaren Gesetzen der Naturwissenschaften und der Natur selbst an. Wie sehr wir uns geirrt haben.

Während des Industriezeitalters ging ein Drittel der Böden unseres Planeten durch Erosion verloren, und Wissenschaftler sagen uns, dass wir zur Ernährung der Weltbevölkerung nur noch Erdreich für sechzig Jahre haben.13 Für die Entstehung von fünf Zentimetern Erdreich ist ein Jahrtausend und mehr nötig.14 Die Wissenschaftler warnen uns auch, dass der Klimawandel ein massenhaftes Artensterben verursacht, dem in den nächsten achtzig Jahren fast die Hälfte aller heute lebenden Arten zum Opfer fallen könnte.15 Gleichzeitig hat unser Planet ein ernstes Sauerstoffproblem – und es wächst in alarmierender Geschwindigkeit. Die Hälfte des Sauerstoffs, der auf der Erde durch Photosynthese entsteht, wird durch Phytoplankton in den oberen Schichten der Ozeane gebildet. Doch der Anstieg der Meerestemperaturen aufgrund der Klimaerwärmung schadet den winzigen Algen. Neuere Studien gehen davon aus, dass durch den Verlust des Phytoplanktons schon im Jahr 2100 alle Weltmeere unter Sauerstoffmangel leiden könnten.16 Nicht weniger beängstigend ist die Aussicht, dass mit der Erderwärmung durch Treibhausgase Überschwemmungen, Wirbelstürme, Dürren und Waldbrände an Häufigkeit und Intensität zunehmen, Ökosysteme instabil und große Bereiche des Planeten unbewohnbar werden – bis 2070 könnten 19 Prozent der Erdoberfläche so heiß sein, dass sie für Menschen unbewohnbar sind.17 Der Fußabdruck, den die Menschheit auf der Erde hinterlässt, ist gigantisch. Galten vor einem Jahrhundert noch rund 85 Prozent der gesamten Landfläche des Planeten als Wildnis, sind es heute weniger als 23 Prozent, und auch dieser Rest wird in ein paar Jahrzehnten verschwunden sein.18 Wie konnten wir zulassen, dass es so weit kommt? Warum haben wir das nicht früher kommen sehen? Dazu gibt es zahlreiche Meinungen. Doch einen großen Teil der Verantwortung tragen unbestritten Naturwissenschaftler, Wirtschaftswissenschaftler und Unternehmer, die uns gemeinsam das Märchen von der Weltwirtschaft auftischten, die den Interessen und dem Wohl der Menschheit diene.

Diese Geschichte beginnt mit dem französischen Mathematiker und Naturwissenschaftler René Descartes, der oft als erster moderner Philosoph bezeichnet wird. Der 1596 im französischen La Haye en Touraine geborene Descartes war ein Musterschüler der Mathematik und Physik. Als Junge bestaunte er die neuen Erfindungen, mit denen der Mensch seine Herrschaft über die Natur festigte. Für ihn waren diese mechanischen Geräte Teil eines viel größeren Bildes, eines mechanischen Universums – also eines rationalen Universums, das nach den Gesetzen der Mechanik funktioniert. Descartes war der Ansicht, diese Gesetze ließen sich erkennen und zum Wohl der Menschheit nutzen.

Descartes erinnerte sich später, wie er am Abend des 10. November 1619 zu Bett ging und drei Träume hatte, in denen ihm der Geist der Wahrheit eine neue Philosophie offenbarte, die anders war als alles, was vor ihr kam. Als er erwachte, verstand er den Grundgedanken dessen, was als analytische Geometrie bekannt werden sollte, sowie die Anwendung der Mathematik auf die Philosophie. Descartes überlegte,

dass es keinen Unterschied macht, ob die Frage der Messung bei Zahlen, Formen, Sternen, Klängen oder irgendeinem anderen Objekt gestellt wird. Ich erkannte, dass es eine allgemeine Wissenschaft geben musste, die dieses Element, aus dem sich Probleme um Ordnung und Messung ergeben, als Ganzes erklärt. Diese Wissenschaft wird universelle Mathematik genannt, und ihre Aufgabe sollte es sein, auf allen Gebieten die Wahrheit zu finden.19

Descartes glaubte, der entfesselte Geist könne, mit den Waffen der Mathematik ausgestattet, eine geordnete, berechenbare und dauerhafte Entsprechung des Lebens auf der Erde erschaffen, genau wie Gott einst das Universum erschaffen hatte. »Gib mir Materie und Bewegung und ich werde das Weltall erschaffen«, sagte er – vielleicht der kühnste Satz, den je ein Mensch geäußert hat.20 Doch er stieß auf offene Ohren, vor allem unter den Geistesgrößen seiner Zeit.

Descartes sah die Beschreibung des mechanischen Universums nicht als Metapher oder Vergleich – er meinte sie wörtlich. Menschliche Emotionen – Gedächtnis, Vorstellungskraft, Leidenschaften – beschrieb er als Funktionen, die sich aus der Anordnung von Gegengewichten und Rädern ergeben, und unsere Mitlebewesen bezeichnete er als seelenlose Automaten.21 1649 schrieb er in einem Brief an den britischen Philosophen Henry Moore:

Da Kunst die Natur nachahmt und der Mensch Automaten schaffen kann, die sich ohne zu denken bewegen, scheint die Annahme vernünftig, dass die Natur ihre eigenen Automaten schafft, die noch viel vorzüglicher sind als die künstlichen. Diese natürlichen Automaten sind die Tiere.22

Doch in seiner Vision des mechanischen Universums stieß Descartes an ein unüberwindliches Hindernis: Jede Maschine wird in ihrer Bewegung mit der Schwerkraft konfrontiert. Descartes konnte zwar die Einzelteile der Maschine beschreiben, doch er konnte nicht erklären, wie die von außen kommende Schwerkraft auf sie wirkt. Die Antwort fand ein junger Student 68 Jahre später.

Der 22-jährige Isaac Newton war im dritten Jahr seines Studiums am Trinity College von Cambridge und ein glühender Verehrer von René Descartes. Weil in London die Pest wütete (wo sie insgesamt rund 100 000 Menschen tötete – ein Fünftel der Einwohner) und rasch auf das Land übergriff, schloss die Universität ihre Tore und schickte die Studenten nach Hause. Newton zog sich auf den Landsitz der Familie in Woolsthorpe zurück und blieb dort fast zwei Jahre lang in einer freiwilligen Quarantäne. In dieser Zeit arbeitete er an den Gesetzen der Bewegung und der Schwerkraft und entwickelte die Infinitesimalrechnung. Historiker bezeichneten seine Selbstisolation als »Jahr der Wunder«.23 Im Herbst 1667 kehrte er nach Cambridge zurück, seine Notizbücher randvoll mit Erkenntnissen. 1669 wurde er Professor für Mathematik. Sein Meisterwerk Philosophiae Naturalis Principia Mathematica wurde 1687 von der Royal Society veröffentlicht und über Nacht zur Sensation, erst in Großbritannien, dann in Frankreich und schließlich in ganz Europa.24

Newton entdeckte die mathematische Formel zur Beschreibung der Schwerkraft. Er behauptete, dass alle Naturphänomene von konkreten Kräften abhingen, »durch die Partikel durch bislang unbekannte Ursachen entweder zueinander hingezogen oder voneinander abgestoßen werden«.25 Newton erklärte, ein einziges Gesetz reiche aus, um die Bewegung der Planeten und den Fall eines Apfels vom Baum zu beschreiben. Sein Gravitationsgesetz besagt: »Die Anziehungskraft zwischen zwei Massen ist direkt proportional zum Produkt ihrer Massen und umgekehrt proportional zum Quadrat des Abstands ihrer Mittelpunkte.«26 Newtons drei Gesetze besagen, dass ein ruhender Körper in Ruhe bleibt, und sich ein bewegter Körper gradlinig mit konstanter Geschwindigkeit fortbewegt, solange keine Kraft auf ihn wirkt; dass die Beschleunigung eines Körpers direkt proportional zu der auf ihn wirkenden Kraft ist und umgekehrt proportional zur Masse des Objekts; und dass jede Kraft mit einer gleich großen Gegenkraft einhergeht. Newtons drei Gesetze erklären, wie alle Kräfte im Universum zusammenwirken und im Gleichgewicht sind.

Adam Smith war ein Fan von Newtons Gleichgewichtstheorie und der Systematisierung der Physik und nannte sein Werk »die größte Entdeckung, die je ein Mensch gemacht hat«.27 Smith erfand den Begriff der »unsichtbaren Hand«, um zu zeigen, dass in der Wirtschaft Angebot und Nachfrage auf eine Weise zusammenspielen, die zumindest oberflächlich an das dritte Newton’sche Gesetz vom Gleichgewicht der Kräfte erinnern. Adam Smith und Heerscharen von Wirtschaftswissenschaftlern, die in den vergangenen zweieinhalb Jahrhunderten in seine Fußstapfen traten, glaubten, dass in einem sich selbst regulierenden Markt Angebot und Nachfrage konstant aufeinander reagieren, die Preise von Waren und Dienstleistungen korrigieren und auf diese Weise ein Newton’sches Gleichgewicht bilden. Newtons Universum aus Materie und Bewegung war wohlgeordnet und berechenbar, für Spontaneität und Unberechenbarkeit war hier kein Platz. Es war eine Welt der Quantitäten ohne Qualitäten. Newton stützte seine Erkenntnisse mit mathematischen Beweisen, nicht mit Schlussfolgerungen aus Beobachtungen, und machte damit die Mathematik zur Wissenschaft der Wahl bei der Erforschung und Ausbeutung der Welt. Newton mathematisierte die Aufklärung, und die Mathematik wurde zum Gerüst des folgenden Fortschrittszeitalters.

Es ist beachtenswert, dass Newtons Bewegungsgesetze keinen Zeitpfeil kennen. In Newtons Universum sind alle Prozesse in der Zeit umkehrbar. Doch in der wirklichen Welt der Natur, wie übrigens auch in der Wirtschaft, lässt sich kein Ereignis umkehren. Die Generationen von Wirtschaftswissenschaftlern, die Newtons zeitloses Schema als Modell für die wirtschaftliche Tätigkeit verwendeten, befanden sich auf einem Holzweg, der sie weit von der Wirklichkeit weg führte.

Adam Smith und die Pioniere der Wirtschaftswissenschaften waren nicht die einzigen, die Parallelen zwischen den Newton’schen Bewegungsgesetzen und ihren eigenen Interessen herstellten. Auch die Mächtigen Großbritanniens griffen seine Theorie auf, allen voran die anglikanische Kirche und die Regierung, die sich wegen der zunehmenden sozialen Unruhen und der wirtschaftlichen Verwerfungen durch eine im radikalen Umbruch befindliche Wirtschaft und Gesellschaft sorgten. Die Krone sah in Newtons Beschreibung eines geordneten, berechenbaren und sich selbst regulierenden Universums ein Modell, auf das Kirche, Staat und Unternehmer setzen konnten, um die gebildete Elite auf ihre Seite zu bringen. Diese wiederum sollte die Newton’sche Mechanik zur Erziehung und Bezähmung der Massen verwenden und damit den brodelnden Mob aus Gegnern der Monarchie und antiklerikalen Intellektuellen bändigen, die zunehmend die staatliche Autorität infrage stellten. Die implizite und oft explizite Botschaft war, dass Widerstand gegen den britischen Staat zwecklos war, da er der natürlichen Ordnung der Dinge zuwiderlief – also der berechenbaren, geordneten und sich selbst regulierenden Welt, deren Hüter die britische Krone war.

Tatsächlich hätte den Wirtschaftswissenschaften bewusst sein müssen, dass die Newton’schen Gesetze, die ohne die Dimension der Zeit auskamen, eine schlechte Wahl zur Erklärung des Kapitalismus waren. Mitte des 19. Jahrhunderts waren neue Naturgesetze entdeckt worden, die so weitreichend und umfassend waren, dass sie den Bezugsrahmen schufen für alle früheren und sogar nachfolgenden Gesetze, einschließlich Newtons Bewegungsgesetzen, Darwins Evolutionstheorie und Einsteins Relativitätstheorie. Diese neuen Gesetze zur Organisation des Universums sind die drei Sätze der Thermodynamik.

Ein Jahrhundert nach ihrer Entdeckung beschrieb Albert Einstein die Bedeutung der Thermodynamik so:

Eine Theorie ist desto eindrucksvoller, je größer die Einfachheit ihrer Prämissen ist, je verschiedenartigere Dinge sie verknüpft und je weiter ihr Anwendungsbereich ist. Deshalb der tiefe Eindruck, den die klassische Thermodynamik auf mich machte. Es ist die einzige physikalische Theorie allgemeinen Inhaltes, von der ich überzeugt bin, daß sie im Rahmen der Anwendbarkeit ihrer Grundbegriffe niemals umgestoßen werden wird.28

Während es die Schwäche der Newton’schen Mechanik ist, dass sie das Vergehen der Zeit nicht einbezieht, geht es im Gesetz der Thermodynamik ausschließlich um das Vergehen der Zeit. Der erste Satz der Thermodynamik, der als Energieerhaltungssatz bekannt ist, besagt, vereinfacht ausgedrückt, dass die Energie im Universum konstant ist und sich seit dem Urknall nicht verändert hat. Das heißt, dass Energie weder entstehen noch vernichtet werden kann. Doch auch wenn sie immer konstant ist, geht sie in andere Formen über, aber nur in einer Richtung, und zwar von verfügbar zu nicht verfügbar. An diesem Punkt kommt der zweite Hauptsatz der Thermodynamik ins Spiel. Dieser Satz besagt, dass Energie immer von warm zu kalt, von Konzentration zu Streuung, von Ordnung zu Unordnung fließt, und dass diese Prozesse unumkehrbar sind.

Wenn man beispielsweise ein Stück Kohle verbrennt, bleibt die gesamte in der Kohle enthaltene Energie erhalten, doch sie ist nicht mehr konzentriert, sondern zerstreut. Die Energie verflüchtigt sich mit Kohlendioxid, Schwefeldioxid und Stickoxid in der Atmosphäre. Die Energie bleibt zwar in der Summe erhalten, doch sie wird nie mehr von sich aus in einem Stück Kohle zusammenkommen. Der deutsche Physiker Rudolf Clausius prägte 1865 dafür den Begriff der Entropie, um die verbleibende, aber weitgehend unerreichbare Energie zu beschreiben.29

Nun könnte man sagen, dass die Sonne ja die unablässig sprudelnde Energiequelle der Erde ist, und dass diese Energie dank der Photosynthese in ausreichender Menge zur Verfügung steht – zumindest bis die Sonne verglüht, was allerdings noch ein paar Milliarden Jahre entfernt sein dürfte. Doch daneben gibt es noch andere materielle Energiequellen – Erze, seltene Erden und die im Gestein enthaltenen Mineralien, die seit der Entstehung der Erde vorhanden sind. Diese Energie in Form von festen Materialien ist in ihrer Menge begrenzt.

Dazu kommen Meteoriten, die in der Größenordnung von Staubkörnchen bis Asteroiden in die Atmosphäre eindringen, doch dabei handelt es sich nach Schätzung von Wissenschaftlern nur um rund 44 Tonnen pro Tag – in kosmischen Maßstäben gemessen nicht viel.30 Im Universum gibt es drei Arten von Systemen: offene Systeme, die Energie und in Form von Materie gebundene Energie mit der Außenwelt austauschen; geschlossene Systeme, die Energie, aber keine Materie mit der Außenwelt austauschen; und isolierte Systeme, die weder Energie noch Materie mit der Außenwelt austauschen. Die Erde ist im Verhältnis zum Sonnensystem ein geschlossenes System. Wir kommen in den Genuss der stetigen Energiezufuhr durch die Sonne, tauschen aber nur wenig Materie mit der Außenwelt aus. Nehmen wir als Beispiel die fossilen Brennstoffe.

Kohle, Erdöl und Erdgas, die heute tief unter der Erde und dem Meeresboden vorkommen, sind die toten Überreste von Tieren und Pflanzen, die vor 350 Millionen Jahren während des Erdzeitalters Karbon lebten – sie sind gebundene Energie. Zwar wäre es theoretisch möglich, dass auch die Überreste anderer Erdzeitalter mit ähnlicher Flora und Fauna in einer fernen Zukunft zu Kohle, Erdöl und Erdgas werden, doch es ist unwahrscheinlich. Das Gleiche gilt für seltene Erden, die in einer Vielzahl von Produkten wie LED-Bildschirmen, Handys, Tablets, Akkus und Elektroautos verwendet und in einer zunehmend technisierten Gesellschaft immer wertvoller werden. Dazu müssen wir verstehen, was mit gebundener Energie gemeint ist. In einem Artikel in der New York Times schrieb der Physiker Brian Greene dazu:

Materie und Energie unterscheiden sich nicht. Es handelt sich um denselben Grundstoff, nur in anderer Form. So wie festes Eis in flüssiges Wasser übergehen kann, ist, wie Einstein zeigte, Materie eine gefrorene Form der Energie, die sich in die vertrautere Form der Bewegungsenergie überführen lässt. In einer weit entfernten Zukunft wird sich alle Materie wieder in Energie zurückverwandelt haben.31

Die verhängnisvolle Schwäche der traditionellen Wirtschaftswissenschaften ist, dass sie in der Newton’schen Sicht der Dinge verhaftet sind, die keinen Zeitpfeil kennt. Indem sie den wirtschaftlichen Austausch von Waren, Dienstleistungen und Eigentum in ein zeitloses Vakuum einkapseln, können Wirtschaftswissenschaftler und Unternehmer ganz einfach über den Einfluss des Faktors Zeit hinwegsehen, der zum Beispiel bei der Ausbeutung von Bodenschätzen wirkt oder bei all den anderen Interaktionen zur Umwandlung von Rohstoffen in Waren und Dienstleistungen. In jeder Phase dieses Prozesses entstehen äußere Effekte, die in der Markttransaktion gar nicht berücksichtigt werden.

Erst seit den 1920er Jahren machen sich Wirtschaftswissenschaftler Gedanken über diese externen Effekte. Henry Sidgwick und Arthur C. Pigou formalisierten diese nicht einkalkulierten Auswirkungen und sprachen von »positiven und negativen externen Effekten«.32 Unter externen Effekten verstanden sie unkompensierte Folgen von Marktentscheidungen, die an anderer Stelle größere Erträge oder Kosten verursachten, aber nicht in die Kosten-Nutzen-Analyse einbezogen wurden. Das hindert Wirtschaftswissenschaftler nicht daran, so zu tun, als seien externe Effekte lediglich eine Fußnote des Marktgeschehens. Wenn wir uns die gesamten wirtschaftlichen Aktivitäten entlang der Reise eines Produkts oder einer Dienstleistung ansehen, dann wird allerdings deutlich, dass die Wirtschaftswissenschaften nicht in der Lage sind, mit ihrem Instrumentarium die realen langfristigen Kosten von kurzfristigen Gewinnen zu ermitteln.

Aber was sollte denn so schlimm daran sein, dass die Wirtschaftswissenschaften nach wie vor von Newtons Bewegungsgesetzen bestimmt werden? Die Beseitigung des Faktors Zeit aus der Kalkulation ermöglichte zwar die Entwicklung von immer undurchsichtigeren mathematischen Modellen, doch welchen Schaden sollte das schon anrichten? Als die Gesetze der Thermodynamik formuliert wurden, gingen viele davon aus, dass sie lediglich für Chemiker und Physiker interessant seien, da sie nur etwas über Energie und Entropie aussagten und wenig zur biologischen Erklärung des Lebens auf der Erde beizutragen hätten. Man war sich einig, dass diese Gesetze nur dann zur Anwendung kämen, wenn Energie zum Antrieb von Maschinen aufgewendet würde, und dass Ingenieure mit ihrer Hilfe das Verhältnis von zugeführter zu Nutzenergie ermitteln und damit den Wirkungsgrad einer Maschine optimieren könnten – mehr nicht.

Man war sich also einig, dass diese Gesetze keineswegs die allgemeine Gültigkeit besaßen, die Physiker für sie beanspruchten. Das Leben dürfe nicht in die Netze der Entropie verstrickt werden, meinte man. Schließlich zeichnete die Evolutionstheorie das Bild einer vor immer neuen, komplexen und geordneten Lebensformen überbordenden Welt.

Diese Einigkeit fegte der österreichische Physiker und Nobelpreisträger Erwin Schrödinger 1944 beiseite, als er erklärte, dass die Biologie der Thermodynamik genauso unterliege wie die Physik und Chemie. Schrödinger erklärte: »Das, wovon ein Organismus sich ernährt, ist negative Entropie. Oder, um es etwas weniger paradox auszudrücken, das Wesentliche am Stoffwechsel ist, dass es dem Organismus gelingt, sich von der Entropie zu befreien, die er, solange er lebt, erzeugen muss.«33 Jedes Lebewesen nimmt fortwährend vorhandene Energie auf, und damit entzieht es der Erde Energie und vergrößert die Entropiezeche. Wenn wir keine Energie aufnehmen würden, müssten wir sterben, und was übrig bliebe, würde zu Staub – die letzte Entropiezeche. Erst wenn ein Lebewesen seinen letzten Atemzug getan hat, geht es in den Gleichgewichtszustand über. Nur selten machen wir uns Gedanken darüber, welche Menge von Gaben der Erde nötig sind, um diesen Gleichgewichtszustand des Todes fernzuhalten. Der Chemiker G. Tyler Miller zeichnet eine stark vereinfachte Nahrungskette, um zu demonstrieren, wie viel der verfügbaren Energie der Erde durch jeden unserer Körper fließen muss, um diesen Nicht-Gleichgewichtszustand zu erhalten. Seine Nahrungskette besteht aus Grashüpfern, die Gras fressen, Fröschen, die Grashüpfer fressen, Forellen, die Frösche fressen und Menschen, die Forellen essen. Und so sieht sie aus:

Um zu überleben, verzehrt ein Mensch im Jahr 300 Forellen. Diese Forellen fressen im Jahr 90 000 Frösche, die 27 Millionen Grashüpfer vertilgen, die sich von 1 000 Tonnen Gras ernähren.34

Warum wird umso mehr vom Reichtum der Natur benötigt, je weiter man in der Nahrungskette fortschreitet? Das liegt unter anderem daran, dass bei der Jagd – wenn zum Beispiel ein Löwe eine Antilope jagt, tötet und verzehrt – »80 bis 90 Prozent der Energie verschwendet und in Form von Wärme an die Umgebung abgegeben werden. Das heißt, nur 10 bis 20 Prozent der Energie werden im Gewebe gespeichert und können an die nächste Station in der Nahrungskette weitergegeben werden«.35 Der Kulturhistoriker Elias Canetti brachte diese düstere Vision unseres Überlebens auf den Punkt, als er den Menschen als »König auf unermesslichen Leichenfeldern von Tieren« beschrieb.36 Die Wirtschaftswissenschaften haben sich einem Paradigma des Gleichgewichts verschrieben. Daher sind sie in keiner Weise in der Lage, mit der Thermodynamik umzugehen, für die Gleichgewicht den Tod bedeutet und die Verwendung verfügbarer Energie zwar kurzfristig Gewinn bringt, aber langfristig mit dem Verlust an Entropie einhergeht, darunter auch die im Produkt beinhaltete Energie selbst. Die Bemühungen der Wirtschaftswissenschaftler, einige naheliegende positive und negative externe Effekte in ihre Kalkulation einzubeziehen, die während des Produktzyklus anfallen könnten, ist ein armseliger Versuch, sich der Tatsache zu stellen, dass jeder wirtschaftliche Austausch einen endlosen entropischen Rattenschwanz nach sich zieht und in allen Richtungen unzählige andere Phänomene berührt.

Das Gesetz der Thermodynamik erinnert uns daran, wie absurd eine Größe wie das Bruttoinlandsprodukt zur alljährlichen Ermittlung des Wohlstands und Wachstums einer Nation ist. Das Bruttoinlandsprodukt misst nur den momentanen Wert der wirtschaftlichen Tätigkeit. Doch der Wert eines Produkts im Moment des Kaufs trägt auch nicht im Entferntesten den Kosten Rechnung, die bei jedem Schritt der Wertschöpfungskette durch den Verbrauch der Energie- und Rohstoffreserven der Erde sowie den entropischen Abfall entstehen.

Anfangs waren die Wirtschaftswissenschaften schon eher auf der richtigen Spur. Die ersten Wirtschaftsphilosophen, die sogenannten Physiokraten, traten Mitte des 18. Jahrhunderts vor allem in Frankreich auf den Plan. Sie waren sich bewusst, dass alle wirtschaftliche Aktivität ihren Wert aus den Schätzen der Natur erhält. Adam Smith, David Ricardo und Thomas Malthus sahen das ähnlich; im Gegensatz zu den Physiokraten glaubten sie zwar nicht, dass aller Wohlstand aus der Natur kommt, doch sie erkannten zumindest die Bedeutung der Natur als Fundament aller wirtschaftlichen Tätigkeit.

Das Gedankengut der Physiokraten fiel den historischen Umständen zum Opfer. Ihre Blüte fiel mit dem Höhepunkt der Agrarrevolution zusammen, dem Vorläufer der modernen industriellen Revolution, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit der Erfindung der Dampfmaschine und der maschinellen Fertigung von Textilien und anderen Produkten ihren Anfang nahm. Als die Landwirtschaft als wichtigster Produktionszweig zurück- und die Fabrikation an erste Stelle trat, richtete sich das Augenmerk auf das Kapital und die Arbeitskraft, die zur Schaffung von Wohlstand gebraucht wurden. Die Natur verkam zum bloßen Rohstofflieferanten. Und da die natürlichen Rohstoffe reichlich vorhanden waren, vor allem in den Weiten der Neuen Welt, war die Natur billig auszubeuten und galt zunehmend nur noch als Produktionsfaktor, nicht als wesentliche Schöpferin von Wohlstand.

James Watt nahm seine ersten beiden mit Kohle betriebenen Dampfmaschinen im Jahr 1776 in Betrieb, demselben Jahr, in dem Adam Smith Der Wohlstand der Nationen veröffentlichte.37 Im Laufe des nächsten Jahrhunderts wurde die Dampfmaschine in Europa und Nordamerika allgegenwärtig. Sie war zwar ein wesentlicher Faktor der Kapitalbildung, doch die Kohle, die zu ihrem Antrieb verwendet wurde, war relativ billig und galt als nahezu vernachlässigbarer Produktionsfaktor. Wie viele seiner Zeitgenossen staunte Adam Smith über die Effizienz, die mit der Erfindung der Dampfmaschine möglich war. Vor allem beeindruckte ihn, dass jede Maschine aus Einzelteilen besteht, die synchron zusammenarbeiten müssen, um die optimale Leistung zu bringen, und er meinte, ein ähnliches Prinzip im Herstellungsprozess zu erkennen, den er als Arbeitsteilung beschrieb. In Der Wohlstand der Nationen beschrieb er, wie eine Stecknadelfabrik die Herstellung einer Nadel in achtzehn Einzelschritte unterteilt, die jeweils von anderen Arbeitern übernommen werden. Das führte zu einer gewaltigen Effizienzsteigerung.

Die Massenproduktion von Gütern war der nächste große Effizienzsprung, der den Industriekapitalismus an die Spitze des Wirtschaftslebens katapultierte. Eli Whitney kam auf den genialen Gedanken, massenhaft identische und austauschbare Teile zu produzieren, die problemlos von unqualifizierten Arbeitskräften zusammengesetzt werden konnten, und verwendete das Verfahren zur Massenproduktion von Musketen. Arbeitsteilung und Massenfertigung wurden zu unentbehrlichen Prozessen der effizienten neuen Industrieproduktion.

Mit dem Aufkommen der industriellen Produktion richteten die Ökonomen das Augenmerk auf die Ausweitung des Kapitalmarkts und die Verbesserung der Arbeitseffizienz, in denen sie die Schlüssel zur Steigerung von Produktivität und Erträgen sahen. Der neue Industriekapitalismus und die Wirtschaftswissenschaftler, die ihn beschrieben, entfernten sich weit von der ursprünglichen Vision der Physiokraten. In ihren Beschreibungen der Steigerung von Effizienz, Produktivität und Erträgen stellten sie die Rolle des Kapitals und der Arbeit in den Mittelpunkt und schenkten den Reichtümern der Natur kaum Beachtung – jedoch mit einer Einschränkung. Diese frühen Wirtschaftstheoretiker erkannten nämlich, dass die unsichtbare Hand etwas außer Acht ließ, das sie als Prinzip des abnehmenden Grenzertrags bezeichneten.

Anne Robert Jacques Turgot, einer der Begründer der klassischen Wirtschaftstheorie, war der erste, der den abnehmenden Grenzertrag beschrieb. Er beobachtete, dass Produzenten unweigerlich irgendwann das optimale Niveau der Kapazitätsausnutzung erreichen und dass ab dieser Schwelle weiterer Aufwand zu immer geringeren Ertragszuwächsen führt. Ein Jahrhundert später, in den 1870er Jahren, stellte mit William Stanley Jevons, Carl Mengers und Léon Walras eine neue Generation neoklassischer Wirtschaftstheoretiker fest, dass auf der Nachfrageseite eine ähnliche Dynamik wirksam wird – damit hatten sie das Prinzip des abnehmenden Grenznutzens entdeckt. Dieses Prinzip besagt, dass der Konsum der ersten Einheit einer bestimmten Ware oder Dienstleistung größeren Nutzen – oder Genuss – bringt als der Konsum der zweiten. Jede weitere Einheit bedeutet immer weniger Nutzen und Genuss. So ist zum Beispiel eine Kundin bereit, eine bestimmte Summe für ein Eis zu bezahlen, weil sie einen bestimmten Genuss bedeutet; für jedes weitere Eis wird sie aber immer weniger bezahlen wollen, da der zusätzliche Genuss immer kleiner wird.

Aus dem Zusammenspiel von abnehmendem Grenzertrag in der Produktion und abnehmendem Grenznutzen beim Verbrauch ergibt sich der Preis einer Ware. Preissteigerungen führen zu einem Rückgang der Nachfrage und einer Steigerung des Ertrags, und Preissenkungen bewirken das Gegenteil. In jedem Fall kommt der passende Austausch zustande und das System kommt wieder ins Gleichgewicht.

Diese neue Betonung des abnehmenden Grenznutzens für die Verbraucher schlug in den Wirtschaftswissenschaften große Wogen. Waren für die klassischen Wirtschaftstheoretiker – Adam Smith, David Ricardo und John Stuart Mill – die Arbeitskosten der entscheidende Aspekt bei der Festlegung des Preises einer Ware, richteten die neoklassischen Wirtschaftswissenschaftler den Blick nun auf den Verbraucher. Damit beruhigte sich die Diskussion um die Frage, welcher Anteil der Produktionserträge den Arbeitern und welcher den Kapitaleignern zustand und man konnte Tauschprozesse behandeln, ohne sich mit Fragen der Gleichheit auseinandersetzen zu müssen – so zumindest die Schlussfolgerung der neoklassischen Wirtschaftstheoretiker.

Das Prinzip des abnehmenden Grenznutzens gab den Neoklassikern auch eine gute Gelegenheit, die Wirtschaftswissenschaften zu mathematisieren und sie als Newtonismus zu einer echten Wissenschaft zu erheben. Zwei von Jevons‹ Zeitgenossen, Francis Ysidro Edgeworth und Philip Henry Wicksteed, entwickelten die erforderlichen mathematischen Formeln in Form von »Indifferenz- und Kontrakurven, Lagrange-Multiplikatoren und Produktionskoeffizienten«, wie sie bis heute in Gebrauch sind.38 Bei aller Begeisterung für die Mathematik hielten die neoklassischen Wirtschaftswissenschaftler hartnäckig an ihrem Glauben an ein mechanisches Universum fest, das aus Kräften und Gegenkräften, Anziehung und Abstoßung bestand und immer im Gleichgewicht blieb. Jevons schrieb:

So wie die Anziehungskraft eines materiellen Körpers nicht nur von seiner Masse abhängt, sondern auch von der Masse und der relativen Position der umgebenden Körper, so ist der Nutzen eine Anziehung zwischen einem wünschenden Wesen und dem Gewünschten.39

Jevons war sich allerdings durchaus bewusst, dass die Theorie des Gleichgewichts von anziehenden und abstoßenden Kräften nichts über einen dynamischen Markt aussagen kann, in dem jeder einzelne Austausch zwischen Käufer und Verkäufer das Umfeld verändert und neue Beziehungen herstellt, und sei die Verschiebung auch noch so gering. Das räumte er selbst im Vorwort zu seiner Theorie der politischen Ökonomie ein, als er schrieb: »In Wahrheit befindet sich der Markt fortwährend in Bewegung und Veränderung«.40 Er bekannte, dass der dynamische und sich unentwegt verändernde Markt nur schwer zu erforschen war und gestand, dass »ich den Austausch nur als rein statistisches Problem behandeln kann«. Noch tiefer lässt die folgende Klage blicken:

Die Wirtschaftstheorie hat große Ähnlichkeit mit der Wissenschaft der statistischen Mechanik, und die Gesetze des wirtschaftlichen Austauschs mit denen der Hebelgesetze … Aber ich bin der Ansicht, dass die dynamischen Aspekte der Wirtschaftswissenschaft, mit denen ich mich hier nicht beschäftige, noch weiterzuentwickeln sind.41

Jevons war klar, dass seine Begeisterung für die Newton’sche Physik und ein mechanisches, im Gleichgewicht befindliches Universum nicht mit der Realität eines sich stets verändernden Marktes in Einklang zu bringen waren und räumte widerwillig ein, dass seine Theorie lediglich »große Ähnlichkeit« mit diesen hatte. Dennoch gab er die Hoffnung nicht auf, mithilfe des statischen und mechanischen Universums einen dynamischen Markt zu erklären, der sich von einem Moment zum nächsten veränderte – ein unmögliches Unterfangen.

Die Wirtschaftswissenschaftler verschlossen die Augen vor der übergreifenden Rolle der Gesetze der Thermodynamik bei der Beschreibung des Universums, der Evolution des Lebens und der Wirtschaft. Unterdessen rückten viele der führenden Physiker, Chemiker und selbst Biologen diese Gesetze in den Mittelpunkt der Geschichte des Lebens.

Albert Einstein war nicht der einzige renommierte Wissenschaftler, der den ersten und zweiten Hauptsatz der Thermodynamik zum Rahmen für die Beschreibung des Universums erklärte. Der Chemienobelpreisträger Frederick Soddy rügte in seinem 1911 erschienenen Buch Matter and Energy die Wirtschaftswissenschaften für ihre Blindheit gegenüber der Thermodynamik und ihr Festhalten an einer Newton’schen Wirtschaftstheorie, weil diese nicht nur der Wirklichkeit der wirtschaftlichen Praxis widersprach, sondern weil sie außerdem einen möglicherweise fatalen Weg darstellte, der die Zivilisation und die Natur in tödliche Gefahr brachte. Er erinnerte die Ökonomen daran, dass es die Gesetze der Thermodynamik seien, »die in letzter Instanz über den Aufstieg und Niedergang politischer Systeme, die Freiheit oder Versklavung von Nationen, die Bewegung von Handel und Industrie, die Ursprünge von Armut und Reichtum sowie das allgemeine Wohl der Menschheit entscheiden«.42

Der russisch-belgische Biochemiker Ilya Prigogine, der für seine Arbeiten über dissipative Strukturen in der Chemie und Biologie, Selbstorganisation und Irreversibilität den Chemienobelpreis erhalten hatte, mahnte Wirtschaftswissenschaftler immer wieder, ihre falsche Begeisterung für Newton aufzugeben. In einem Vortrag, den er 1982 an der Jawaharlal-Nehru-Universität hielt, reflektierte er über seine Erkenntnisse als Wissenschaftler. Er erklärte, in der Chemie gehe es ausschließlich um nicht umkehrbare Prozesse, die den Gesetzen der Thermodynamik gehorchten, genau wie in der Biologie und in der Physik.43 Warum sollte ausgerechnet die Wirtschaft außerhalb von Gesetzen existieren, die für das gesamte Universum gelten? In einem Seitenblick auf die Wirtschaftswissenschaften erklärte Prigogine, das Gesetz der Thermodynamik

führt zu der Erkenntnis, dass die Materie nicht passiv ist, wie vom mechanischen Weltbild behauptet, sondern dass sie mit spontaner Aktivität assoziiert ist. Das ist eine derart umfassende Wende, dass wir von einem neuen Dialog des Menschen mit der Natur sprechen können.44

Er fuhr fort:

Die Vorstellung eines unveränderlichen, dauerhaften Substrats der Materie ist widerlegt … Die Thermodynamik führt zur Vorstellung einer aktiven Materie, die in einem kontinuierlichen Werden begriffen ist. Das unterscheidet sich erheblich von den klassischen Beschreibungen der Physik, die Veränderungen in Form von Kräften oder Feldern versteht. Es ist ein entscheidender Schritt, mit dem wir den von Newton eingeschlagenen Königsweg verlassen  … Ich glaube, dass die Vereinigung von Dynamik und Thermodynamik das Tor zu einer radikal neuen Beschreibung der Entwicklung physikalischer Systeme in der Zeit öffnet … Wir überwinden die Versuchung, Zeit als Illusion zu betrachten. Im Gegenteil, Zeit ist etwas zu Konstruierendes.45

Prigogine kam zu dem Schluss: »Diese theoretischen Konstrukte haben eines gemeinsam: Sie zeigen, dass unsere Manipulation der Natur Grenzen hat.«46 Wirtschaftswissenschaftler sehen das allerdings anders. Sie gehen davon aus, dass das weitgehend freie Spiel der Kräfte im Markt immer neuen Wohlstand generiert, der von Kapitaleignern, Arbeitnehmern und Verbrauchern geteilt wird, wobei dem Einfallsreichtum der Unternehmer keine Grenzen gesetzt sind. Aber was bedeutet es, mit einem Wirtschaftssystem zu leben, das sich der Idee eines zeitlosen Universums verschrieben hat, das von der Ausbeutung der Natur besessen ist, und das unermüdlich nach neuen technischen Möglichkeiten sucht, um natürliche Ressourcen immer effizienter in kurzlebigen Konsumorgien zu verheizen, stets mit Blick auf Kosten-Nutzen-Analysen und Ertragssteigerungen? Um es mit der Thermodynamik zu sagen: Die kurzfristigen Erträge, die im Laufe der zweieinhalb Jahrhunderte währenden Herrschaft des Industriekapitalismus angehäuft wurden, sind winzig und flüchtig im Vergleich zur langfristigen Entropiezeche, deren Auswirkungen und negative externe Effekte noch während kommender Erdzeitalter zu spüren sein werden. Wie also können wir eingedenk dieser Erkenntnis neu verstehen, was Wohlstand wirklich ausmacht?