Wie biologische Uhren und elektromagnetische Felder das Leben takten und gestalten
Es war der Mittag des 28. Februar 1953 im Eagle Pub, der Stammkneipe einiger Professoren und Studenten der Universität Cambridge, als zwei Wissenschaftler zur Tür hereingestürzt kamen: ein 37-jähriger britischer Mediziner namens Francis Crick und ein 25-jähriger amerikanischer Molekularbiologe namens James Watson. Die Besucher erinnerten sich später, dass Crick die unsterblichen Worte rief: »Wir haben das Geheimnis des Lebens gefunden!« Für ihre Entdeckung der Doppelhelixstruktur der Desoxyribonukleinsäure (DNS) sollten die beiden später mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet werden.1 Doch das Geheimnis des Lebens hatten sie womöglich doch noch nicht entdeckt.
Springen wir zurück ins Jahr 1729. Damals wusste man, dass manche Pflanzen tagsüber ihre Blätter öffnen und sie abends wieder einrollen. Der französische Astronom Jean-Jacques d’Ortous de Mairan wollte jedoch herausfinden, ob sie das auch in einem verdunkelten Raum taten. Er stellte eine Mimose in einen Schrank und beobachtete, wie die Pflanze über einen Zeitraum von 24 Stunden ihre Blätter öffnete und wieder schloss, obwohl sie sich in völliger Dunkelheit befand. Daraus schloss er, dass hier eine Kraft am Werk sein musste, die nichts mit dem Licht zu tun hatte und die Aktivität der Pflanze anstieß.
Im Jahr 1832 bestätigte der Schweizer Biologe Augustin Pyramus de Candolle diese Beobachtung, fügte Mairans Erkenntnis jedoch einen aufschlussreichen Aspekt hinzu. Mairans Experiment schloss aus, dass die Mimose ihre Blätter durch den Einfluss des Lichts öffnete und schloss, und Candolle fragte sich, ob die Aktivität mit der Umgebungstemperatur zusammenhängen könnte. Also setzte er die Pflanze konstantem Licht aus und stellte fest, dass die Pflanzen ihre Blätter wiederum alle 22 bis 23 Stunden öffnete und schloss – »wie ein Uhrwerk«. Also kam er zu dem Schluss, dass die Pflanze eine Art innere Uhr haben müsse.2 In den 1960er Jahren erdachte Curt Richter von der Johns Hopkins University grausame Experimente, um den Tag-und-Nacht-Rhythmus von Ratten zu stören. Er steckte sie in Gefriertruhen, misshandelte sie mit Stromstößen, fesselte sie, hielt ihr Herz an und entfernte sogar verschiedene Teile ihres Gehirns. Trotzdem behielten die Tiere ihren 24-Stunden-Rhythmus bei.3 Ueli Schibler, Chronobiologe der Universität zu Genf, beschreibt, wie die biologische Uhr die zeitlichen Muster von Säugetieren überwacht:
Bei den meisten Säugetieren unterliegen physiologische Prozesse täglichen Schwankungen, die vom System der zirkadianen Zeitmessung gesteuert werden. Dieses System besteht aus einem zentralen Schrittmacher im Nucleus suprachiasmaticus (NSC) des Gehirns und abhängigen peripheren Oszillatoren in fast allen Körperzellen. Der NSC, dessen Rhythmus durch tägliche Hell-Dunkel-Zyklen trainiert wird, stellt über eine Vielzahl von neuronalen, humoralen und physischen Outputs beobachtbare behaviorale und physiologische Rhythmen her. Einige der Outputs des NSC haben direkten Einfluss auf das zirkadiane Verhalten, andere dienen als Input zur Synchronisierung zahlloser zirkadianer Oszillatoren in peripheren Zelltypen. Auch tägliche Zyklen der Nahrungsaufnahme sind wichtige Zeitgeber bei der Synchronisierung der Oszillatoren in vielen peripheren Organen.4
Wir wissen inzwischen, dass die DNA die Tag-und-Nacht-Rhythmen der biologischen Uhr programmiert, doch sie ist nicht die einzige Quelle. Im Februar 2011 veröffentlichte die Zeitschrift Nature einen Artikel von John S. O’Neill und Akhilesh B. Reddy vom Labor für Metabolismusforschung der Universität Cambridge, in dem die Wissenschaftler den tageszeitlichen Rhythmus in roten Blutkörperchen nachwiesen. Rote Blutkörperchen verwendeten sie deshalb, weil diese keinen Zellkern und damit auch kein Erbgut haben. Trotzdem beobachteten sie in den Blutkörperchen einen starken Tag-und-Nacht-Rhythmus von etwa 24 Stunden. Das bedeutete, dass der Rhythmus vom Zytoplasma generiert werden musste. Diese und andere Untersuchungen sagen nicht, dass es keine DNA-Uhr gibt, denn diese wurde bei Tieren und Pflanzen nachgewiesen und gründlich erforscht. Sie sagt uns vielmehr, dass die Gene nicht die einzige Quelle für biologische Uhren sind, wie Neo-Darwinisten angenommen hatten.5 Innere Uhren passen sich fortwährend an den Tag-und-Nacht-Rhythmus an – vor allem Zyklen von Licht und Dunkel sowie Temperaturschwankungen. Um seine Gesundheit zu erhalten, muss ein Organismus Veränderungen in der Umwelt vorwegnehmen und auf sie reagieren können. Während der aktiven Phase, besonders während der Nahrungssuche, muss der Körper zu Kampf oder Flucht bereit sein. Die Planung und Durchführung der Verdauung, des Immunsystems und der Erholung passieren während der Ruhe- und Schlafphasen, was eine ganz eigene zeitliche Organisation verlangt. Dazu kommen all die anderen inneren Aktivitäten wie Herzschlag, Hormonspiegel und Ähnliches, die sich dauernd an die tageszeitlichen Veränderungen in der Umwelt anpassen und kontinuierliches Zeitmanagement und Synchronisierung verlangen.
Die Hinweise mehren sich, dass menschliche Krankheiten mit einer Entsynchronisierung der inneren Uhren zusammenhängen. Ein Beispiel ist Kunstlicht. Jahrmillionen lang lebten wir und unsere Mitlebewesen nach dem natürlichen Licht der Sonne und dessen Reflexion durch den Mond. Heute machen wir die Nacht zum künstlichen Tag mit elektrischem Licht, das unseren Schlaf unterbricht und Schichtarbeiter wach hält. Wir leben in dicht besiedelten Städten, die rund um die Uhr erleuchtet sind, und viele von uns haben nie den Sternenhimmel und die mit bloßem Auge erkennbaren Galaxien gesehen.6 Die Tourismusbranche ist daher auf den glorreichen Gedanken gekommen, Touristen zu »Nachtparks« zu fliegen, einigen der wenigen unbesiedelten Fleckchen des Planeten, von denen aus sie das Universum bestaunen können.
Neue Untersuchungen zeigen, dass Kunstlicht unsere biologischen Uhren durcheinanderbringt, weil es die Melatoninproduktion in der Zirbeldrüse unterdrückt. Das wiederum könnte das Risiko von Prostata- und Brustkrebs erhöhen.7 Andere Untersuchungen beobachten, dass Aufmerksamkeitsdefizitstörungen bei Erwachsenen mit Schlafstörungen in Zusammenhang stehen und diese wiederum mit Krankheiten.8 Zahlreiche Studien belegen, dass Schichtarbeiter häufiger an Herzerkrankungen, Diabetes, Infektionen und Krebs leiden.
Nicht weniger beunruhigend ist die Beobachtung, dass eine gestörte innere Uhr schwere psychische Erkrankungen wie Schizophrenie und bipolare Störung verursachen kann.9 Zahlreiche Untersuchungen stellen Verbindungen zwischen einer immer größer werdenden Zahl von Krankheiten und der inneren Uhr im Nucleus suprachiasmaticus des Gehirns her. Der Neurologe Russell Foster sieht in dem engen Zusammenhang zwischen einer Reihe schwerer Erkrankungen und dem Schlafwach-Rhythmus »eine Chance zur Entwicklung evidenzbasierter Behandlungsformen und Eingriffe, die die Gesundheit und Lebensqualität von Millionen von Menschen mit einer großen Bandbreite von Krankheiten verbessern«.10 Bedauerlicherweise findet diese Art von Krankheiten im Medizinstudium bislang kaum Erwähnung.
Wissenschaftler haben außerdem bei verschiedenen Spezies innere Uhren beobachtet, die auf Mondzyklen, Gezeiten und Jahreszeiten abgestimmt sind. So paart sich zum Beispiel der Palolowurm nur während Niedrigfluten im Oktober und November.11 Die Verhaltensforscher Kenneth C. Fisher und Eric T. Pengelley sperrten ein Eichhörnchen in einen fensterlosen Raum bei einer Temperatur in der Nähe des Gefrierpunkts und stellten ihm rund um die Uhr Nahrung und Wasser zur Verfügung. Das Eichhörnchen hielt seine Körpertemperatur auf 37 Grad Celsius und stellte pünktlich im Oktober die Nahrungsaufnahme ein, um mit dem Winterschlaf zu beginnen, so wie es das in der freien Natur getan hätte. Mit Beginn des Frühjahrs nahm es dann seine normale Aktivität wieder auf.12 Unterhalb der Tag-und-Nacht-, Mond-, Gezeiten- und Jahreszeitenrhythmen beobachten Wissenschaftler auch sogenannte ultradiane Rhythmen. Diese Rhythmen wiederholen sich über den Tag hinweg und können unterschiedlich lange Perioden haben – der Herzschlag dauert beispielsweise weniger als eine Sekunde. Heute wissen wir, dass bei Tieren Hunderte (bei Pflanzen sind es weniger) körperliche Abläufe von inneren Uhren gesteuert werden, die in jeder Zelle wirken und in der komplexen Sinfonie zusammenspielen, die wir »Sein« oder besser »Werden« nennen.
Der Mikrobiologe David Lloyd von der Cardiff School of Biosciences in Wales fasst unseren Wissensstand zur grundlegenden Bedeutung der inneren Uhren so zusammen: »Eine korrekte innere Uhr ist fester Bestandteil der koordinierten Steuerung jeder unserer biochemischen, physiologischen und Verhaltensfunktionen sowie unserer Stimmungen und unserer Vitalität.«13
Viele der ultradianen Rhythmen steuern innere Abläufe von Lebewesen. Sie können unterschiedlich lange Perioden haben, von Picosekunden zu Stunden. Einer der bekanntesten Rhythmen ist der 90-Minuten-Zyklus unserer Konzentrationsphasen.14 Schon vor einem halben Jahrhundert beobachtete der Psychologieprofessor Nathaniel Kleitman, dass der Mensch auf konzentrierte Aktivitäten von 90 Minuten Dauer eingestellt ist, danach beginnt eine Ruhephase. Ultradiane Rhythmen strukturieren die täglichen Aktivitäten aller Lebewesen. Sie synchronisieren miteinander vereinbare Abläufe und verhindern, dass nicht miteinander vereinbare Abläufe gleichzeitig aktiviert werden; sie bereiten biologische Systeme darauf vor, auf Reize wie die Kommunikation zwischen Zellen zu reagieren und erhalten die neuronale Integrität und Wachheit; sie stimmen sich mit Tag-und-Nacht-Rhythmen ab.15 Ultradiane Rhythmen koordinieren zum Beispiel den Eisprung und stimmen Reproduktionsaktivitäten auf Veränderungen in der inneren und äußeren Umgebung ab.16 Sie alarmieren einen Organismus bei Gefahr durch einen Fressfeind, indem sie die Körpertemperatur erhöhen und Reaktionsphasen organisieren. Besonders wichtig sind innere Uhren, die Funktionen über den Tag hinweg aufeinander abstimmen. Da jede Zelle und jedes Organ nur begrenzt Raum zur Verfügung hat, ist es umso wichtiger, dass Aktivitäten in der richtigen Reihenfolge ablaufen und jede ihren Platz erhält.17 Maximilian Moser vom Institut für Physiologie an der Medizinischen Universität Graz betont die zentrale Rolle dieser zeitlichen Organisation bei der Aufrechterhaltung der Aktivitätsmuster eines Organismus:
Dank der zeitlichen Taktung können im selben Raum gegensätzliche Ereignisse stattfinden – im Universum unseres Körpers gibt es Polaritäten, die nicht gleichzeitig stattfinden können. Systole und Diastole, Einatmung und Ausatmung, Tätigkeit und Erholung, Wachen und Schlafen, Reduktion und Oxidation … können nicht zur selben Zeit am selben Ort passieren.18
Eine gesunde Zelle bleibt im Takt mit ihren biologischen Uhren und Stoffwechselabläufen, das heißt, sie hält die von den ultradianen und zirkadianen Rhythmen zugewiesenen Zeiten für jede Funktion ein. In der inneren Dynamik jedes Organismus wird also jede Funktion über den Tag hinweg getimed, um das Funktionieren des Organismus als Ganzes zu gewährleisten.
Es mag beunruhigend sein, wie weit wir Menschen uns von den existenziellen Tag-und-Nacht-Rhythmen entfernt haben, doch dem Leben droht eine weit größere Gefahr, sollten wir nicht rechtzeitig etwas unternehmen.
Das Problem ist dies: In jeder Zelle jedes Organismus befinden sich biologische Uhren, die diesem Organismus das Überleben ermöglichen, indem sie ihm gestatten, die kommenden jahreszeitlichen Veränderungen vorwegzunehmen und die richtige Reaktion darauf vorzubereiten. Man spricht von Photoperiodismus, also der Verwendung des vorhandenen Tageslichts beziehungsweise der Tageslänge als Hinweis auf jahreszeitliche Ereignisse, zum Beispiel Wanderung, Nahrungssuche, Jagd, Fortpflanzung oder Winterschlaf. Wenn sich ein Tier zur falschen Zeit am falschen Ort befindet, fällt es leicht einem Fressfeind zum Opfer. Oder wenn es zu früh oder zu spät in einem neuen Lebensraum eintrifft, könnte es Gelegenheiten zur Nahrungssuche und Jagd oder den optimalen Zeitpunkt der Fortpflanzung, der Wanderung oder des Winterschlafs verpassen und damit seine Überlebenschancen beeinträchtigen. All diese Aktivitäten müssen zum richtigen Zeitpunkt stattfinden, und wird dieser versäumt, werden Spielräume für nachfolgende Aktivitäten, etwa zum Anlegen von Speck für den Winterschlaf oder zur Mauser vor dem Aufbruch eines Vogelschwarms kleiner. Das Problem ist, dass die Sphären der Erde inmitten das Klimawandels dramatisch verwildern und die inneren Uhren stören, mit denen sich die unterschiedlichen Spezies auf die jahreszeitlichen Veränderungen einstellen.
So wie der Nucleus suprachiasmaticus den Tagesrhythmus und damit den 24-stündigen Schlaf-und-wach-Rhythmus eines Organismus steuert, reguliert er über ein Signal der Tageslänge auch die Reaktion auf jahreszeitliche Veränderungen.
Dieses Signal wird durch die Dauer der nächtlichen Melatoninausschüttung kodiert, die im Winter länger und im Sommer kürzer ist. Hirnregionen, die auf das Melatoninsignal reagieren, bewirken Veränderungen in Verhalten und Physiologie, die auf die durch die Länge des Signals angezeigte Jahreszeit programmiert sind, wie der Psychiater Thomas A. Wehr, Emeritus des U. S. National Institute of Mental Health, erklärt.19 Viele Menschen erleben mit dem Wechsel der Jahreszeiten körperliche und emotionale Veränderungen, zum Beispiel die saisonal-affektive Störung, im Volksmund auch Winterdepression genannt. Diese Störungen sind nicht etwa eingebildet, sondern körperliche Reaktionen auf das fehlende Tageslicht. Wehr hält fest: »Fast alle Aspekte der anatomischen und molekularen Grundlagen von photoperiodischen jahreszeitlichen Reaktionen, die bei Affen und anderen Säugetieren beobachtet wurde, kommen auch beim Menschen vor.«20
Experten vermuten, dass unsere Reaktion auf jahreszeitliche Veränderungen seit Beginn des Industriezeitalters abgeschwächt wurde, da die Menschheit in immer künstlicheren Umgebungen lebt. Klimaforscher, Biologen und Ökologen befürchten nun, dass sich die relativ stabilen jahreszeitlichen Muster, die das gemäßigte Erdklima des Holozäns seit 11 700 Jahren auszeichnen, durch die globale Erwärmung dramatisch verändern könnten. Mit dem Chaos, das die durch den Klimawandel bewirkten Veränderungen des Wasserkreislaufs mit ihren unberechenbaren Wetterereignissen in regionalen Ökosystemen anrichten, verändert sich auch der ererbte Photoperiodismus in unberechenbarer Weise und gefährdet das Überleben sämtlicher Spezies.
Mit anderen Worten sind wir Menschen, genau wie alle anderen Spezies, mit einer Vielfalt von biologischen Uhren ausgestattet, die jede Zelle und jedes Organ auf die tages- und jahreszeitlichen Rhythmen unseres Planeten und seiner Drehung um sich selbst und die Sonne einstellt. Ultradiane Uhren koordinieren die täglichen inneren Abläufe, die einem Organismus das Überleben ermöglichen, andere biologische Uhren messen die Tageslänge und gestatten ihm, sich auf die jahreszeitlichen Veränderungen einzustellen. Diese biologischen Uhren sind der Beleg, dass wir und unsere Mitlebewesen zeitliche Muster sind und uns fortwährend mit den Rhythmen, Strömen und Kräften eines dynamischen und lebendigen Planeten verändern.
Der Anruf vom Nobelpreiskomitee kam an einem Oktobermorgen um 5:10 Uhr. Das Klingeln zu so früher Stunde ließ Michael Rosbash, Professor für Biologie an der Brandeis University, das Schlimmste befürchten. Als er den Hörer abnahm und hörte, dass er zusammen mit seinem Kollegen Jeffrey Hall von der Brandeis University und dem Genetiker Michael Young von der Rockefeller University den Medizinnobelpreis bekommen sollte, glaubte er zunächst, es handele sich um einen schlechten Scherz.21 Die Entdeckung der DNA-Struktur war ein Meilenstein in der Geschichte der Naturwissenschaften, doch die Leistung dieser drei Biologen war es nicht weniger. Ein Geheimnis stellte Biologen seit drei Jahrhunderten vor große Rätsel, seit Jean-Jacques d’Ortous de Mairan beobachtet hatte, wie eine Mimose selbst in einem verdunkelten Raum ihre Blätter im 24-Stunden-Rhythmus öffnete und schloss.
Dann beobachteten der amerikanische Neurowissenschaftler Seymour Benzer und sein Doktorand Ronald Konopka durch Zufall, dass bei einigen mutierten Fruchtfliegen offenbar die innere Uhr defekt war, und diesen Defekt konnten sie auf ein bestimmtes Gen zurückverfolgen, das sie als »Periodengen« bezeichneten.22 Im Jahr 1984 begannen Hall und Rosbash mit der Erforschung dieses Gens. Besonders interessierten sie sich für das Protein PER, das der Körper mithilfe dieses Gens herstellt. Dabei beobachteten sie, dass dieses Protein nachts in der Zelle auf- und tagsüber wieder abgebaut wird. Wie ein Uhrwerk nahm das Protein im 24-Stunden-Rhythmus zu und ab. Damit hatten sie die erste biologische Uhr entdeckt, und weitere sollten folgen. Im Jahr 1994 entdeckte Michael Young eine zweite biologische Uhr namens TIM. Wenn TIM-Proteine in einer Zelle auf PER-Proteine treffen, dann verbinden sie sich, gehen in den Zellkern ein und schalten das Periodengen ab. Seit Ende der 1990er Jahre bis heute haben Wissenschaftler immer neue biologische Uhren aufgespürt.
In seiner Würdigung erklärte das Nobelpreiskomitee: »Mit feiner Präzision passen unsere inneren Uhren unseren Körper an die sehr unterschiedlichen Phasen des Tages an … und regulieren wesentliche Funktionen wie Verhalten, Hormonspiegel, Schlaf, Körpertemperatur und Stoffwechsel.«23 Wie zu erwarten unterstrich das Komitee die praktischen Auswirkungen, welche die Entdeckung der biologischen Uhren für die Medizin habe. Unerwähnt blieb jedoch die grundlegendere Bedeutung der Entdeckung, dass jedes Lebewesen ein dissipatives Muster aus Atomen, Molekülen, Zellen und Organen ist, die in einem beständigen Kommen und Gehen begriffen sind, und dass dieses Muster von einer Vielzahl eng aufeinander abgestimmter biologischer Uhren aufrechterhalten wird, die wir gerade erst verstehen lernen. Im Biologieunterricht der Zukunft wird vermutlich der zeitlichen Natur des Lebens dieselbe Bedeutung beigemessen werden wie der Bauanleitung der Gene. Wenn Kinder lernen, dass das Leben aus zeitlichen Mustern besteht, die engstens mit den Sphären unseres Planeten, der täglichen Erdrotation, den Jahreszeiten und der Drehung der Erde um die Sonne zusammenhängen, dann nehmen sie die tröstliche Erkenntnis mit, dass die Menschheit weder autonom noch allein ist, sondern ein Muster unter Mustern, die in wechselseitiger Abhängigkeit miteinander harmonieren und auf einer unteilbaren Erde leben.
Die biologischen Uhren takten die inneren Aktivitäten jedes Lebewesens und seine Beziehung zum Rhythmus der Tage, Jahreszeiten und Jahre. Doch es gibt eine weitere Kraft, die wir erst allmählich verstehen, und die eine wesentliche Rolle bei der Herstellung der räumlichen und zeitlichen Muster jeder Spezies spielt: die elektromagnetischen Felder.
Rütger Wever war ein unbekannter Physiker am Max-Planck-Institut in München. Dort richtete er 1964 in einem unterirdischen Bunker zwei Versuchsräume ein, die von sämtlichen Umwelteinwirkungen – Sonne, Wind, Regen, Geräuschen – abgeschirmt waren. In den Räumen gab es elektrischen Strom und fließendes Wasser, und sie waren so ausgestattet, dass seine Versuchspersonen es dort zwei Monate lang gut aushalten konnten. Einer der beiden Räume war zusätzlich mit einem elektrischen Feld ausgestattet, das die Einflüsse des Erdmagnetfeldes zu 99 Prozent abschirmte.24 Die Versuchspersonen wurden rund um die Uhr beobachtet und ihre physiologischen Rhythmen – Körpertemperatur, Schlaf-und-wach-Zyklus, Urinieren, Stuhlgang, und so weiter – aufgezeichnet. Zwischen 1964 und 1989 beobachtete Wever in über 450 Experimenten Freiwillige unter allen erdenklichen Bedingungen und fasste seine Ergebnisse schließlich 1992 in einer Veröffentlichung zu den Grundprinzipien der menschlichen Tagesrhythmen zusammen.25 In dem nicht elektromagnetisch abgeschirmten Raum, in dem das Magnetfeld der Erde wirkte, verschoben sich die Schlaf-und-wach-Zyklen der Versuchspersonen nur geringfügig und hatten durchschnittlich eine Dauer von 24,6 Stunden. Die vom Erdmagnetfeld abgeschirmten Versuchspersonen verloren dagegen nicht nur ihren 24-stündigen Schlaf-und-wach-Zyklus, sondern auch den Rhythmus einiger ihrer Stoffwechselfunktionen.
In einigen seiner Experimente ersetzte Wever das Erdmagnetfeld durch künstliche elektromagnetische Felder. Dann passierte es. Als er in seinem abgeschirmten Raum ein schwaches Feld von 10 Hertz aufbaute, stellte sich der tageszeitliche Rhythmus der Versuchspersonen augenblicklich wieder her. Damit war zum ersten Mal bewiesen, dass das Erdmagnetfeld an der Regulierung der inneren Uhren des Menschen beteiligt sind.26 Der schottische Physiker James Clerk Maxwell war der erste, der eine Theorie über die Erdmagnetfelder aufstellte. Diese Theorie ist die Grundlage der modernen Physik des 20. Jahrhunderts und skizzierte eine neue Erklärung der Natur der Existenz, die als neues wissenschaftliches und philosophisches Paradigma an die Stelle der Newton’schen Physik treten sollte. In den 1860er Jahren veröffentlichte er seine beiden einflussreichsten Artikel, in denen er seine Vermutungen zum »elektromagnetischen Feld« der Erde formulierte. Mit einer Reihe von Gleichungen konnte er zeigen, dass die Geschwindigkeit der Magnetfelder etwa der Lichtgeschwindigkeit entsprach. Daraus zog er den Schluss,
dass Licht aus den transversalen Schwingungen desselben Mediums besteht, die die Ursachen der elektrischen und magnetischen Erscheinungen sind … Die Übereinstimmung der Ergebnisse legt nahe, dass Licht und Magnetismus von ein und derselben Substanz verursacht sind und dass sich Licht als eine elektromagnetische Störung durch das Feld entsprechend der elektromagnetischen Gesetze bewegt.27
Sein Hauptwerk, das Lehrbuch der Electricität und des Magnetismus, erschien 1873 und bereitete den Boden für Albert Einsteins Spezielle Relativitätstheorie Anfang des 20. Jahrhundert.
Elektromagnetische Felder sind wesentlich für das Universum und das Leben auf der Erde. Der Erdkern besteht aus geschmolzenem Nickel und Eisen und ist nichts anderes als ein gewaltiger Elektromagnet. Das Magnetfeld entsteht durch ein Zusammenspiel der Erdrotation und der elektrischen Ströme im geschmolzenen Kern, die das Erdinnere zu einem Geodynamo machen, und reicht über die Erdkruste hinaus in die Atmosphäre.28 Der in den Raum reichende Teil des Erdmagnetfelds wird als Magnetosphäre bezeichnet. Diese schützt die Erde vor Sonnen- und kosmischer Strahlung und verhindert, dass die lebenswichtige Erdatmosphäre von Sonnenwinden verweht wird.29 Maxwells Theorie der elektromagnetischen Felder veränderte das gesamte physikalische Denken und beeinflusste alles, was seither in der Physik geschah. Es waren jedoch die weitergehenden kosmologischen Implikationen, die Alfred North Whitehead Anfang des 20. Jahrhunderts beschäftigten. Wie wir in Kapitel 7 gesehen haben, missfiel Whitehead die Newton’sche Vorstellung, dass die Natur aus diskreten Einzeldingen im zeitlosen Raum bestehen sollte, und fand in Maxwell und seiner Theorie der elektromagnetischen Felder einen Gleichgesinnten. Whitehead erkannte, dass die Theorie des Elektromagnetismus »die Vorstellung hinter sich lässt, dass in der Raumzeit der Ort eines Objekts primär ist«; sie lasse stattdessen den Schluss zu, »dass in gewissem Sinne alles immer überall ist«.30 Das schrieb er 1925 in seinem Buch Wissenschaft und moderne Welt. Bis 1934 reifte sein Denken zur ontologischen Bedeutung von Maxwells Theorie der elektromagnetischen Felder zu einem philosophischen Gedankengebäude heran, das heute unser Verständnis des Lebens als zeitabhängiges Muster prägt. In seinem Buch Nature and Life stellte er Überlegungen an, was die elektromagnetischen Felder für das Verständnis des Daseins bedeuteten. Der Elektromagnetismus sage uns:
Die Grundkonzepte sind Aktivität und Prozess … Die Vorstellung eines diskreten Ortes kommt in der modernen Physik nicht vor. Es gibt keine in sich abgeschlossenen Aktivitäten an in sich abgeschlossenen Orten … Die Natur ist die Bühne der Wechselbeziehungen von Aktivitäten. Alles ist in steter Veränderung begriffen … Die moderne Physik hat die Vorstellung des Nebeneinanders von Formen im Raum (nur äußerlich aufeinander bezogener Einzeldinge) durch die Vorstellung von Prozessformen ersetzt. Sie hat Raum und Materie hinweggefegt und durch die Erforschung innerer Beziehungen innerhalb eines komplexen Aktivitätszustandes ersetzt.31
Whitehead war überzeugt, dass in der Natur alles mit allem zusammenhängt, und sprach vom »Miteinander der Dinge«. In seiner Welt war »jedes Geschehen ein Faktor in jedem anderen Geschehen«.32 Whitehead war etwas auf der Spur, doch es gelang ihm nicht, die kalte Physik der elektromagnetischen Felder in die warme Welt der Biologie und des Lebens zu übersetzen, womit seine Mutmaßungen über die Bedeutung des Lebens in der Schwebe blieben. Während Whitehead über elektromagnetische Felder sinnierte, machte sich ein russischer Wissenschaftler namens Alexander Gurwitsch Gedanken über die Natur der Morphogenese, einen biologischer Prozess zur »Gestaltung eines Organismus durch embryologische Prozesse der Differenzierung von Zellen, Geweben und Organen«.33 Gurwitsch formulierte seine Vorstellung eines biologischen Feldes erstmals 1922, doch die Ausarbeitung seiner Theorie sollte noch bis in die 1940er Jahre dauern. Er schrieb:
Eine Zelle schafft ein Feld um sich, das heißt, das Feld dehnt sich jenseits der Zelle in den extrazellulären Raum aus … Daher existiert in einer Gruppe von Zellen ein einziges Feld, das sich aus den einzelnen Zellfeldern zusammensetzt … Das Feld nutzt die Energie, die in exothermen chemischen Reaktionen lebender Systeme frei wird, um Molekülen (Proteinen, Peptiden und so weiter) eine geordnete und gerichtete Bewegung zu verleihen … Der Ursprung eines Zellfelds fällt mit dem Zentrum des Zellkerns zusammen; daher ist das Feld im Allgemeinen radial.34
Gurwitschs biologische Feldtheorie hält an der herkömmlichen Vorstellung fest, dass das Feld an materielle Komponenten gebunden ist, und dass während der Embryonalentwicklung jede Phase aus einer vorhergehenden, weniger komplexen hervorgeht, die vom Zentrum des Zellkerns nach außen gerichtet ist. Es gab mit anderen Worten kein separates und vom Embryo unabhängiges Kräftefeld, das bei der Ausgestaltung der endgültigen Form des Embryos wirkte. Gurwitschs Theorie war noch der traditionellen Vorstellung des sich entwickelnden Embryos als einer Ansammlung von Einzelteilen verhaftet, die sich zu einem funktionierenden Ganzen verbinden – eine klassische Maschinenmetapher mit einer Prise Feldtheorie.
Andere Biologen gingen bei der Übertragung der physikalischen Feldtheorie auf die Biologie weiter. Der Österreicher Paul Weiss, seines Zeichens Biologe, Physiker und Medizintechniker, brachte das Verständnis der Theorie der elektromagnetischen Felder mit, das nötig war, um den nächsten Schritt auf dem Weg zu einer umfassenden Theorie der biologischen Felder zu gehen. Nach jahrelanger Erforschung der Biologie und der Evolution der Arten kam er zu dem Schluss, dass »die Struktur der Dynamik eines System als Ganzes … die Aktivitäten seiner Bestandteile [koordiniert]«, das heißt, der Organismus setzt sich nicht aus separaten Einzelteilen zusammen, wie es die orthodoxe Sicht mit ihrer klassischen Maschinenmetapher vorsieht.35
Weiss führte seine Argumentation am Beispiel des Gesichts aus. Wie soll das Gesicht von all den vielen kleinen Genen zusammengesetzt werden?, fragte er. Also betrachtete er das Gesicht stattdessen als unsichtbares Muster, das die Teile koordiniert. So wie Eisenspäne durch die unsichtbare und nicht materielle Kraft des Magneten in einer Richtung angeordnet werden, werden die Zellen durch eine unsichtbare Kraft an die richtige Stelle im Gesicht geführt. In seinem Buch The Science of Life (1973) beschrieb er Experimente, in denen Wissenschaftler an einem sich entwickelnden Embryo die Knospen von Gliedmaßen von ihrer ursprünglichen an eine andere Stelle transplantieren. Ob aus dieser Knospe ein linkes oder ein rechtes Glied wurde, hing dabei »im Wesentlichen von der Position relativ zur Hauptachse des Körpers oder besser von den Achsenmustern der unmittelbaren Umgebung« ab.36 Ähnlich kann aus dem abgetrennten Fühler einer Gottesanbeterin entweder ein Fühler oder ein Bein werden, je nachdem, an welche Stelle des Organismus es verpflanzt wird. »Welche von beiden Alternativen sich einstellt, hängt vom weiteren Umfeld der Zellgruppe ab«, so Weiss.37 Noch immer war unbeantwortet, worum es sich bei diesem biologischen Feld handelt und ob sich damit die größte aller Fragen nach der Entstehung eines Organismus beantworten lässt. Eine erste Antwort kam aus der jahrzehntelangen Forschung von Harold Saxton Burr, der von 1914 bis 1958 an der Yale University Anatomie lehrte. Burr untersuchte die Beziehung zwischen der Entwicklung von Organismen und elektromagnetischen Feldern und veröffentlichte seine Erkenntnisse 1972 in seinem Buch Blueprint for Immortality. Er war der Erste, der die Theorie des elektromagnetischen Feldes auf die Evolution des Lebens übertrug. Er schrieb:
Das Muster oder der Aufbau jedes biologischen Systems wird von einem komplexen elektrodynamischen Feld bestimmt … Dieses Feld ist elektrisch im physikalischen Sinne, und durch seine Eigenschaften verbindet es die Bestandteile eines biologischen Systems zu einem charakteristischen Muster.38
Anders als in den rein theoretischen Spekulationen über biologische Felder konnte Burr seine Behauptungen durch seine jahrzehntelange Forschungsarbeit belegen. Zum Beispiel erforschte er in Zusammenarbeit mit einem landwirtschaftlichen Forschungsinstitut in Connecticut die elektrischen Muster von sieben Maissorten – vier preisgekrönten Züchtungen und drei Kreuzungen. Dabei beobachtete er »einen direkten Zusammenhang zwischen der elektrometrischen Aktivität der Samen und ihrem Wachstumspotenzial«. Diese Experimente sowie andere mit Bäumen und anderen Organismen brachten ihn »zu dem notwendigen Schluss, dass eine enge Beziehung zwischen der genetischen Konstitution und dem elektrischen Muster besteht«.39 Die uralte Frage, was einen konkreten Organismus oder eine Spezies ausmacht, beantwortete Burr so: »Die Chemie liefert die Energie, doch die elektrischen Phänomene des elektrodynamischen Felds entscheiden über die Richtung, in der diese Energie in einem Organismus fließt.«40 Weiss und Burr legten eine Revision der Darwin’schen Theorie nahe, um auch die Gene und die elektrodynamischen Felder eines Organismus einbeziehen zu können. In den folgenden Jahrzehnten wurden Labor- und Feldversuche durchgeführt, um einige der noch offenen Fragen zur Dynamik des Lebens zu beantworten. Neue Generationen von Biologen und Physiologen haben begonnen, eine neue Synthese aus Physik, Chemie und Biologie zu erarbeiten, und verheißen einen historischen Paradigmenwechsel in unserem Verständnis des Lebens und unserer Beziehung zu der pulsierenden, lebendigen und sich ständig verändernden Erde.
Die klassischen Biologen reagierten überwiegend ablehnend. Sie halten an der neodarwinistischen Theorie fest und meiden Quereinsteiger, die behaupten, dass Physik und vor allem endogene und exogene elektromagnetische Felder an der Entstehung der Organisationsmuster von Zellen, Organe, Gewebe und ganzen Körpern beteiligt sein könnten. Wenn sie anerkennen würden, welche Rolle bio-elektromagnetische Felder bei der Entwicklung eines Organismus spielen, dann würde dies bedeuten, dass die Gene zwar die »Bauanleitung« für Zellen, Organe, Gewebe und Körper sind, aber dass die endogenen und exogenen elektromagnetischen Felder unverzichtbare Akteure sind und die Muster dirigieren, die vorgeben, wie Körperteile und der gesamte Organismus zusammengesetzt werden.
Die anfängliche Reserviertheit gegenüber der radikal neuen Vorstellung von der Rolle der elektromagnetischen Felder in der Evolution und der Programmierung des Lebens wurde zu Beginn des 21. Jahrhunderts aufgegeben. Grund sind die kommerziellen Möglichkeiten neuer elektromagnetischer Diagnoseinstrumente und Behandlungsformen, die gewaltige Fortschritte in der Medizin verheißen und die althergebrachte Annahme infrage stellen, dass der medizinische Fortschritt vor allem von Durchbrüchen auf dem Gebiet der Gentechnik ausgeht. In den vergangenen beiden Jahrzehnten wurden immer neue Einsatzmöglichkeiten für nicht-ionisierende elektromagnetische Felder (EMF) gefunden. Hier eine Auswahl der Anwendungen, die zur Zeit erprobt oder bereits verwendet werden:
Magnetresonanztomografie; Krebsbehandlung; Tumorbehandlung; Hochfrequenz-Wärmetherapie zur Behandlung von Muskelschmerzen; Stimulation des Nervus vagus bei der Behandlung von Epilepsie; gepulste elektromagnetische Felder zur Behandlung von Knochenbrüchen; Elektroporation zur Verbesserung der Durchlässigkeit von Zellmembranen bei der Gabe von Medikamenten oder Genen in Tumorzellen; Behandlung von Störungen des Nervensystems; Elektroschockbehandlung; Behandlung neurologischer Störungen unter anderem durch tiefe Hirnstimulation; Behandlung der Parkinson-Krankheit und anderer Formen von Tremor; Behandlung von chronischen Schmerzen; Behandlung von therapieresistenter Depression; Behandlung von Nervenregeneration, Migräne und neurodegenerativen Erkrankungen; Behandlung von Gelenkverschleiß; Wundheilung; Modulation des Immunsystems; Behandlung von kanzerogenen und anderen Hauterkrankungen.41
Wie nah sind wir einem grundlegenden Neuverständnis der Evolution des Lebens auf der Erde? Im zurückliegenden Jahrzehnt hat uns eine Reihe Experimente einem neuen Verständnis lebender Systeme nähergebracht. Wenn die Entdeckung der Doppelhelixstruktur der DNS und die Entschlüsselung des »genetischen Codes« durch Watson und Crick den Anbruch des Genzeitalters markierte, dann nähert sich heute eine neue Generation von Biologen, die oft in Physik und Künstlicher Intelligenz geschult sind, der Entschlüsselung des »bioelektrischen Codes«. Damit sind die elektromagnetischen Felder gemeint, die sämtliche Lebewesen durchdringen und bei der Gestaltung der Formen und Muster jeder Zelle und jedes Organs, Gewebes und Organismus eine Rolle spielen könnten. Eine wachsende Zahl von Experimenten lässt vermuten, dass die elektromagnetischen Felder die »Pioniere« sind, die Muster und Formen jedes Organismus bestimmen.
Der Biologe Dr. Daniel Fels bietet eine knappe Beschreibung, wie bioelektrische Felder in Organismen funktionieren:
Elektromagnetische Felder (EMF) spielen eine wesentliche Rolle in der Zelldynamik … Zellinterne EMF schwingen nicht nur in den Zellen, sondern auch im Gewebe … und führen zu Musterbildung … Wenn zum Beispiel eine Sperma- auf eine Eizelle trifft, kommt es erst nach einem sogenannten Zinkfunken zur Befruchtung. Erst nach einer starken Spannungsveränderung in der Membran, die mit dem Zinkfunken einhergeht, beginnt die erfolgreiche Entwicklung des Embryos. Der Beginn des Lebensprozesses ist abhängig von der Membranspannung, und diese Abhängigkeit setzt sich in der Entwicklung mehrzelliger Organismen fort. Sie wird als Trigger bei der Genaktivierung und der epigenetischen Steuerung beobachtet, ebenso bei der Regenerierung oder Stammzellendifferenzierung. Auch außerhalb des Organismus liegende elektromagnetische Felder haben messbare Auswirkungen auf das Leben und gehören daher zur Umwelt von Zellen und Organismen.42
Zahlreiche wissenschaftliche Entdeckungen der letzten Jahre haben faszinierende Belege für die Wirkung von bioelektrischen Feldern auf und in lebenden Systemen erbracht. Im Juli 2011 veröffentlichte die Biologin Dany Adams von der Tufts School of Arts and Sciences einen bahnbrechenden Bericht über eine aufsehenerregende Entdeckung. Sie beobachtete, dass in der Frühphase der embryonalen Entwicklung eines Froschs, noch vor der Entwicklung des Gesichts, »ein Muster für dieses Gesicht auf der Oberfläche des Embryos aufscheint« – ein elektrisches Gesicht. Es war eine Zufallsentdeckung. Eines Abends im September 2009 hatte Adams eine Kamera, die die Entwicklung des Froschembryos aufzeichnete, versehentlich über Nacht eingeschaltet gelassen. Am nächsten Morgen sahen sie und ihre Kollegen im Zeitraffer, wie das bioelektrische Muster eines Gesichts entstand, das später mit lebender Materie ausgefüllt werden würde. Sie schrieb:
Etwas Vergleichbares habe ich noch nie gesehen … Die Bilder zeigten drei Phasen bioelektrischer Aktivität. Zunächst blitzte eine Welle der Hyperpolarisierung (negative Ionen) über den gesamten Embryo, gleichzeitig mit der Entstehung von Flimmerhärchen, mit denen sich die Embryos bewegen. Dann erschienen Muster, die auf die bevorstehenden Formveränderungen und Bereiche der Genexpression des sich entwickelnden Gesichts passten. Helle Hyperpolarisierung markierte die Einfaltung der Oberfläche, während hyperpolarisierte und entpolarisierte Regionen die Domänen von Kopfmustergenen überlappten. In der dritten Phase entstanden begrenzte Regionen der Hyperpolarisierung, dehnten sich aus und verschwanden, ohne jedoch die in der zweiten Phase entstandenen Muster zu stören. Gleichzeitig begann der kugelförmige Embryo, eine längliche Form anzunehmen.43
In nachfolgenden Experimenten beobachteten die Wissenschaftler, dass eine Störung der bioelektrischen Signale durch Hemmung von Ductin – eines Proteins, das Wasserstoffionen transportiert – zur Entwicklung eines abnormalen Schädels und Gesichts führte; einige Embryonen entwickelten zwei Gehirne statt eines, andere bekamen abnormale Kiefer und andere gestörte Gesichtsmerkmale.44 Laura Vandenberg, eine Mitarbeiterin des Teams, beschrieb die Bedeutung der Entdeckung so:
Unsere Beobachtungen zeigen, dass der elektrische Zustand einer Zelle wesentlich für die Entwicklung ist. Bioelektrische Signale scheinen die Abfolge von Ereignissen zu steuern … Entwicklungsbiologen denken in der Regel in Abfolgen, in denen ein Gen ein Proteinprodukt erzeugt, das wiederum zur Entwicklung eines Auges oder Mauls führt. Unsere Arbeiten zeigen jedoch, dass noch etwas – ein bioelektrisches Signal – nötig ist, bevor es dazu kommen kann.45
Es zeichnet sich ab, dass die 160 Jahre alte Darwin’sche Theorie zumindest teilweise erweitert wird. Was nicht bedeutet, dass Darwins Erkenntnisse mit ihren zahlreichen Korrekturen, Ergänzungen und Anhängen abtreten müssen. Einiges hat sich als falsch erwiesen, anderes behält seine Gültigkeit. Allerdings entsteht mit jeder Entdeckung auf dem Weg zur Entschlüsselung des bioelektrischen Codes ein immer komplexeres Verständnis des Lebens. Wir sind ein dissipatives zeitliches Muster, zusammengehalten von elektromagnetischen Feldern, die die gesamte Erde überziehen und in jeder Zelle jedes Lebewesens auf unserem Planeten zu finden sind. Die Wissenschaftler, die an der Entschlüsselung dieses Codes arbeiten, bringen Physik und Chemie zu einer neuen Synthese zusammen, die von einer lebendigen Erde zeugt. Das ist keineswegs metaphorisch gemeint. Die Erde ist nachweislich ein Organismus und in ihrer Art vielleicht einmalig im gesamten Universum.
Eine Reihe von Publikationen von Physikern, Physiologen und Biologen in renommierten Fachzeitschriften erschütterte spätestens 2014 die These, dass allein die Gene der Schlüssel zum Geheimnis des Lebens sind. Im Juni des Jahres veröffentlichte die Zeitschrift Physiology eine Sonderausgabe zur Integration der Physiologie in die Evolutionsbiologie.
Im einleitenden Artikel wagten fünf der führenden Wissenschaftler, die Frage aufzuwerfen, »ob die moderne Synthese erweitert oder durch ein neues Erklärungsmodell ersetzt wird, und wenn ja, welche Rolle die Physiologie bei der Entwicklung dieses Modells spielen wird«. Sie rüttelten an der zentralen Säule der Darwin’schen Theorie, als sie schrieben: »Der Mechanismus der Selektion zufälliger Mutationen wird nur einer von vielen denkbaren Mechanismen der evolutionären Veränderung.« Bei der Entthronung des genetischen Codes gingen sie sogar noch weiter:
Die Physiologie im weitesten Sinne rückt in den Mittelpunkt der Evolutionsbiologie, denn wir sind endlich in der Lage, den engen Rahmen der modernen Synthese konzeptionell und technisch hinter uns zu lassen und Erklärungen für ein größeres Spektrum von evolutionären Phänomenen und Mustern in Raum und Zeit zu liefern.46
Charles Darwin präsentierte eine neue Theorie der Evolution des Lebens – die natürliche Auslese –, um zu erklären, wie Arten entstehen, sich entwickeln und neue Arten hervorbringen. Er erklärte, dass die zufällige Veränderung einer erblichen biologischen Eigenschaft, die dem Träger einen Überlebensvorteil verschafft, an die Nachkommen weitergegeben wird und diesen denselben Vorteil verleiht. Diese winzigen Veränderungen summieren sich im Laufe der Zeit zu einer neuen Spezies mit gemeinsamen Vorfahren. Darwin musste allerdings einräumen, dass er sich nicht erklären konnte, wie sich etwas derart Komplexes wie das Auge aus der Summe solcher winzigen Veränderungen ergeben sollte. Er schrieb: »Die Annahme, daß das Auge mit all seinen unnachahmlichen Vorrichtungen: die Linse den verschiedenen Entfernungen anzupassen, wechselnde Lichtmengen zuzulassen und sphärische wie chromatische Abweichung zu verbessern, durch die natürliche Zuchtwahl entstanden sei, erscheint, wie ich offen bekenne, im höchsten Grade als absurd.«47 Anderthalb Jahrhunderte später führten Biologen unter der Leitung von Michael Levin, Direktor des Tufts Center for Regenerative and Developmental Biology, ein Experiment durch, das die Welt der Biologie erschütterte und ein weiteres Beweisstück für die Rolle der elektromagnetischen Felder bei der Bildung von Organen, Geweben und ganzen Organismen lieferte. Ihr Objekt war ausgerechnet das Auge.
Im Dezember 2007 vermeldete Levins Team: »Erstmals haben Wissenschaftler die natürliche bioelektrische Kommunikation zwischen Zellen verändert, um die Art des neuen Organs vorzugeben, die an einer bestimmten Stelle eines Wirbeltiers entstehen soll.« In ihrem Artikel48 beschreiben Dr. Vaibhav Pai und die anderen Wissenschaftler aus Levins Team, wie sie das Spannungsgefälle der Zellen auf Rücken und Schwanz einer Kaulquappe so veränderten, dass es dem Spannungsgefälle des Ortes entsprach, an dem sich sonst die Augenzellen entwickeln.
Das augenspezifische Spannungsgefälle brachte die Zellen in Rücken und Schwanz, die sich normalerweise zu anderen Organen entwickeln, dazu, sich zu Augen zu entwickeln … Das führt zu der Hypothese, dass jede Körperstruktur einem konkreten Membranspannungsbereich entspricht, der die Organbildung steuert. Durch Verwendung einer konkreten Membranspannung konnten wir normale Augen in einer Region erzeugen, in der sich sonst keine Augen bilden. Das lässt vermuten, dass Zellen aus jeder Körperregion dazu gebracht werden können, ein Auge hervorzubringen.49
Die Forscher um Michael Levin sahen zwar in erster Linie auf den großen medizinischen Nutzwert ihrer Entdeckung bei der Korrektur von Geburtsfehlern und anderen regenerativen Behandlungen, doch sie nahmen auch das große Ganze in den Blick und bezeichneten das Experiment als »den ersten Schritt bei der Entschlüsselung des bioelektrischen Codes«.50