Als Leiterin der Kinderpsychiatrie des Bellevue Hospitals in New York fiel Lauretta Bender auf, dass mit den Kindern in ihrer Abteilung etwas nicht stimmte. Sie waren auf geradezu unheimliche Weise menschenfeindlich. Im Jahr 1941 schrieb sie in einem Fachartikel über die Kinder:
Sie zeigen keinerlei Spielverhalten. Sie können nicht in der Gruppe spielen, sondern beleidigen andere Kinder, klammern sich an Erwachsene und bekommen einen Tobsuchtsanfall, wenn sie mit anderen Kindern kooperieren sollen. Sie sind hyperaktiv und leicht ablenkbar; sie haben kein Verständnis von zwischenmenschlichen Beziehungen und … verlieren sich in destruktiven Fantasien, die gegen die Welt und sich selbst gerichtet sind.1
Bender fragte sich, ob dieses Verhalten das Ergebnis von mangelnder elterlicher Zuwendung sein könnte.
Damals ging man in der Wissenschaft davon aus, dass Kinder mit einem angeborenen Bedürfnis nach Autonomie zur Welt kommen, passend zu der Weltsicht, dass Autonomie und Freiheit zwei Seiten derselbe Medaille seien. Unter Ärzten und Pädagogen war die Vorstellung verbreitet, je eher ein Kind entwöhnt werde, umso besser angepasst sei es. Die Mitarbeiter von Kliniken und Waisenhäusern sollten die Kleinkinder so füttern, dass sie keinerlei körperlichen Kontakt zu ihnen hatten. Sie durften sie nicht in den Arm nehmen oder liebkosen, um keine lebenslange Infantilisierung zu riskieren, wie es hieß.
Der amerikanische Psychologe John B. Watson, einer der Pioniere des Behaviorismus, behauptete in den 1920er Jahren, es schade dem Autonomiebedürfnis eines Kindes, wenn man es verwöhnte. Sein Rat an junge Mütter war:
Behandeln Sie Ihr Baby, als wäre es ein junger Erwachsener, kleiden und baden Sie es mit Sorgfalt und Umsicht. Verhalten Sie sich stets objektiv und mit freundlicher Festigkeit. Umarmen und küssen Sie Ihr Kind nicht, lassen Sie es nicht auf Ihrem Schoß sitzen. Wenn es sein muss, geben Sie ihm einen Gutenachtkuss auf die Stirn. Geben Sie ihm morgens zur Begrüßung die Hand. Tätscheln Sie seinen Kopf, wenn es eine schwierige Aufgabe außergewöhnlich gut gemeistert hat.2
Obwohl die Kinder in Bellevue und anderen staatlichen Einrichtungen gut versorgt waren, starben sie in Scharen. Besonders in Waisenhäusern war die Sterblichkeit während der ersten beiden Lebensjahre hoch. Die Ärzte konnten sich das nicht erklären und bemühten einen mysteriösen Zustand namens »Heimkrankheit«.3 Damals übernahm Harry Bawkin die Leitung der Kinderabteilung von Bellevue. Besonders fiel ihm eine »Kiste mit Öffnungen für die Hände« auf, in die die Mitarbeiter die Kinder legten und behandelten, ohne sie direkt berühren zu müssen.4
Bawkin war überzeugt, dass den Kindern die Berührungen und Zärtlichkeiten fehlten. Ihnen wurde jede menschliche Zuwendung vorenthalten. Also hängte er in der ganzen Abteilung Schilder auf, auf denen stand: »Nehmen Sie beim Betreten der Abteilung ein Kind in den Arm.«5 Die Zahl der Erkrankungen und Todesfälle ging sofort zurück und den Kindern ging es besser.
Erst in den 1950er Jahren wurde diese Praxis auch von der Wissenschaft bestätigt. In drei Fachartikeln stellte der britische Psychiater John Bowlby seine neue Theorie der Kindesentwicklung auf, die er als »Bindungstheorie« bezeichnete. Nach Ansicht von Bowlby war der entscheidende Trieb der Kinder nicht die Autonomie, sondern die Suche nach Zuneigung und Bindung. Bowlby schrieb:
[Das Kleinkind] unterscheidet rasch zwischen Vertrauten und Fremden, aber unter den Vertrauten hat es einen oder mehr Lieblinge. Sie begrüßt es freudig, ihnen folgt es, wenn sie fortgehen, und sie sucht es, wenn sie nicht da sind. Ihr Abschied verursacht Angst und Leid, ihre Rückkehr Erleichterung und ein Gefühl der Sicherheit. Auf dieser Grundlage baut sein übriges Gefühlsleben auf, und ohne diese Grundlage sind sein künftiges Glück und seine Gesundheit in Gefahr.6
Die Sache hat allerdings einen Haken. Das Kleinkind sucht zwar die emotionale Bindung zu Erwachsenen, doch es will auch die Welt erforschen – immer in dem Wissen, dass es in den sicheren Hafen der Bindungsperson zurückkehren kann. Bowlby weiter:
Kinder und andere Jungtiere sind bekanntermaßen neugierig und wissbegierig, weshalb sie sich von der Bindungsperson entfernen. Dieses Explorationsverhalten steht im Gegensatz zum Bindungsverhalten. In gesunden Kindern wechseln sich diese beiden Verhaltensweisen in der Regel ab.7
Bowlby kommt zu dem Schluss, dass die Bindungsperson »ausreichend gut« sein muss: Sie muss das Bindungsverhalten des Kindes intuitiv und wohlwollend verstehen und bereit sein, darauf einzugehen: gleichzeitig muss sie wissen, dass eine der wichtigsten Ursachen für den Zorn des Kindes die Enttäuschung dieses Bedürfnisses nach Liebe und Zuwendung ist, und dass dahinter die Ungewissheit steckt, ob die Bindungsperson weiterhin verfügbar sein wird. Genauso wichtig ist jedoch die Anerkennung des kindlichen Bedürfnisses, die Welt zu erforschen und eigene Beziehungen zu Gleichaltrigen und anderen Erwachsenen aufzubauen.8
Wenn Eltern eine sichere Bindung herstellen und dem Kind gleichzeitig die Möglichkeit geben, seine Welt zu erforschen und unabhängig zu werden, dann entwickelt es die emotionale Sicherheit, die nötig ist, um eigene Beziehungen aufzubauen. Wenn die Bindungsperson das Kind erstickt oder wenn sie nicht ausreichend verfügbar ist, dann bleibt es in seiner Ich-Entwicklung zurück und ist nicht zu reifen emotionalen Beziehungen zu anderen Menschen in der Lage. Schlimmer noch, wenn Eltern das Kind zurückweisen oder körperlich misshandeln, wächst es mit einer konstanten Angst auf, wird aggressiv, zeigt neurotische und phobische Tendenzen bis hin zu psychotischen und soziopathischen Verhaltensweisen. Beim Übergang ins Erwachsenenalter kann es diese Angst ausleben, indem es völlige Autonomie sucht und jede emotionale Bindung meidet.
Seit Bowlbys Beobachtungen zur Rolle des Bindungsverhaltens in der kindlichen Entwicklung haben Kognitionsforscher, Neuropsychologen und andere Wissenschaftler die neurologischen Grundlagen der Empathie beim Menschen erforscht. Dabei haben sie festgestellt, dass im Kern unseres Wesens – das, was uns so besonders macht – die angeborene Fähigkeit zum Mitgefühl mit »dem anderen« steht.
Wenn auf der Kinderstation ein Baby weint, dann fangen spontan auch andere an, obwohl sie gar keinen Grund haben – sie fühlen das Leid eines anderen wie ihr eigenes. Dieser Impuls der Empathie ist zwar in unserem Gehirn angelegt, doch seine weitere Entwicklung hängt von der Zuwendung der Bindungspersonen ab und später auch von der Zuwendung durch Geschwister, Verwandte, Lehrer und andere, zu denen wir eine Bindung entwickeln.
Die Bindung eines Kindes an eine Bindungsperson ist der erste Akt im Leben eines Neugeborenen. Wenn diese Bindungsperson nicht in der Lage ist, mit dem Leid oder der Freude des Kindes mitzufühlen und dieses Mitfühlen durch Zuwendung und aktive Unterstützung des Kindes bei seiner Menschwerdung – also bei der Entwicklung zu einem mitfühlenden und sozialen Wesen – zum Ausdruck zu bringen, dann bleibt das Kind zeitlebens in seiner Entwicklung zurück. Es ist nicht in der Lage, zu einem sozialen Lebewesen heranzureifen, das Solidarität mit seinen Mitmenschen und Mitlebewesen empfindet.
Die Entwicklung der Empathie ist eng verbunden mit dem Bewusstsein des Kindes von Sterblichkeit und Tod. Ihre erste Ahnung vom Tod bekommen Kinder im Alter von fünf bis sieben Jahren. Allmählich wird ihnen klar, dass die Menschen, die sie lieben, eines Tages sterben werden, und dass sie eines Tages dasselbe Schicksal ereilen wird. In diesem Moment seiner Entwicklung dämmert dem Kind der wichtigste Aspekt des Lebens – seine Vergänglichkeit. Diese Ahnung befördert sein Mitgefühl. Wenn wir das Leid und die Freude anderer erleben wie unsere eigene, dann regt sich in unserem Gehirn ein empathischer Impuls und wir erkennen emotional und kognitiv an, dass der andere genauso verwundbar ist und genauso nach Glück strebt wie wir selbst. Unsere emotionale Solidarität ist der tiefste Ausdruck unserer Verbundenheit als Mensch, der dieselbe Bürde und denselben Segen der Sterblichkeit kennt. Mit unserem Mitfühlen bringen wir zum Ausdruck, dass wir Mitreisende sind, die auf dieser unbeschreiblichen Reise des Lebens einen Moment lang hier und füreinander da sind.
Im Paradies oder in einer Fantasiewelt gäbe es keine Empathie, denn es gäbe keine Sterblichkeit und kein Leid, und das Streben nach Glück wäre kein Kampf. Dort wäre alles perfekt, das Leben hätte weder Makel noch Härten, aber auch keine Momente des Glücks oder Leids. Unsterblichkeit hat keinen Platz für Empathie.
Bowlby verstand den Zusammenhang zwischen einer »ausreichend guten« elterlichen Fürsorge und der Entwicklung der Empathie bei Kindern sowie der Folgen für ihr späteres Leben. Seine Theorien wurden seither in zahlreichen Untersuchungen bestätigt. Heute wissen wir, dass »die Aktivierung der Bindungssicherheit empathische Reaktionen fördert«,9 wie es in einem Übersichtsartikel über die Forschung heißt. Der Bericht stellt Untersuchungen zusammen, aus denen hervorgeht, dass Kinder, die keine ausreichende Fürsorge erhalten und Bindungen meiden, weil sie Angst haben, dass die Nähe zu anderen nicht erwidert wird, oder die Bindungsangst entwickeln, weil sie fürchten, zurückgewiesen oder verlassen zu werden, keine emotionalen Reserven haben, um Mitgefühl mit anderen zu entwickeln, weil sie zu sehr in ihr eigenes Gefühl der Zurückweisung und des Verlassenseins verstrickt sind.
Im Mittelpunkt von Bowlbys Arbeiten standen die Mütter als wichtigste Bindungsperson des Kindes. Doch Untersuchungen aus anderen Gesellschaften und sich wandelnden demografischen Verhältnissen zeigen, dass auch Väter, ältere Geschwister und weitere nahe Verwandte zu diesen Bezugspersonen gehören. In Jäger-und-Sammler-Gesellschaften, die nach wie vor die Messlatte für die Erziehung der Kinder zur Anpassungs- und Widerstandsfähigkeit gegenüber der Natur sind, wird diese Aufgabe oft gemeinsam vom erweiterten Familienkreis übernommen. Die heutigen Kibbuzim in Israel sind ein modernes Beispiel für die gemeinsame Fürsorge und Kindererziehung.
Wenn »ausreichend gute« Fürsorge für Kinder der Schlüssel ist, um folgende Generationen widerstandsfähig gegen Widrigkeiten und zu Bannerträgern des Zeitalters der Resilienz zu machen, dann müssen wir einer besorgniserregenden Realität ins Auge sehen. Was Wissenschaftler amerikanischer und britischer Universitäten bei einer Untersuchung zu Elternbindung bei Kindern herausfanden, ist wenig ermutigend. Sie beobachteten, dass Kinder mit unsicher vermeidender oder ambivalenter Bindung besonders häufig Verhaltensprobleme aufweisen, schlechte schulische Leistungen zeigen oder die Schule abbrechen. Und sie stellten fest, dass Kinder ohne starke elterliche Bindung als Erwachsene eher aggressiv, trotzig und hyperaktiv sind.10
Daneben besteht ein enger Zusammenhang zwischen ungenügendem Bindungsverhalten und einer Kindheit in Armut, in der Eltern täglich mit Hoffnungslosigkeit und Angst leben und oft nicht wissen, ob die Familie Essen auf dem Tisch oder ein Dach über dem Kopf haben wird. Es ist schwer, sich vorzustellen, woher Eltern unter diesen Umständen die emotionalen Reserven nehmen sollen, um ihren Kindern zuverlässig fürsorgliche Bindungspersonen zu sein. Die Psychologin Susan Campbell beschreibt, wie Armut über Generationen hinweg der elterlichen Fürsorge und der kindlichen Entwicklung schadet: »Wenn die Bindungspersonen von ihren eigenen Schwierigkeiten überfordert werden, lernen die Kinder eher, dass die Welt kein sicherer Ort ist, und werden zu emotional bedürftigen, frustrierten, bindungsunfähigen und desorganisierten Menschen.«11
In einer repräsentativen Untersuchung von 14 000 im Jahr 2001 in den Vereinigten Staaten geborenen Kindern stellten Wissenschaftler fest, dass 60 Prozent eine »starke Elternbindung« entwickelt hatten. Besorgniserregend sind jedoch die 40 Prozent, die ohne diese Bindung aufwuchsen und ein Leben lang an den psychischen Folgen tragen werden.12
Bowlby und seine Kollegin Mary Ainsworth, die seine Arbeiten mit rigorosen wissenschaftlichen Verhaltensforschungen fortsetzte, konzentrierten sich vor allem auf die frühe Kindheit, wenn sichere oder unsichere Bindung ihre ersten Spuren hinterlassen. Wissenschaftler verschiedener Fachgebiete untersuchten die Bedeutung anderer Bindungspersonen in verschiedenen Lebensphasen. Partner, Freunde, Lehrer, Mentoren, Therapeuten, Arbeitgeber und andere übernehmen häufig die Rolle von Bindungspersonen, sie bestätigen oder verändern frühere Bindungsmuster und haben Einfluss auf die Bindungssicherheit und die Empathie eines Menschen.
Der mitfühlende Impuls ist jedoch nicht auf die Erziehung eines Menschen und eine Abfolge von Bindungspersonen im Laufe eines Lebens beschränkt. Empathie entwickelt sich auch im Laufe der Menschheitsgeschichte und hängt eng mit der Evolution einer Gesellschaft und dem Aufstieg und Niedergang von Zivilisationen zusammen – ein gesellschaftliches Gebiet, das von Sozialwissenschaftlern bislang vernachlässigt wurde.
Der Umstieg einer Gesellschaft auf eine neue Infrastruktur hat auch Auswirkungen auf die Empathie dieser Gesellschaft. Die Infrastruktur einer Zivilisation geht Hand in Hand mit einem unverwechselbaren wirtschaftlichen Paradigma, einer neuen gesellschaftlichen Ordnung, einer neuen Herrschaftsform und einem ökologischen Fußabdruck sowie bestimmten Weltanschauungen. Die neue Infrastruktur ermöglicht eine weitere empathische Bindung und ein emotionales Band zwischen verschiedenen Teilen der Bevölkerung, die in und mit dieser neuen Infrastruktur leben und arbeiten. Diese nicht miteinander verwandten Menschen verstehen sich als sozialer Organismus und eine Art fiktiver Familie, in denen sie einander mit derselben Empathie begegnen wie ihren Blutsverwandten.
Jäger und Sammler lebten in kleinen isolierten Verbänden mit zwanzig bis hundert Angehörigen, die hin und wieder in größeren Verwandtschaftsgruppen interagierten. In ihren Vorstellungen und Ritualen gab es so gut wie keine Götter. Sie verehrten vor allem ihre verstorbenen Ahnen, und ihre Weltsicht war animistisch. Ihre Bindungsfähigkeit und Empathie war stark, blieb jedoch beschränkt auf ihre kleine Gruppe von Blutsverwandten und ihre etwas größere Gruppe von entfernteren Verwandten. Andere Gruppen, die gelegentlich ihren Weg kreuzten, betrachteten sie vermutlich als Nichtmenschen oder Dämonen.
Mit dem Übergang zur Landwirtschaft und Sesshaftigkeit vor rund 10 000 Jahren kam die sichere Bindung an regionale Gottheiten, die in Bergen, Erde, Flüssen und Seen lebten und deren Wohlwollen man sich erhalten musste. Die Empathie reichte selten über den Rand der kleinen bäuerlichen Gemeinschaften im Tal oder der Fischergemeinschaften an einem Uferstreifen hinaus.
Vor etwa 6 000 Jahren machte die Empathie einen Sprung mit dem Aufstieg der großen landwirtschaftlichen Kulturen an den Ufern des Euphrat, Tigris und Nil im Nahen Osten, im Tal des Indus im heutigen Indien und in den Tälern des Jangtse und des Gelben Flusses in China. Menschen kamen aus großen Regionen zusammen, um die gewaltigen Bewässerungsanlagen zu bauen und zu nutzen und eine groß angelegte landwirtschaftliche Produktion zu ermöglichen.
Bewässerungstechniken wurden erfunden, um die jahreszeitlichen Überschwemmungen zu bändigen, Wasser aufzufangen und während der Pflanzzeit auf die Felder zu verteilen, ausreichend Nahrung für den Moment zu haben und gewaltige Vorräte zur späteren Verwendung anzulegen. Diese Kulturen basierten auf technischen Meisterleistungen wie Kanälen, Dämmen, Bewässerungssystemen, königlichen Kornkammern und Straßen, überwacht von einer zentralen Bürokratie von Technikern, die die Massen der versklavten Arbeiter kontrollierten.
In dieser sogenannten Achsenzeit entstanden auch die großen Weltreligionen wie Hinduismus, Buddhismus, Taoismus und Judentum, die zu neuen Bindungsfiguren wurden. Sie markieren den Wandel vom animistischen zum religiösen Bewusstsein. Die Religionen der Achsenzeit verwandelten Hunderttausende nicht miteinander verwandte Menschen in Anhänger einer neuen gemeinsamen Bindungsfigur und ermöglichten es ihnen, sich als Teil einer fiktiven Großfamilie zu verstehen, der sie Treue und Ergebenheit schuldeten und mit der sie Empathie empfinden konnten.
Stellen Sie sich vor, was die Abermillionen Migranten empfunden haben müssen, die aus ihren fernen Dörfern ins Hunderte Kilometer entfernte Rom aufbrachen und sich in den Vororten der Hauptstadt des Imperiums niederließen. Sie hatten das Land ihrer Väter und Götter hinter sich gelassen, lebten allein in einer Stadt mit mehreren Millionen Einwohnern und fanden dort eine neue Bindungsfigur in Jesus Christus und dem Christentum, einem Kult, der im Jahr 313 von Kaiser Konstantin als Religion zugelassen wurde. Für die Frühchristen des ersten Jahrhunderts war dieser Christus eine Vaterfigur, der seine Herde vom Himmel aus behütete und jedem Gläubigen seine Liebe schenkte. Christen küssten einander zum Gruß auf die Wange, sie nannten einander Bruder und Schwester und Gott ihren liebenden Vater. Die Empathie wurde auf diese neue fiktive Familie ausgeweitet.
Wenn die Jäger und Sammler der Steinzeit das animistische Bewusstsein hervorbrachten und die landwirtschaftlichen Zivilisationen das religiöse Bewusstsein, dann bescherte uns das Industriezeitalter das ideologische Bewusstsein. Das Zeitalter glaubte, dass Wissenschaft, Technik, Industrie und Kapitalismus das Paradies auf Erden einläuten würden. Diese materialistische Utopie war mit verschiedenen Spielarten des ideologischen Bewusstseins unter den Bannern von Demokratie, Sozialismus, Faschismus und Kommunismus verknüpft.
Doch auch das ideologische Bewusstsein benötigte ein Narrativ, um Massen höchst unterschiedlicher Menschen zu einer gesellschaftlichen Organisation zu bündeln. Der Aufstieg der industriellen Infrastruktur im Europa und den Vereinigten Staaten des ausgehenden 18. Jahrhunderts und die Ausweitung von regionalen zu nationalen Märkten brachte den Nationalstaat hervor. Die Bevölkerung dieser Staaten bestand jedoch meist nicht aus einer einzigen ethnischen Gruppe, sondern war ein Gemisch von Gruppen mit eigenen Sprachen, Dialekten, Kulturen, Mythen und Bindungsfiguren. Deshalb begannen die neuen Nationalstaaten massive Indoktrinierungsprogramme, um das bunte Gewimmel von Menschen zu Bürgern zu formen, sie zu ihrer Ideologie zu bekehren und sie zu Hütern der Nation zu machen.
Wie in Kapitel 4 gesehen, entwickelte jede Nation ihre einheitliche Volkssprache. Sie richtete ein Schulwesen mit einem Lehrplan ein, der dieser Nation huldigte, und erfand Feiertage, die – oftmals fiktive – vergangene Ereignisse begingen, um ein gemeinsames Band zu knüpfen. Einige wenige Generationen reichten aus, um eine italienische, deutsche, spanische oder französische Kultur zu erschaffen, mit der Nation als wichtigster Bindungsfigur. Im Namen von »Volk und Vaterland« wurden die Massen in patriotischen Ritualen gedrillt und schworen der Nation ihre Treue. Das Ergebnis sind Generationen von Bürgern, für die der Nationalstaat eine verlässliche Bindungsfigur ist. Die Bürger erkennen einander als Großfamilie, mit der sie mitfühlen und für die sie im Ernstfall sogar sterben. In den folgenden zwei Jahrhunderten verloren in Europa Millionen von Menschen ihr Leben, um ihre fiktive Großfamilie zu schützen und der überragenden Bindungsfigur des Vaterlands ihre Treue zu beweisen.
Die Philosophinnen Nelli Ferenczi von der Brunel University in London und Tara Marshall von der McMaster University in Toronto gehörten zu den ersten, die die Bindung an die Nation erforschten. Sie kamen zu ähnlichen Ergebnissen wie Bowlby und andere Psychologen, die ein halbes Jahrhundert zuvor die Elternbindung untersucht hatten. Die Forscherinnen befragten 232 Freiwillige zwischen 16 und 65 Jahren, je etwa zur Hälfte Männer und Frauen. 35 Prozent der Befragten gaben an, nicht in ihrem Geburtsland zu leben.13 Dabei stellten die Forscherinnen fest, dass die Bindung an ein Land psychisch ähnlich funktioniert wie die Elternbindung von Kindern. Die Teilnehmer fielen in drei Gruppen: Die eine Gruppe war erfolgreich in die Gesellschaft integriert, egal ob die Teilnehmer in dem Land geboren oder zugewandert waren, sie identifizierten sich mit seiner Erzählung und fühlten sich dort geborgen. Sie sahen sich als Teil einer fiktiven Großfamilie und wiesen alle Anzeichen einer Bindung auf. Die anderen hatten entweder das Gefühl, dass die Bindungsfigur – der Staat – abwesend war oder dass er sie zurückwies. Analog zu den von Bowlby und Ainsworth beobachteten Verhaltensweisen fühlten sie sich ängstlich, nervös, verlassen und allein. Typische Antworten waren: »Ich habe Angst, von meinem Land im Stich gelassen zu werden« oder »Es ist mir wichtig, unabhängig von meinem Land zu sein«.14
Das animistische, das religiöse und das ideologische Bewusstsein liefern große Rahmenerzählungen, mit deren Hilfe sich die Menschheit ihre Existenz erklärt – Geburt, Leben, Tod und Jenseits, unser Geist und unsere Triebe, unsere Pflichten und Beziehungen. Jede steht außerdem für einen ganz eigenen Umgang der Menschheit mit Wirtschaft, Politik und Natur.
Historiker und Anthropologen interessieren sich für die wesentlichen technischen Infrastrukturen, die zahllose Menschen zu einer Familie mit unterschiedlichen Rollen und Aufgaben zusammengeführt haben, um die Schätze der Erde auszubeuten. Weniger Beachtung schenken sie der Tatsache, dass die Revolutionen der Infrastruktur, die uns zum Beispiel die landwirtschaftliche und die industrielle Revolution beschert haben, auch die Reichweite unserer Empathie von Blutsbanden über religiöse Bande bis zur ideologischen Identifikation immer weiter ausdehnt haben. Allerdings haben die neuen Infrastrukturen und die damit einhergehenden Bande der Empathie neue Grenzen geschaffen und neue Grenzen aufgeworfen, oft mit furchtbaren Folgen: Kriege, Massenmorde und immer neue Formen der Diskriminierung.
Jede neue Ausweitung des Mitgefühls brachte die Evolution der Empathie weiter voran, sie führte zu religiöser Toleranz, Abschaffung der Sklaverei, Ächtung der Folter, Ahndung des Völkermords, Fortschritt von Demokratie und Menschenrechten und neuerdings auch Gleichstellung der Geschlechter und sexuellen Orientierungen. Diese Fortschritte wurden möglich durch die zunehmende Vernetzung der Menschheit durch integrierende Infrastrukturen, die die Menschen einander immer näher bringen, im Verbund mit empathischen Bindungen, die immer vielfältigere Gruppen zu fiktiven Großfamilien zusammenführen.
Was nicht heißen soll, dass die Menschheit nicht auch weiterhin Fehler machen und Rückschläge erleiden wird. Jeder neue Fortschritt der Infrastruktur, der immer mehr Menschen zu fiktiven Großfamilien mit größerer empathischer Identifikation zusammenbringt, ist gleichzeitig eine Gefahr für schwindende Kollektive – Clans, Stämme, Religionen oder Ideologien. Diese früheren Bande verschwinden nicht einfach, sondern existieren weiter, wenngleich in eingeschränktem Maße. Diese kulturellen Bindungen, die scheinbar der Vergangenheit angehören, bleiben am Leben und können sich jederzeit wieder erheben.
Unsere Bindungsfähigkeit und Empathie haben sich zwar in großen Sprüngen entwickelt und gleichzeitig immer wieder Rückschritte in die finstere Vergangenheit erlebt. Doch auf neurologischer Ebene bleibt der empathische Geist lebendig, und es besteht kein Zweifel, dass er die Menschheit nun auf die nächste Ebene der mitfühlenden Revolution hebt – hoffentlich rechtzeitig für uns und unsere Mitlebewesen.
Eine jüngere Generation befreit sich heute von religiösen und ideologischen Banden und begreift sich als neue und umfassendere biologische Familie. Heute regt sich das biophile Bewusstsein, das die zentrale Erzählung des Zeitalters der Resilienz sein wird, in dem die Menschheit lernt, mit ihren Mitlebewesen zu fühlen.
Die Ausgangssituation. Das biophile Bewusstsein – die Ausweitung der Empathie auf unsere Mitlebewesen – ist mehr als nur eine Empfehlung oder ein Wunsch. Wenn wir es nicht schaffen, unser Mitgefühl auf unsere wahre Großfamilie von Mitlebewesen auf diesem Planeten ausdehnen, dann wird der Klimawandel uns allen ein quälendes Endspiel bereiten. Nur durch eine tiefe und mitfühlende Identifikation mit unseren Mitlebewesen können wir darauf hoffen, unsere eigene Zukunft zu sichern.
Aber die Biophilie kommt nicht allein, sondern im Paket. Die neue resiliente digitale Infrastruktur und die mit ihr einhergehende Vernetzung verleiht der Menschheit die Reichweite, die wir brauchen, um eine paritätische demokratische Ordnung in Bioregionen und Ökosystemen zu ermöglichen. Der Übergang zur bioregionalen Demokratie bringt die Bürger wieder in engeren Kontakt zur Biosphäre, die sie und ihre Mitlebewesen bewohnen. Das ist entscheidend, denn die Macht der Empathie liegt auch in der räumlichen Nähe der Erfahrung. Bioregionale Demokratie und peer-demokratische Verantwortung für regionale Ökosysteme bringen uns in direkten Kontakt mit unseren Mitlebewesen, wo die Empathie ihre Macht entfalten kann.
Wer die engere Beziehung zwischen Menschen und Ökosystemen für unwahrscheinlich oder gar eine romantische Fantasie hält, dem sei verraten, dass diese Beziehung auch ohne unser Zutun immer enger wird, ob wir das wollen oder nicht. Mit den Klimakatastrophen und der Verwilderung der Erde und ihren fatalen Folgen für den Alltag der Menschen dringt die Natur mit Macht in unser Leben vor und wird zu einer allgegenwärtigen Kraft in sämtlichen Lebensbereichen – in Arbeit, Freizeit, Alltag und Zukunftsplanung. Wie können wir unsere Kinder auf ein Leben auf einem verwildernden Planeten vorbereiten?
Im Jahr 2019 veröffentlichten europäische Psychologen einen detaillierten Forschungsüberblick über den Zusammenhang von Bindung in der Kindheit auf der einen Seite und Angepasstheit und Resilienz auf der anderen. Dabei fanden sie heraus, dass es vor allem von der Fürsorge der Eltern oder Bindungspersonen abhängt, ob sich ein Kind erfolgreich an eine von Verwerfungen und Umbrüchen gekennzeichnete Welt anpasst und widerstandsfähig wird. Die Forschungsliteratur ist sich einig, »dass Resilienz von zwei entscheidenden Faktoren abhängt: Widrigkeit und positiver Anpassung«. Dabei ist »sichere Bindung eine Voraussetzung für positive Anpassung«.15
Um in Zukunft bestehen zu können, müssen wir die Angst vor der existenziellen Gefahr des Klimawandels überwinden und uns anpassen. Die Ausweitung der Empathie – die biophile Bindung – auf unsere Mitlebewesen ist die wichtigste Kraft des Zeitalters der Resilienz. Was uns wieder zur Bindung zurückbringt, ist in diesem Fall die Bindung an einen bestimmten Ort.
Die Bindungstheorie wurde in Zusammenhang mit einer Reihe soziologischer Phänomene erforscht, unter anderem mit religiöser und ideologischer Zugehörigkeit. Ortsbindung wurde dabei weniger erforscht, obwohl der Ort die erste Dimension der Bindung und Erkundung jenseits der elterlichen Fürsorge ist. Durch die Erkundung ihrer Welt – ihre physische Wirklichkeit, ihr Da-Sein und das, was in ihr geschieht – bauen Kinder ihre physische Beziehung zu ihrer Umwelt auf.
Nirgends wird die Bindung an den Ort wichtiger für die Entwicklung des Kindes und sein Zugehörigkeitsgefühl als in der Beziehung zur natürlichen Welt, die in der Faszination der Kinder für alles, was krabbelt, kriecht, fliegt oder schwimmt zum Ausdruck kommt. Ob die Eltern ihr Kind ermutigen, seine natürliche Umgebung zu erkunden, oder ob sie diese als gefährlichen Ort darstellen, den das Kind meiden sollte, wirkt sich zeitlebens auf die Ortsbindung des Kindes aus. Dazu kommt, dass in einer zunehmend verstädterten Kultur, in der Kinder überwiegend in den eigenen vier Wänden und neuerdings auch in der virtuellen Welt leben, die Natur als fremd und bedrohlich wahrgenommen werden kann, oder schlimmer noch, als bedeutungslos. In seinem Buch Das letzte Kind im Wald? beschreibt Richard Louv ein Gespräch mit einem zehnjährigen Jungen, dessen Wahrnehmung typisch für viele Kinder von heute ist. Auf die Frage, warum er denn nicht draußen spiele, erwiderte der Junge: »Ich spiele lieber drin, weil da die Steckdosen sind.«
Wenn wir uns weiter keine Gedanken über unsere Ortsbindung machen, dann vielleicht deshalb, weil der Ort für unsere Selbstdefinition in Zeit und Raum selbstverständlich ist und wir vergessen, wie prägend er für unser In-der-Welt-Sein ist. Selbst unsere Sprachentwicklung hängt eng mit unserer ersten Erkundung der Welt zusammen. Die Aktivitäten und gegenseitigen Abhängigkeiten, die wir beobachten und erleben, bieten uns reichhaltige Metaphern, aus denen wir Sprache aufbauen, Beziehungen verstehen und unsere Identität erschaffen.
Kinder, die abgeschirmt von der Umwelt und dem Kommen und Gehen des Lebens aufwachsen, haben ein deutlich reduziertes Ortserleben und eine weniger sichere Bindung an die Umwelt, die sie später meistern müssen. Während der raschen Verstädterung des Industriezeitalters achtete leider niemand auf den Verlust der Beziehung zur Umwelt, die so wesentlich für den Aufbau einer Bindung zur natürlichen Welt ist. Kindererziehung und Schule lassen wenig Raum für Naturerfahrung. Selbst in den Pausen, in denen die Kinder an die frische Luft gehen sollen, ist der Kontakt zur Natur weitgehend beseitigt, an seine Stelle treten virtuelle Welten und Bildschirme, die Kindern die Rolle von Zuschauern zuweisen.
Genau wie die Elternbindung hängt die Ortsbindung von der Art des Kontakts und der Erfahrung ab. Wenn die Naturerfahrung sicher ist – wenn sie als zuverlässig, verlockend, bestätigend und tröstlich erlebt wird –, dann bleibt diese positive Bindung in der Regel ein Leben lang bestehen. Untersuchungen der Ortsbindung zeigen eine ähnliche Kurve wie die der Bindung an Eltern, Religion oder Nation. Wird die Beziehung als harsch, gleichgültig oder nicht existent erlebt, dann ist das Bindungsverhalten ambivalent bis vermeidend. Wird die Beziehung dagegen als förderlich und produktiv erlebt, dann wird die Ortsbindung zu einem wichtigen Teil der eigenen Identität.
Eine sichere Bindung an die natürliche Umwelt bedeutet nicht automatisch, dass wir uns an ihre Anforderungen anpassen oder Verantwortung für ihren Schutz übernehmen. So können Menschen mit starker Ortsbindung auch nach wiederholten Klimakatastrophen die Ohren vor wissenschaftlichen Warnungen verschließen, dass die Klimaerwärmung in ihrer Region vermehrt zu Katastrophen führen wird. Sie wollen nicht wahrhaben, dass es sinnvoller wäre, die Region zu verlassen und sie im Rahmen von Naturschutzmaßnahmen zu renaturieren. Stattdessen bauen sie ihre Häuser wieder und wieder in derselben Weise auf, weil sie es eben so kennen – darin äußert sich schließlich ihre sichere und starke Ortsbindung, die jedoch in diesem Fall ihnen und dem Ökosystem schaden kann. Diese Unfähigkeit, die Bindung an einen Ort und eine Umgebung aufzugeben, äußert sich oft in der mangelnden Bereitschaft, neue Fähigkeiten zu erlernen und anderswo Arbeit zu suchen, selbst wenn die Natur ausgelaugt ist und keinen Lebensunterhalt mehr bietet, oder wenn die Arbeit der Umwelt schadet, etwa beim Tagebau oder der Rodung von Wäldern.
Andere Situationen sind noch komplizierter. Naturliebhaber mit ähnlich sicherer und enger Bindung an ihre Umwelt sehen den Bau von Windrädern oder Solarfarmen in ihrer Gegend sehr unterschiedlich. Gegner fürchten eine Verschandelung der Landschaft und eine Beeinträchtigung der Umwelt. Befürworter halten dagegen, dass der Umstieg von fossilen auf erneuerbare Energiequellen die einzige Möglichkeit ist, den Klimawandel und die Erderwärmung aufzuhalten und die Ökosysteme widerstandsfähiger zu machen. In Fällen, in denen beide Seiten eine sichere Bindung an ihre natürliche Umwelt mitbringen, aber andere Auffassungen von ihrem Schutz haben, finden sie oftmals Gemeinsamkeiten.16 Eine Reihe von Untersuchungen zur Ortsbindung konnte nachweisen, dass ein gemeinsamer Einsatz für den Umweltschutz das bürgerliche Engagement entfacht und den Menschen hilft, einen für alle annehmbaren Weg in eine resiliente Zukunft für sie und künftige Generationen zu finden. Das ist ein gutes Omen für die Ausweitung der verteilten Peerocracy und Bürgergremien, die gemeinsam mit den Behörden die Verantwortung für regionale Bioregionen übernehmen.
Die Bindung an Orte und vor allem an die natürliche Umwelt bietet jedoch nicht nur einen sicheren Hafen und eine Lebenswelt, in der man sich verorten kann, sondern sie übernimmt darüber hinaus zwei wichtige Funktionen. Eine sichere Bindung an die natürliche Umwelt ist ein Schlüssel zum persönlichen Glück und der Weg hin zu einer Empathie, die die Natur als Ganzes einschließt.
Jeremy Benthams Vorstellungen davon, was Glück ausmacht, wurden während des Industriezeitalters kaum infrage gestellt. Als Vordenker des Utilitarismus ging Bentham davon aus, dass alles menschliche Verhalten von dem Bedürfnis gelenkt wird, Lust zu erleben und Leid zu vermeiden. Seiner Ansicht nach sind wir Menschen von Natur aus Hedonisten und Utilitaristen und verbringen unser ganzes Leben mit dem Versuch, unsere unersättlichen Begierden zu befriedigen. Die Werbebranche nahm Benthams Credo wörtlich und nutzte es, um Generationen dazu zu bringen, die Schätze der Erde in Form von immer neuen Produkten und Dienstleistungen zu vertilgen. Schon in den 1950er Jahren beschrieb der Wirtschaftswissenschaftler Victor Lebow die Konsumkultur so:
Unsere enorm produktive Wirtschaft verlangt, dass wir den Konsum zu unserem Lebensstil machen, dass wir den Kauf und Gebrauch von Waren zum Ritual erheben, und dass wir unsere Spiritualität und unser Ego im Konsum befriedigen. Wir sind darauf angewiesen, dass Dinge verbraucht, verbrannt, verschlissen, ersetzt und weggeworfen werden, und zwar immer schneller.17
Es würde zwar niemand behaupten, dass Armut glücklich macht, aber kann ein Übermaß an Konsum nicht auch schädlich sein?
Just als die Konsumkultur ihren Höhepunkt erreichte und sich weite Teile der Bevölkerung in Schulden stürzten, aus denen sie sich nie wieder befreien können, wurden Untersuchungen zum Zusammenhang zwischen Konsum und Unglück durchgeführt. Psychologen, Soziologen und Anthropologen kamen zu dem Schluss, dass Konsum mit der Drogensucht vergleichbar ist, und dass wir umso unglücklicher werden, je mehr wir konsumieren. Und je mehr wir besitzen, umso mehr werden wir von unseren Gegenständen besessen.
Je mehr wir von unserem Besitz umgeben sind, umso mehr sind wir in künstlichen Welten gefangen und umso ferner sind wir unserer natürlichen Umwelt. Das ist umso besorgniserregender, als Wissenschaftler in den vergangenen Jahren herausgefunden haben, dass es bei der Begegnung mit der Natur nicht einfach nur darum geht, draußen unterwegs zu sein oder eine schöne Umgebung zu genießen, sondern dass Naturerfahrung eine weit größere Bedeutung für uns hat. Unsere ureigensten Körperfunktionen bis hinunter auf die Ebene der Zellen und kognitiven Funktionen hängen eng mit den Rhythmen und Strömen der Natur zusammen, aus der sie kommen und mit der sie noch immer verwoben sind. Was uns wieder zur Biophilie zurückbringt: Wir sind uns bis in die tiefsten Fasern unseres Seins des Beistands und der Gefahren der Natur bewusst.
Als Städter bemerken wir oft nicht, wie sehr unsere Stimmungen, Verhaltensweisen und Körperfunktionen, vor allem aber unser geistiges und körperliches Wohl von unserer Beziehung zur Natur abhängen. Das zeigt sich zum Beispiel am Unterschied zwischen einem Spaziergang im Wald und in der Stadt.
Während eines Waldspaziergangs sinkt der Anteil des Stresshormons Cortisol im Speichel um 13,4 bis 15,8 Prozent und der Puls um 3,9 bis 6 Prozent; auch der Blutdruck geht nach unten. Die Aktivität des Parasympathikus – das Gefühl der Entspannung – steigt durch die Bewegung um 102 Prozent, die des Sympathikus – das Gefühl von Stress – geht dagegen um 19,4 Prozent zurück. Das alles bewirkt ein einfacher Spaziergang im Wald.18
In Japan war der Zusammenhang zwischen Natur und Gesundheit in den 1980er Jahren Gegenstand einer landesweiten Debatte. Die Arbeitnehmer waren zunehmend ausgebrannt vom belastenden und engen Stadtleben und der unermüdlichen Arbeit. Japan genoss den zweifelhaften Ruf, die erste Rund-um-die-Uhr-Gesellschaft zu sein. Der Hedonismus der Japaner wurde zwar reichlich bedient, dafür wurde das Erholungsbedürfnis vernachlässigt. Etwa zu dieser Zeit kam eine neue Mode auf, das sogenannte Shinrin-yoku oder »Waldbaden« – nichts anderes als ein Waldspaziergang und eine therapeutische Übung zur Wiederherstellung des körperlichen Wohlbefindens. Die Reaktionen ließen nicht auf sich warten, die Menschen fühlten sich wie neu geboren. Um zu überprüfen, ob das nicht nur in den Köpfen der Menschen passierte, untersuchten Wissenschaftler das Blut der Probanden nach einem gemächlichen drei bis sechs Kilometer langen Spaziergang und stellten fest, dass ihr Blutzucker um 39,7 Prozent sank, während er bei ähnlichen Übungen auf dem Laufband oder im Schwimmbecken nur um 21,2 Prozent zurückging.19 Der Unterschied war allein die Umgebung – die Biophilie, wie Naturfreunde sagen würden.
Vor einigen Jahren werteten Wissenschaftler Untersuchungen aus verschiedenen Disziplinen aus, um zu ermitteln, welche Auswirkungen eine Naturerfahrung auf unser Wohlbefinden hat. Dabei fanden sie zweifelsfreie Belege, »dass Naturverständnis und Naturerleben uns zu glücklicheren und gesünderen Menschen machen«.20 Bei der detaillierten Auswertung stellten sie fest, dass das Naturerleben starke Auswirkungen auf zehn Dimensionen des Wohlbefindens hat: Kontakt mit der Natur verbessert die körperliche Gesundheit, baut Stress ab, verbessert die Selbstdisziplin und die psychische Gesundheit, fördert die Spiritualität, vergrößert die Aufmerksamkeitsspanne, verbessert die Lernfähigkeit, regt die Fantasie an, vertieft das Identitätsgefühl und stärkt das Gefühl der Verbundenheit und Zugehörigkeit.21
Der Begriff der Biophilie geht auf den humanistischen Psychologen Erich Fromm zurück, der damit die Liebe zum Leben und allem Lebendigen beschrieb. Es war jedoch der Biologe E. O. Wilson, der erkannte, dass die Biophilie tief mit unserem biologischen Sein verwoben ist. Wilson betont, dass die Biophilie in unser Erbgut eingeschrieben ist: Sie ist das Grundgefühl, dass wir Teil der großen Familie des Lebens sind, und dass unser individuelles und kollektives Wohl von unserer tiefen Beziehung zu allem Lebendigen abhängt. Unser verbindendes Band ist das mit allen Lebewesen gemeinsame Bedürfnis nach einem erfüllten Leben. Das soll die dunkle Seite der lebendigen Wirklichkeit nicht verharmlosen. Auch wenn wir aus unserem tiefsten biologischen Grund heraus unsere Verwandtschaft zu allem Leben spüren, tragen wir in unseren Genen auch die Furcht vor bestimmten Arten, deren Überlebensinstinkte unsere eigene Existenz bedrohen können. Wie andere Säugetiere zucken wir vor Schlangen oder Spinnen zurück, weil in unsere Gene die Erinnerung daran eingeschrieben ist, welche Gefahr diese und andere Tiere für uns bedeuten können. Unser Körper und Geist sind zwar von der Biophilie bestimmt, doch sie kennen auch die Biophobie. Beides, Biophilie und Biophobie, begleiten uns ein Leben lang.
Vereinfacht gesagt, definiert E. O. Wilson die Biophilie als »angeborene Neigung, unsere Aufmerksamkeit auf Leben und lebensähnliche Prozesse zu richten«.22 Vor dem Hintergrund der Biophilie stellt sich die Geschichte des Lebens und der menschlichen Art mit einem Mal ganz anders dar. Das Schlagwort vom »Überleben des Stärksten« (beziehungsweise »am besten Angepassten«), das der englische Philosoph Herbert Spencer prägte und Darwin 1869 in die fünfte Ausgabe seines Buchs Der Ursprung der Arten übernahm, hat das Ansehen von Darwins Evolutionstheorie seither befleckt. Dieses Schlagwort zeichnet die Natur als erbarmungslosen Kampf der Stärksten gegen die Schwächsten und »rot an Zähnen und Klauen«. Man sollte hinzufügen, dass Darwin diesem Naturverständnis niemals zugestimmt hätte.
E. O. Wilson führt die Evolutionstheorie auf einen besseren Weg, wenn er betont, dass es uns genau wie allen anderen Arten nicht darum geht, zu beherrschen, sondern darum, ein erfülltes Leben zu führen, und dass die Biophilie unsere angeborene Neigung zum Mitgefühl mit unseren Mitlebewesen und der natürlichen Welt ist. Mit einem Federstrich befreite er die Menschheit vom Kampf um die Unterwerfung der Natur und verweist auf unsere genetische Veranlagung, in Einklang mit der Natur zu leben und auf diese Weise ein erfülltes Leben zu führen.
Die Erziehung zur Biophilie beginnt in jungen Jahren. Die Biologen Giuseppe Barbiero und Chiara Marconato setzen sich dafür ein, Kinder genauso an die Natur heranzuführen wie an die Gesellschaft. Da es bei der Biophilie um eine emotionale Beziehung zur Natur geht, müssen Eltern, ältere Geschwister oder Lehrkräfte einen sicheren Ort bieten, der es den Kinder gestattet, die Natur für kurze Zeit selbst zu erkunden, in dem Wissen, dass sie jederzeit zu ihrer Bindungsperson zurückkehren können. Längere und kürzere Ausflüge, die mit der sicheren Rückkehr enden, erweitern den sicheren Hafen des Kindes und sorgen dafür, dass das Gefühl der Geborgenheit auch auf die Natur ausgedehnt werden kann. Mit dieser fürsorglichen Dynamik lernt das Kind, seine Beziehung über die Bindungspersonen auf den Rest der lebendigen Welt auszuweiten. So kommen wir von der »Sozialisierung« zur »Naturalisierung« der Kinder, mit der die künstlichen, von unserer Kultur aufgebauten Grenzen zwischen uns und dem Rest unserer evolutionären Verwandtschaft aufgehoben werden. Auf diese Weise wird die biophile Beziehung zur radikalsten Verwandlung des menschlichen Bewusstseins und beseitigt das letzte verbleibende »andere«. So erleben wir unsere Mitlebewesen als reale Verwandte und die Natur als unser erweitertes Zuhause.
Das ist kein Wunschdenken. Weitgehend unbeachtet von den Medien erfasst ein neues Phänomen die Schulen in aller Welt und verschiebt das Gewicht von der Sozialisierung auf die Naturalisierung. Die Waldpädagogik findet in Deutschland, Italien, Dänemark, Schweden, Großbritannien, den Vereinigten Staaten, Kanada, Australien, Neuseeland, China und Japan immer mehr Anhänger. Sie führt den Nachwuchs auf den Weg des biophilen Bewusstseins in der Hoffnung, die Beziehung der Menschheit mit dem Rest unserer evolutionären Familie zu verbessern.23
Dabei handelt es sich keineswegs um exotische Experimente. In Deutschland gibt es inzwischen rund zweitausend Waldkindergärten, in den Vereinigten Staaten immerhin fast 600.24
Die Kinder, meist im Alter von vier bis sechs Jahren, werden von ausgebildeten Waldpädagogen in die Natur geführt. Erzieher und Kinder erinnern mehr an ein Rudel als an eine Kindergartengruppe. Waldkindergärten sind bei jedem Wetter geöffnet, sommers wie winters. Oft ist der einzige geschlossene Raum eine Hütte, in der Proviant abgelegt wird. Toiletten gibt es keine, und die Kinder lernen, sich im Freien zu erleichtern, natürlich immer in Rufweite der erwachsenen Begleiter. Die Kinder dürfen sich nicht aus Sichtweite der Erwachsenen entfernen, doch sie dürfen auf eigene Faust die Natur erkunden, erfahren Flora und Fauna, lernen den Umgang mit der natürlichen Umgebung, erzählen von ihren Erlebnissen, stellen Fragen und tauschen sich untereinander aus.
Wenn die Coronapandemie und die Schließung der Schulen und Kindergärten etwas Positives gebracht haben, dann vielleicht das gestiegene Interesse an Wald- und Umweltpädagogik. Pädagogen und Eltern erkannten hier ein Gegenmittel sowohl gegen Lernen am Bildschirm als auch gegen das Infektionsrisiko. Während Kinder isoliert von Gleichaltrigen zu Hause saßen und die Stimmung schlecht war, erschien der Waldkindergarten als pragmatische Lösung. Die Kinderpsychotherapeutin Angela Hanscom beobachtete, wie »immer mehr Menschen nach draußen gehen, um mit den Herausforderungen von Covid fertigzuwerden«. Sie erklärte: »Kinder sind nun mal nicht dazu geschaffen, den ganzen Tag lang still vor dem Bildschirm zu hocken. Um das zu wissen, muss man kein Hirnforscher sein. Kinder müssen sich bewegen.«25
Traci Moren aus Berkeley in Kalifornien, Mutter zweier Söhne, sagte: »Die Berkeley Forest School hat alles verändert. Ohne sie würde unsere Familie nicht überleben. Die Kinder haben ihren Spaß, in der Natur toben sie sich aus und das Lernen kommt mit der Bewegung. Sie kommen zufrieden nach Hause.« Liana Chavarín, Gründerin der Berkeley Forest School, erklärt, die Umweltpädagogik »hilft beim Aufbau der Resilienz. Die Kinder haben das Gefühl, das Land gehört ihnen«.26
Waldpädagogen erklären, im Klassenzimmer des Waldes lernen die Kinder die komplexen Beziehungen in der Natur kennen, vor allem die dynamischen Anpassungen in einem lebendigen System. Joanna Ferraro, Gründerin der Oakland Early Ecology Preschool, meint: »Die Natur ist unser eigentlicher Lehrer. Man hat einen Plan, aber auf einmal fliegen ein paar Marienkäfer durch die Luft, und plötzlich haben Sie ein neues Thema. Und wenn unsere Neugierde geweckt wird, können wir stehen bleiben und einer Spinne zuschauen, solange wir wollen.«27
Erziehung in der Natur ist etwas ganz anderes, als allein auf einen toten Bildschirm zu glotzen. Chavarín sagt, das Lernen in der Natur, wo sich überall das Drama des Lebens auf neue Weise abspielt, bietet einen reichen Schatz an Erfahrungen, die allesamt die weitere Erkundung lohnen. »Alles, worüber die Kinder in der Natur stolpern, kann eine Lernerfahrung anstoßen. Ein toter Vogel ist Anlass für ein Gespräch über den Kreislauf des Lebens. Der Kuss eines Froschs wird zur Lektion über den Wasserkreislauf. Ein matschiger Bach wird zum Ort für ein Kunstprojekt mit Lehm. Wir sammeln Matsch und töpfern damit, und dann lernen wir, wie Ton gebrannt wird.«28
Am stärksten ist der biophile Instinkt bei Kindern unter sechs Jahren, später wird er von der traditionellen Schule ausgetrieben. Der australische Bildungsforscher Tony Loughland untersuchte Faktoren, die die Umweltvorstellungen von jungen Menschen prägen. Dazu fragte er 2 249 Schüler zwischen 9 und 17 Jahren, was sie mit dem Wort »Umwelt« verbinden. Die kurze Antwort lautet, dass die
beschränkteren Vorstellungen die Umwelt als eine Art Objekt auffassen, während umfassendere Vorstellungen erkannten, dass es Beziehungen zwischen Mensch und Umwelt gibt.29
Auffällig war, dass jüngere Kinder eher in Beziehungen dachten, und ältere die Umwelt eher als Objekt auffassten, was vermuten lässt, dass Kinder mit einer genetisch angelegten biophilen Orientierung zur Welt kommen, die dann durch das, was sie in der traditionellen Schule über ihr Verhältnis zur Umwelt lernen, nach und nach getilgt wird. Kinder stellen instinktiv eine Beziehung zu anderen Tieren her, sie kommunizieren mit ihnen und identifizieren sie als Verwandte in ihrer Großfamilie – auch dies ist in unsere Biologie eingeschrieben.
Untersuchungen zufolge handeln Träume von Kindern unter sechs Jahren zu 90 Prozent von Tieren.30 Andere Untersuchungen zeigen, dass kleine Kinder großes Interesse an anderen Tieren haben und ihre Nähe offen zum Ausdruck bringen, vor allem gegenüber Jungtieren.31 Diese biophile Beziehung wurde schon bei Kindern unter zwei Jahren beobachtet.32
Bleiben Kinder in Waldkindergärten in ihrer Entwicklung an irgendeinem Punkt hinter Gleichaltrigen in konventionellen Kindergärten zurück? Untersuchungen aus den vergangenen vier Jahrzehnten zeigen, dass das Gegenteil der Fall ist: In sprachlicher Ausdrucksfähigkeit, Konzentrationsfähigkeit, Achtsamkeit, Denkfähigkeit und emotionaler Reife waren die Waldkinder ihren Altersgenossen im Allgemeinen voraus.
Was bedeutet es für unseren Zusammenhang, dass Kinder die Natur als ihre ursprüngliche Gemeinschaft und bereichernden Ort erleben, zu dem sie eine tiefe innere Bindung haben, und dass dieser instinktive biophile Sinn in der schulischen Ausbildung unterdrückt wird, wenn sie lernen, dass die Natur eine bloße Ressource ist, die nur der Ausbeutung und der Befriedigung hedonistischer Konsumwünsche dient? Wieder kommen wir zu den beiden unterschiedlichen Begriffen von Freiheit. Wenn kleine Kinder ihre Naturerfahrung beschreiben, erwähnen sie immer wieder das Gefühl der Freiheit, wobei sie diese Freiheit als Teilhabe und tiefe Zugehörigkeit zu einer verwandten Lebenswelt erfahren. Mit zunehmendem Alter lernen sie in der Schule, die Welt »objektiv« zu beschreiben und Freiheit als Autonomie, Eigenständigkeit und Vereinzelung zu verstehen. Die Gleichsetzung von Freiheit und Autonomie passte bestens ins Zeitalter des Fortschritts mit seiner Vorstellung, dass jeder das unveräußerliche und von Gott gegebene Recht auf Leben, Freiheit und Eigentum hat, wobei Eigentum mit Glück gleichgesetzt wird. Diese Erzählung ist jedoch in einer Sackgasse angekommen und wirkt geradezu tödlich auf einer verwildernden Erde, auf der wir unsere Beziehung zu unserer natürlichen Gemeinschaft nur durch Resilienz, nicht durch Fortschritt wiederherstellen können.
Um die Erzählung der Menschheit für das Zeitalter der Resilienz neu zu schreiben, müssen wir die Erziehung unserer Kinder neu denken. Wir müssen ihnen gestatten, ihre natürlichen und in ihren Genen angelegten biophilen Impulse zum Ausdruck zu bringen und diese in Schule und Ausbildung weiterzuentwickeln. Es macht Hoffnung, dass viele Länder in ihren Schulen Fächer wie Umweltforschung und Umweltbildung eingeführt haben, das Schülern Nachhaltigkeit und die Natur nahebringen und so ihre biophile Sensibilität schärfen soll. Dort beschäftigen sich die Schüler mit dem Klimawandel und lernen vor Ort, oft im Rahmen eines Praktikums, Wildtiere zu beobachten, Veränderungen der Niederschlagsmengen zu messen, Bodenbeschaffenheit zu ermitteln, in Wassereinzugsgebieten Müll einzusammeln, die Kohlendioxidbilanz zu errechnen und regionale Ökosysteme zu pflegen.33
Bei einer Auswertung von über hundert wissenschaftlichen Untersuchungen, die sich mit den Auswirkungen des Umweltunterrichts beschäftigen, stellten Wissenschaftler der Stanford University fest, dass Schüler nicht nur Wissen erwerben, praktische Umweltforschung betreiben und Verantwortung für ihre Gemeinschaft übernehmen, sondern dass sie auch »ihr kritisches Denken schulen, persönliches Wachstum erfahren und praktische Alltagskompetenzen erwerben«, darunter auch »Selbstbewusstsein und Führungsqualitäten«. Außerdem motivierte der Umweltunterricht die Schüler auch zu verstärktem Engagement in der Zivilgesellschaft und zu einer Veränderung ihres Umweltverhaltens.34
Doch das Lernen endet nicht mit dem letzten Schultag. In den Vereinigten Staaten bieten inzwischen Hunderte Universitäten fächerübergreifende Kurse und Studiengänge zum Thema Umwelt an, um jungen Menschen ein Verständnis der Natur als komplexes adaptives soziales und ökologisches System nahezubringen.
Vor einem halben Jahrhundert war die Ökologie bestenfalls eine Fußnote im Fach Biologie, die sich in einer einzigen Vorlesung abhandeln ließ. Heute jedoch werden die Biologie und andere Fächer zunehmend von der Ökologie her neu gedacht und gelehrt.
Schulen und Universitäten treiben einen Paradigmenwechsel in der Pädagogik voran, der die kommenden Generationen darauf vorbereitet, als Spezies zu denken und zu handeln. Sie bauen eine Identität auf, die die jungen Menschen mitnehmen können – in ihr Berufsleben, das sich zunehmend um die Verantwortung für die Biosphäre drehen wird, aber auch in ihr Leben in der Zivilgesellschaft, in der sie sich im Rahmen von Bürgergremien am Schutz der Bioregionen beteiligen.
Zudem kommt eine neue Form der Wissenschaft auf, die sogenannte Bürgerforschung. In mehr als 500 000 Vereinigungen in aller Welt engagieren sich viele Millionen Menschen als Bürgerforscher und beobachten Wildtiere, überwachen die biologische Vielfalt, messen die Verschmutzung von Luft und Gewässern, ermitteln die Kohlendioxidbilanz, befreien Wassereinzugsgebiete von Müll, forsten Wälder auf, päppeln verletzte Wildtiere auf, messen den Nährstoffgehalt der Böden, beteiligen sich an der Erstellung von Notfallplänen für Klimakatastrophen und vieles mehr.35
In der Bürgerforschung erwerben Bürger eigene Erfahrungen im praktischen Umweltschutz; wissenschaftliche Erkenntnisse und Know-how erreichen die Breite der Gesellschaft und werden demokratisiert. Diese Arbeit bereitet kommende Generationen darauf vor, sich am Schutz ihrer regionalen Ökosysteme zu beteiligen und das praktische und technische Wissen zu erwerben, das nötig ist, um in ihren Bürgergremien Empfehlungen für Gesetze und Verordnungen zu geben.
Wenn wir nun Kindern und jungen Erwachsenen ein neues ökologisches Verständnis ihrer Selbst und der Menschheit als eingebettet in die Natur vermitteln, bringen wir ihnen das biophile Bewusstsein nahe. Die Coronapandemie verlieh dem Vorhaben unerwartet Flügel. Mit der Fortdauer der Pandemie schlug das Homeschooling in künstlicher Umgebung zunehmend in Verzweiflung um. Die virtuelle Welt war nicht mehr unterhaltsam und kein Zufluchtsort, sondern wurde immer mehr zum Fluch. Selbst unter den jungen Digital Natives, für die der Cyberspace fester Bestandteil der Wirklichkeit ist, machte sich das Gefühl breit, in der virtuellen Welt gefangen zu sein und nur noch in einer Simulation der Wirklichkeit zu leben. Immer mehr junge Menschen kehrten dem virtuellen Dasein den Rücken zu und gingen nach draußen, um den Wind auf der Haut zu spüren, in die Wolken am Himmel zu blicken, die Stimmen ihrer Mitlebewesen zu hören, die Lebenskraft der Erde aufzusaugen und eine Befreiung zu erleben.
Im Coronajahr 2020 besuchten sieben Millionen Amerikaner – überwiegend junge Menschen – die Nationalparks des Landes. New-York-Times-Kolumnist Timothy Egan beschrieb die unerwartete Wiederentdeckung der Natur mit den Worten »das Draußen ist überfüllt mit den Flüchtlingen des stickigen Drinnen« und führte aus:
Die Entstehung einer schlagkräftigen Lobby des Planeten könnte mit einer religiösen Erfahrung beginnen – der Moment, in dem das Grau der von Menschenhand gemachten Umwelt der Buntheit einer nicht von uns geschaffenen Welt weicht, erinnert an das Gefühl der Verliebtheit.36
Er fragte sich, ob diese neue Verliebtheit ein »Übergangsmoment« sein könnte, in dem die Menschheit ihre wahre Heimat wiederentdeckt – die Natur.
Es war Taylor Swift, die mit den beiden im Lockdown entstandenen Alben Folklore und Evermore diesen Hunger ihrer Generation zum Ausdruck brachte. Thema beider Alben war die tiefe Naturverbundenheit ihrer Kindheit. Während der Coronakrise hatte sie das biophile Bewusstsein ihrer jungen Jahre wieder entdeckt. Folklore erhielt 2021 den Grammy für das Album des Jahres. Wichtiger war jedoch, dass Taylor Swift damit für eine jüngere Generation sprach, die den Atem der Natur wiederentdeckte oder zum ersten Mal spürte – vielleicht ein Signal für die beginnende Enttäuschung über die Armseligkeit der virtuellen Welt und ein Erwachen für die Natur.37
Die beiden Alben, in denen Taylor Swift die Natur umarmt, kamen wie aus heiterem Himmel. Eine Untersuchung aus dem Jahr 2017 zeigte, dass Verweise auf die Natur seit den 1950er Jahren aus Büchern, Filmen und Liedern immer weiter verschwanden und neue Generationen in einer immer künstlicheren Umwelt aufwuchsen – erst vor dem Fernseher, dann vor dem Computer. Die Wissenschaftler »werteten 6 000 zwischen 1950 und 2017 entstandene Liedtexte aus und stellten fest, dass Begriffe aus der Natur um 63 Prozent abnahmen«.38 Sie kamen zu dem Schluss, dass sich jede Generation weiter in eine künstliche und virtuelle Realität verkroch, während die Natur in die Ferne rückte oder ganz aus der Alltagserfahrung verschwand.
Taylor Swifts Alben sind ein stiller Aufruf an ihre Generation, den Wind selbst zu spüren und an der Lebenskraft der Natur teilzuhaben. Ihre Lieder sind die Ode einer Generation, die den Weg zurück in die Arme einer lebendigen Erde findet.
In einem Artikel über die biologischen Grundlagen der Moral, den E. O. Wilson für das Atlantic Magazine schrieb, stellt er die Begriffe »Empathie« und »Bindung« in den Vordergrund. Wilson fragte sich, ob die Biophilie in das menschliche Erbgut eingeschrieben sein könnte. Er schrieb: »Diejenigen nachgewiesenermaßen erblichen Eigenschaften, die einem moralischen Sinn am nächsten kommen, sind ›Mitgefühl‹ mit dem Leid anderer und bestimmte Prozesse der ›Bindung‹ zwischen Kindern und Eltern.«39 Dabei belässt er es dann allerdings.
Andere Wissenschaftler gehen weiter und erforschen den Zusammenhang zwischen Empathie und Bindungsverhalten auf der einen Seite und der biophilen Beziehung zwischen Menschen und anderen Tieren beziehungsweise der Natur als Ganzer auf der anderen. Dabei nehmen sie eine Einschränkung vor: In diesem Fall ist Empathie »asymmetrisch«, denn im Gegensatz zur Empathie mit anderen Menschen ist es keine wechselseitige Erfahrung, auch wenn das Tier den emotionalen Zustand des Menschen möglicherweise spüren kann.40 Selbst wenn Tiere – allen voran Hunde – menschliche Emotionen wahrnehmen können, erleben sie sie anders. Das ändert jedoch nichts an unserer Fähigkeit, das Leid und Glücksstreben unserer Mitlebewesen wahrzunehmen wie unser eigenes, und unser Mitgefühl durch Fürsorge zum Ausdruck zu bringen.
Das Video einer Eisbärin und ihrem Jungen, die als Schiffbrüchige des Klimawandels auf einer Eisscholle festsaßen, rührte Millionen Menschen in aller Welt. Sie fühlten das Leid der Tiere, als wäre es ihr eigenes. Auch die Rettung eines von Waldbränden versengten Koala-Jungen wurde von Millionen mitfühlend mitverfolgt. Die meisten von uns kennen ähnliche Geschichten, haben mit einem misshandelten Hund mitgefühlt oder einen verletzten Vogel beschützt. Biophilie ist der nächste Schritt in der Evolution des empathischen Bewusstseins.
Das biophile Bewusstsein zeichnet sich durch die Ausdehnung der Empathie auf immer mehr Lebewesen aus. Allerdings gibt es einen tiefen inneren Widerspruch, den Historiker, Anthropologen und Philosophen bislang außer Acht gelassen haben. Auf diesen Widerspruch stieß ich 2003, als ich anfing, mich intensiver mit der Rolle der Empathie in der Entwicklung der Menschheit auseinanderzusetzen. Bereits in früheren Büchern hatte ich mich immer wieder mit der Empathie beschäftigt, aber nie eingehend. Damals beschloss ich jedoch, der Evolution der Empathie auf den Grund zu gehen – der Anthropologie und Geschichte sowie ihren Auswirkungen auf Familie, Gesellschaft, Wirtschaft, Herrschaft, Weltbild und andere zentrale Aspekte unseres Zusammenlebens. In meinem Buch Die empathische Zivilisation schrieb ich:
Dreh- und Angelpunkt in der Geschichte der Menschheit ist die widersprüchliche Beziehung zwischen Empathie und Entropie. Veränderte Energienutzung und Kommunikationsrevolutionen haben zur Entstehung immer komplexerer Gesellschaftsstrukturen geführt. Technologisch weiter entwickelte Kulturen wiederum boten den Menschen die Möglichkeit, ihr empathisches Bewusstsein zu erweitern. Doch je komplexer die sozialen Umfelder, umso höher der Energieverbrauch und umso dramatischer die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen. Die Ironie der Geschichte ist, dass sich unser wachsendes empathisches Bewusstsein überhaupt erst durch die immer größere Ausbeutung der irdischen Energiequellen und anderer verfügbarer Ressourcen und auf Kosten der Gesundheit unseres Planeten hat herausbilden können.
So stehen wir heute vor der traurigen Aussicht, ausgerechnet als Folge und zum Preis einer Zunahme von Entropie, die unsere Existenz selbst bedroht, eine Geisteshaltung zu entwickeln, die man als universelles globales Bewusstsein bezeichnen könnte. Ob wir in der Lage sind, das Empathie-Entropie-Paradoxon aufzulösen oder nicht, wird darüber entscheiden, ob unsere Spezies eine Zukunft auf der Erde hat. Jedenfalls erfordert es eine grundlegende Änderung unserer Denk-, Wirtschafts- und Gesellschaftsmodelle.41
Trotzdem ist Verzweiflung nicht angebracht. Das ideologische Bewusstsein, das Hand in Hand mit dem Zeitalter des Fortschritts und der auf fossilen Brennstoffen basierenden industriellen Infrastruktur ging, hat seine Attraktivität eingebüßt. Vor allem unter jüngeren Generationen ist das biophile Bewusstsein im Aufstieg und verspricht eine Ausweitung der Empathie auf die gesamte Natur. Die Gegenreaktion auf einen Bewusstseinswandel dieser Größenordnung wird nicht ausbleiben. Schon heute regen sich die Überreste älterer Bewusstseinsformen, um ihren schwächer werdenden Einfluss auf die Menschheit zu wahren. Die Geburt des biophilen Bewusstseins und die Ausweitung der Empathie auf unsere Mitlebewesen geht weit über wirtschaftliche und politische Erwägungen hinaus zum Kern der Selbstwahrnehmung der Menschheit.
Wenn das animistische Bewusstsein auf Blutsbanden, Ahnenkult und die ewige Wiederkehr gründete, das religiöse Bewusstsein in der Erlösung im Himmelreich und das ideologische Bewusstsein im materiellen Fortschritt und der technischen Unsterblichkeit, was ist dann das Fundament des biophilen Bewusstseins? Der Siegeszug der Biophilie führt das menschliche Narrativ aus seiner Autonomie-Fixiertheit heraus und stellt die Beziehung in den Mittelpunkt. René Descartes‹ klassischer Ausspruch »Ich denke, also bin ich« ist längst passé bei einer jüngere Generation, die im Cyberspace und einer lateral vernetzten physischen Welt aufwächst. Auf sie trifft eher der Leitspruch »Ich habe teil, also bin ich« zu. In diesem neuen Zeitalter der unaufhörlichen Anpassung zahlloser interaktiver Akteure weicht die Vorstellung der Autonomie dem Prinzip der Beziehung. Wenn unsere Erde durch einander überlappende Prozesse geprägt ist und nicht durch miteinander ringende Kräfte, dann ist allein die Vorstellung des Menschen als autonomem Akteur, der seine Souveränität in einer Welt konkurrierender Akteure absteckt und verteidigt, eine Sache der Vergangenheit. Genau wie unsere im Zeitalter des Fortschritts entstandene Vorstellung von Gleichheit.
Im Zeitalter des Fortschritts wurde Gleichheit aus der Autonomie hergeleitet. Um für Gleichheit einzutreten, muss man an die Autonomie glauben. Insoweit ich mich als autonomen Akteur begreife, kann ich Gleichheit einfordern. Gleichheit ist territorial. Wenn es in unserer Natur liegt, nach Autonomie zu streben, dann folgt uns das Bedürfnis nach Gleichbehandlung wie ein wachsamer Begleiter, der immer darauf achtet, dass unsere Autonomie gewahrt bleibt.
Das ideologische Bewusstsein ist untrennbar mit dem Gedanken der Autonomie verbunden. Auf diesem Fundament wurde das Zeitalter des Fortschritts errichtet. In dieser Epoche sind »Menschenrechte« die Messlatte, mit der Autonomie eingefordert und gesichert wird – das heißt, jeder Einzelne pocht auf dem unveräußerlichen Recht auf körperliche, geistige und spirituelle Autonomie. Im großen Maßstab würden die Menschenrechte die Existenz von acht Milliarden autonomen menschlichen Akteuren bedeuten, die frei und ungehindert ihrem Leben nachgehen, solange sie die Autonomie der anderen nicht verletzen.
Aber was wäre, wenn keiner von uns ein autonomer Akteur wäre, weder politisch und schon gar nicht im Grunde unseres biologischen Daseins? In den vorangegangenen Kapiteln haben wir gesehen, dass jeder Mensch und jedes Lebewesen einmalig, aber nicht autonom ist, zumindest nicht in biologischer Hinsicht. Wir sind vielmehr die Verkörperung aller Beziehungen, in die wir im Laufe unseres Lebens eingetaucht sind, von der Zeugung bis zum Tod und sogar noch darüber hinaus.
Die interaktive Herangehensweise an das Verständnis der Natur und des Menschen zwingt uns, das philosophische und politische Narrativ des Zeitalters des Fortschritts grundlegend zu überdenken. Wenn die Wirklichkeit in jedem Moment unseres Lebens partizipativ ist, dann können wir auch unser Selbst nur in Beziehung zu anderen erleben. Das heißt, je reichhaltiger, vielfältiger und intensiver die Beziehungen, umso tiefer sind wir in das eingebettet, was wir unser Dasein nennen.
Das biophile Bewusstsein ist der tiefste Ausdruck der Gleichheit – keiner aus Autonomie, sondern einer aus der Teilhabe geborenen Gleichheit. Der reinste Ausdruck der Gleichheit ist keine durch Gesetze und Erklärungen zugesicherte Anerkennung, sondern der einfachste Akt der Empathie. Wenn wir das Leid und Glücksstreben eines anderen so tief empfinden wie unser eigenes, knüpfen wir das engste Band – das Gefühl des Einsseins auf der Reise des Lebens. Der Theologe Martin Buber brachte es auf den Punkt: In diesem Moment gibt es kein »Mein und Dein«, sondern nur »Ich und Du«.42 Die mitfühlende Umarmung ist der ultimative politische Gleichmacher. Sie schiebt alle Unterschiede beiseite und kennt nur einander verbundene Gefährten.
Die Evolution der Empathie zeichnet sich aus durch die zunehmende Beseitigung des »anderen«, bis es nur noch »einer für alle und alle für einen« gibt. In diesem Zusammenhang sind die Evolution der Empathie und die Evolution der Gleichheit nicht voneinander zu trennen. Wir, das Gemeinwesen, tauchen auf der grundlegendsten politischen Ebene, unseren Gemeinschaften, in das Leben aller anderen ein. Unser mitfühlendes Miteinander – also unser biophiles Bewusstsein – wird zur Sensibilität, mit der wir die Lebenskräfte unseres kleinen Teils der Biosphäre, in dem wir leben, nicht nur managen, sondern behüten.
Im Zeitalter des Fortschritts war die Souveränität des Einzelnen die Grundlage der Demokratie, auch wenn diese beiden nicht leicht zu vereinbaren sind. Wenn jeder wahrhaft souverän und allen anderen gegenüber zu nichts verpflichtet ist, wie können wir dann in einer Demokratie zusammenleben? Warum sollten wir uns dem Willen eines anderen Souveräns beugen? Demokratie ist nur möglich, wenn wir uns im anderen erkennen. Damit wird Empathie zum Bindemittel der Demokratie. Wenn die Empathie der eigentliche Ausdruck der Gleichheit ist, dann muss es auch der emotionale Funke der Demokratie sein.
Die Empathie weitete sich gemeinsam mit der Evolution der Demokratie aus. Je mitfühlender eine Kultur, umso demokratischer ihre Werte und Herrschaftsformen. Und je weniger mitfühlend eine Kultur, umso totalitärer ihre Werte und Herrschaftsformen. Das liegt auf der Hand, und umso unverständlicher ist es, wie wenig Beachtung der Zusammenhang zwischen Empathie und Demokratie gefunden hat. Die Ausweitung der repräsentativen Demokratie zur verteilten Peerocracy und von souveräner Herrschaft zu bioregionaler Verantwortung wird nur insoweit erfolgen, als sich das Gemeinwesen das empathische biophile Bewusstsein zu eigen macht.
Auch die Resilienz stellt sich aus Sicht der Empathie ganz anders dar, als wir es gewohnt sind. Resilienz bedeutet ursprünglich, die Moral und den Charakter zu haben, um sich von persönlichen Rückschlägen zu erholen und seine Autonomie zurückzugewinnen. Es bedeutet, über die physische, mentale und emotionale Kraft zu verfügen, die nötig ist, um das Selbst wiederherzustellen, statt sich auf andere Menschen oder günstige Umstände verlassen zu müssen oder einfach unterzugehen. Resilienz bedeutete, unverwundbar gegenüber allen erdenklichen destabilisierenden äußeren Umständen zu sein, es bedeutete, stark zu sein.
Das über Beziehungen verstandene Selbst erhält seine Resilienz jedoch gerade daraus, dass es offen und verwundbar für »die anderen« ist, und nicht abgeschlossen und autonom. Mit seiner Offenheit für den Austausch lebensbejahender Erfahrungen schafft es ein reiches Netz von Beziehungen, die seine Resilienz stärken. Das biophile Bewusstsein erweitert die Teilhabe an der Natur, lässt sich von ihren lebensbejahenden Kräften stärken und durch das Leben tragen.
Diese Vorstellung der Resilienz ist nicht neu. Zwei Jahrhunderte bevor E. O. Wilson das biophile Bewusstsein beschrieb, sah Johann Wolfgang von Goethe im biophilen Bewusstsein einen Gegenentwurf zu Newtons steriler Vision eines toten, rationalen und mechanistischen Universums. Goethe war der Ansicht, dass unser Selbst und unsere Resilienz aus den Beziehungen entstehen, die uns mit dem Stoff des Lebens verweben. »Natur! Wir sind von ihr umgeben und umschlungen – unvermögend aus ihr herauszutreten, und unvermögend tiefer in sie hineinzukommen.«43
Goethe staunte über die einfache Tatsache, dass jedes Lebewesen einmalig und doch Teil einer großen Einheit ist: »Jedes ihrer Werke hat ein eigenes Wesen, jede ihrer Erscheinungen den isoliertesten Begriff und doch macht alles eins aus.« Er erlebte die Natur als stets in Veränderung, im Fluss, in Entwicklung, und immer neue Realitäten hervorbringend. Im Gegensatz zu den rationalen Wissenschaftlern seiner Zeit begriff er die Natur nicht als fest und unveränderlich, sondern als etwas, das vor Neuem pulsierte und voller Überraschungen und Synergien war. Er schrieb:
[Sie] verwandelt sich ewig und ist kein Moment Stillstehen in ihr … Sie spritzt ihre Geschöpfe aus dem Nichts hervor und sagt ihnen nicht, woher sie kommen und wohin sie gehen. Sie sollen nur laufen; die Bahn kennt sie.44
Goethe kannte das Mitgefühl, lange bevor es die Wissenschaft entdeckte: Er beschrieb es als die Fähigkeit, sich »in die Zustände anderer zu finden, eine jede besondere Art des menschlichen Daseins zu fühlen und mit Gefallen daran teilzunehmen«.45 Über sich und seine Zeit reflektierend, schrieb er: »Dann tritt das schöne Gefühl ein, dass die Menschheit zusammen erst der wahre Mensch ist, und dass der Einzelne nur froh und glücklich sein kann, wenn er den Mut hat, sich im Ganzen zu fühlen.«46
Für Goethe endete »das Ganze« jedoch nicht bei unserer Spezies, sondern umfasste die gesamte Natur. Er lieferte die erste Beschreibung dessen, was wir heute Biophilie nennen – das Mitfühlen mit allem Leben. Unsere individuelle Resilienz erhalten wir aus unserer biophilen Einbettung. Sie ist die Verwirklichung dieses unzerstörbaren Bandes, das uns gegenüber allen Rückschlägen widerstandsfähig macht.
Wobei wir uns daran erinnern sollten, dass die Empathie neben der emotionalen auch eine kognitive Dimension hat, die unsere Vorstellungen von der Natur des Daseins und unserer Beziehung zu ihm prägt. Was wir über das Dasein wissen, das wissen wir aus der Begegnung mit dem anderen. Wenn es keine anderen gäbe, dann hätten wir keinerlei Bezugspunkt, um Vergleiche anzustellen und zu wissen, dass wir wirklich lebendig sind und existieren. Unser Dasein erhält seine Realität nur durch den anderen.
Unser mitfühlendes Gehirn hält uns fortwährend an, über uns hinauszugehen, das Leben zu erfahren und mit dieser Erfahrung Verbindung zu unserer Umwelt herzustellen und uns ihr anzupassen. Wir wissen, wie wichtig das Mitgefühl ist, denn ohne das Mitgefühl wären wir nicht in der Lage, die Zerbrechlichkeit des Lebens eines anderen Menschen und sein Streben nach Entfaltung zu spüren. Es sind diese Momente, in denen wir Ehrfurcht vor der Existenz empfinden. Und ohne Ehrfurcht könnten wir nicht staunen. Ohne Staunen hätten wir aber keine Vorstellungskraft, und ohne Vorstellungskraft könnten wir uns nicht selbst transzendieren. Und wenn wir nicht in der Lage wären, uns selbst zu transzendieren, könnten wir nicht mit anderen mitfühlen. Nur durch dieses Geflecht kennen wir unser Dasein und leben wir unser Leben. Wir erleben es nicht als ein Nebeneinander, sondern als ein Ganzes. Durch Ehrfurcht, Staunen, Vorstellungskraft und Selbsttranszendenz, ermöglicht durch die Empathie, sind wir in der Lage, auf der Suche nach dem Sinn des Daseins über uns selbst hinauszureichen. Das sind die Grundelemente des empathischen Impulses. Sie sind es, die uns zum Menschen machen.
Ob bewusst oder unbewusst, uns begleitet die Sinnsuche in jedem Moment unseres Lebens. Insoweit wir unsere Empathie nähren, leben und erleben wir unser Leben in größerer Fülle. Das wissen wir, denn wenn wir am Ende eines Lebens zurückblicken, dann erinnern wir uns besonders lebhaft an die Momente der mitfühlenden Umarmung – das sind die Momente, die unserem Leben Sinn geben.
Für die großen Philosophen der Aufklärung und der Moderne war körperliches Erleben bestenfalls unbedeutend und schlimmstenfalls verderblich, weshalb sie das Alpha und Omega des menschlichen Daseins – die große Frage danach, was und wer wir sind – in den Gewissheiten der Mathematik und der reinen Vernunft suchten, statt in der mitfühlenden Selbsttranszendenz. Dieses irrige Verständnis unserer Menschlichkeit hat unserer kollektiven Psyche schweren Schaden zugefügt. Aber noch größer war der Schaden für die Natur und unsere Mitlebewesen.
Glücklicherweise verlieren ihre verqueren Vorstellungen der menschlichen Natur heute an Zuspruch, denn inzwischen erkennen wir, wohin sie unsere Zivilisation geführt haben – ein sicheres Zeichen dafür, dass unsere Vorstellung von der Reise der Menschheit eine Wende nimmt. Das sehen wir zum Beispiel daran, dass die Wissenschaftsgemeinde auf der Suche nach Antworten auf die tiefsten Fragen nach dem Sinn des Daseins und dem Platz der Menschheit neue Wege einschlägt. Der neue Ansatz der komplexen adaptiven sozialen und ökologischen Systeme ist ein Ausdruck des neuen Denkens über das Denken. Neuere Untersuchungen von Menschen, die in Systemen denken, beobachten »eine gesteigerte Fähigkeit für die fremdbezogenen Komponenten der kognitiven und affektiven Empathie«.47
Im Zeitalter der Resilienz müssen wir unsere Empathie vertiefen und die nächste Phase der empathischen Erweiterung anstreben – ein biophiles Bewusstsein, das die Menschheit in die Familie des Lebens zurückführt. Der Lackmustest ist die Erziehung, die wir unseren Kindern angedeihen lassen, um ihre Ehrfurcht zu wecken – auch vor den furchteinflößenden Zuckungen der Erde. Dieses neue Gefühl der Ehrfurcht mag überwältigend sein, doch es kann auch befreien. Wenn wir uns diesem Gefühl stellen, kann es ein umfassenderes Staunen wachrufen und unsere kollektive Vorstellungskraft beflügeln, um neue Wege der Anpassung an die Natur zu entdecken und resilient zu werden – nicht nur zu überleben, sondern gemeinsam mit unserer evolutionären Großfamilie zu einer neuen und unerwarteten Blüte zu finden.
Wir sind die großen Nomaden der Geschichte, auf tausendundeiner Wanderung über Kontinente und Ozeane, im Kampf gegen tückische Klimaturbulenzen und Fährnisse aller Art, rastlos auf der Suche nach unserer Heimat, unserem Platz in der Welt. Unser übergroßes Gehirn auf unserem zweibeinigen Körper ist uns dabei Fluch und Segen zugleich. Wenn eine Spezies auf diesem Planeten als Ausnahme gelten darf, dann sicherlich wir. Keine andere Spezies wird derart von der Frage nach dem Warum verzehrt, während alle unsere Verwandten bestens mit dem Wie umgehen. Warum ist dieser mitfühlende Impuls so tief in unseren neurologischen Schaltkreisen verankert? Warum kennen von allen Lebewesen nur wir Ehrfurcht und Staunen, warum wissen nur wir um unsere Sterblichkeit?
Lange haben wir in der Überzeugung gelebt, dass alles jenseits von uns nur tumbe Materie ist, Ressourcen, die für uns nur insofern Bedeutung haben, als sie unsere hedonistischen Triebe und Bedürfnisse befriedigen. Doch der mitfühlende Impuls pocht unermüdlich in unserem Gehirn, er macht sich im Leben des Einzelnen immer wieder bemerkbar und weitet sich in historischen Schritten auf immer mehr Angehörige unserer Art aus, nur um dann wieder in sich zusammenzufallen und uns ins Dunkel zu stürzen.
Was treibt uns an, wenn nicht die Suche nach einem Ort der sicheren Bindung in dieser Welt? Was heißt es, so von Angst beladen zu sein? Wenn Aliens zu Besuch kämen und Zeuge unserer Misere würden, dann würde ihnen vielleicht als unsere ungewöhnlichste Eigenschaft unsere Sehnsucht nach allumfassender Nähe auffallen – eine Art Widerspruch in sich. Wie kann eine Erfahrung sowohl allumfassend als auch nah sein? Doch das scheint unser Kreuz zu sein oder vielleicht auch eine transzendente Gabe von unschätzbarem Wert.
Die Reise war lang, berauschend, manchmal anstrengend, und heute, genau in dem Moment, in dem wir das Ende unseres irdischen Daseins spüren, finden wir endlich den Weg nach Hause. Das biophile Bewusstsein der Menschheit erwacht, das Gefühl der allumfassenden Nähe, des Einsseins mit der Lebenskraft der Erde.
Der britische Philosoph Owen Barfield schilderte im letzten Jahrhundert das Drama des menschlichen Abenteuers. Er teilte es in drei große Akte ein, von denen jeder mit einem tiefgreifenden Wandel des menschlichen Bewusstseins und einer neuen Weltsicht einhergeht.
Unsere jagenden und sammelnden Vorfahren spürten kaum einen Unterschied zwischen sich und ihren Mitlebewesen. Sie lebten in tiefer Teilhabe mit der natürlichen Welt und passten sich fließend an die Rhythmen, Jahreszeiten und Kreisläufe der Erde an. Sie lebten in Gemeinschaft und organisierten ihr Zusammenleben in Kohorten, nicht in Hierarchien. Sie sahen die Welt als Animisten und erlebten ihre Mitlebewesen als verwandte Geister, deren Dasein tief mit dem ihren verwoben war. Das animistische Bewusstsein hatte keinen Platz für das, was spätere Generationen »Geschichte« nennen sollten, und war zufrieden mit der ewigen Wiederkehr des Jahreskreises.
Mit einem Leben in Gemeinschaft, ohne Differenzierung von Rollen und ohne Überschüsse, deren Verteilung Unterschiede und Hierarchien hätten hervorbringen können, blieb das Selbst weitgehend unentwickelt. Die Menschen lebten nicht als Ansammlung von Einzelpersonen, sondern als gemeinschaftliches Wir in einer »undifferenzierten gewaltigen Einheit«, wie Psychologen es heute nennen könnten. Ihr Bewusstsein lebte im Wechsel aus Biophilie und Biophobie, wie sie ihrer tiefen Teilhabe an der Natur entsprach.
Von dort aus führte unsere Reise zu den großen landwirtschaftlichen Zivilisationen und dann weiter ins Industriezeitalter. Unterwegs entfernte sich die Menschheit immer weiter von der Natur und sah in ihr immer mehr einen passiven Hort von Ressourcen, die keinen Wert hatten, solange sie nicht von Menschen ausgebeutet und zu nützlichen Gütern verarbeitet wurden. Heute lebt die Menschheit in immer engmaschigeren Gesellschaften mit immer stärker ausdifferenzierter Arbeitsteilung, in immer ausgedehnteren Infrastrukturen für Milliarden von Menschen, die nebeneinander her leben und immer stärker vom Rest des Lebens abgeschirmt sind. Ein Durchschnittsamerikaner verbringt heute 90 Prozent des Tages in klimatisierten und künstlich beleuchteten Innenräumen, fern der Natur, die die Menschen während mehr als 95 Prozent ihres irdischen Daseins ihre Heimat nannten.48
Dieses Gefühl der Sicherheit, das eine von uns geschaffene künstliche und nun sogar virtuelle Welt vorgaukelte, war nie mehr als eine Illusion. Wir haben uns unserer ursprünglichen Heimat entfremdet und uns dabei eingebildet, wir hätten uns eine autonome Existenz geschaffen. Doch heute zahlen wir den Preis für unsere Torheit – die Entropiezeche der Treibhausemissionen und des sechsten Artensterbens in der Geschichte der Erde. Doch wir können etwas lernen.
Klimawandel und Pandemien haben uns gelehrt, dass alles, was wir auf dieser Welt tun, direkte Auswirkungen auf alles andere hat, und umgekehrt. Wir sind uns bewusst geworden, dass kein Mensch eine Insel ist, und dass wir keine autonomen Akteure sind, die auf die Welt wirken, sondern dass unser Dasein von allen anderen lebenden Akteuren und der Dynamik der irdischen Sphären abhängig ist. Diese nicht verhandelbare Wirklichkeit ist die treibende Kraft hinter der Weiterentwicklung des biophilen Bewusstseins – des tiefen Mitfühlens mit allem Leben. Umso mehr, als heute unsere ganze Zukunft auf dem Spiel steht.
Barfield sah die Menschheit an der Schwelle einer dritten großen Phase des Bewusstseins – eine Bekräftigung unserer Verwandtschaft mit der natürlichen Welt. Dieser biophile empathische Sprung ist eine bewusste Entscheidung zu einer rückhaltlosen Teilhabe am Leben des Planeten und zur allumfassenden Nähe. Dahinter steht kein blinder Aberglaube, sondern das tiefe, mitfühlende, achtsame und kognitive Verständnis unserer unverbrüchlichen Bindung an das Leben selbst.
Es war eine lange und epische Reise, die die Menschheit wieder heimgeführt hat – geerdet und hoffentlich erneuert und bereit für den kommenden Kraftakt der Wiederbelebung des Lebens. Die Erde erwartet uns.