SIEBTES KAPITEL

RUSSLAND: IM RÜCKWÄRTSGANG

»Die Erde ist die Wiege der Menschheit,
aber man kann nicht für immer in der Wiege bleiben.«

Konstantin ZiolkowskiZiolkowski, Konstantin

Das russische Sojus-TMA-14M-Raumschiff
nach der Landung in der Nähe der Stadt Schesqasghan in Kasachstan, 12. März 2015.

RusslandRussland hat der Welt gezeigt, dass es fähig und bereit ist, Raketen in dicht besiedelte Städte zu schießen, aber die Leistungen bei den Raketenstarts in den Weltraum lassen offenbar nach. Das eine und das andere haben viel miteinander zu tun.

Als russische Truppen im Februar 2022 in die UkraineUkraine einfielen, verkündete die amerikanische Regierung noch am selben Tag weitreichende Sanktionen gegen MoskauMoskau. Dazu gehörten auch solche, die »ihre Luft- und Raumfahrtindustrie, einschließlich des Weltraumprogramms lähmen« sollten. Halbleiter, Laser, Sensoren und Navigationsgeräte wurden mit einem Embargo belegt.

Dmitri RogosinRogosin, Dmitri, der damalige Chef der russischen Raumfahrtorganisation Roskosmos, ließ sich davon nicht beeindrucken. RusslandRussland und die Vereinigten StaatenUSA hatten seit 1998 auf der Internatio­nalen Raumstation ISSISS zusammengearbeitet, aber in einem Tweet an seine 800 000 Follower schrieb er: »Wenn ihr jetzt die Zusammenarbeit blockiert, wer soll dann die ISS retten, wenn sie unkon­trolliert aus dem Orbit fällt und auf amerikanisches oder europäisches Territorium stürzt?« (Die Russen steuern den Vorschub, der nötig ist, um die Raumstation in der Bahn zu halten, während die Amerikaner das Lebenserhaltungssystem beisteuern.)

So weit, so normal. RogosinRogosin, Dmitri hatte sich auch schon früher als wackerer Nationalist gezeigt, als er den Amerikanern empfahl, sich mit einem Trampolin an Bord der ISSISS befördern zu lassen, wenn ihnen die russischen Raketen nicht mehr gut genug wären, die sie seit einigen Jahren benutzten. Am Tag, nachdem die Sanktionen verhängt wurden, machte er einen neuen Vorschlag: »Die Amerikaner können ja ihre Hexenbesen benutzen.«

Drei Wochen später schlug SpaceXSpaceX zurück. Elon MuskMusk, Elon war, wie erwähnt, gerade dabei, seine Starlink-Satelliten in den Dienst der UkraineUkraine zu stellen. Kurz bevor sich am 7. März eine Falcon-9-Rakete von SpaceX mit einem großen Paket Satelliten an Bord in die Lüfte erhob, hörten alle, die das Spektakel per Live-Übertragung verfolgten, die Stimme der unbekannten Chefin des Bodenpersonals, die zu ihrem Team sagte: »Jetzt ist es Zeit, die amerikanischen Besen fliegen und die Stimme der Freiheit erklingen zu lassen!«

Herr RogosinRogosin, Dmitri nannte bald darauf den ehemaligen amerikanischen Astronauten Scott KellyKelly, Scott einen Trottel, deutete an, dass die Russen einen amerikanischen Astronauten auf der ISSISS »vergessen« könnten, und ließ einen Film zeigen, in dem man sah, wie Techniker die »Stars and Stripes« überklebten, die eine Sojus-­Rakete geschmückt hatten. Kelly schlug rasch zurück: »Ohne diese Fahnen und die Devisen, die sie euch einbringen, ist euer Raumfahrtprogramm ganz schnell pleite. Vielleicht kriegen Sie ja einen Job bei McDonald’s, wenn es McDonald’s bei euch noch gibt.« Nein, gibt es nicht mehr in RusslandRussland.

Alles prima Kasperletheater, aber gleichzeitig wurden wir Zeugen davon, wie eine jahrzehntealte Raumpartnerschaft abstürzte und ausbrannte. Damit ging eine Beziehung zu Ende, die für die Wissenschaft, die politische Entspannung und die Menschheit nützlich gewesen war. Die geopolitischen Bruchlinien im Weltraum wurden neu gezogen. Die Ereignisse des Jahres 2022 machen es wahrscheinlicher, dass sich RusslandRussland von der Erforschung des Weltraums zurückziehen und auf die militärischen Notwendigkeiten beschränken wird. Gleichzeitig beschleunigte sich die Spaltung der Raumfahrtnationen in zwei Blöcke. Im einen führt ChinaChina, im anderen führen die USAUSA.

Die Auswirkungen sind erheblich. Unmittelbar nach der Invasion der UkraineUkraine und der Verkündung der Sanktionen erklärte RusslandRussland, es werde den USAUSA künftig keine Raketentriebwerke mehr verkaufen. Das traf die USA allerdings nicht allzu hart, da sie sich hinsichtlich der Raumfahrt ohnehin von Russland unabhängiger machen wollten. DeutschlandDeutschland ließen die Russen wissen, dass die Zusammenarbeit an wissenschaftlichen Experimenten auf der ISSISS eingestellt werden müsse. Die Deutschen reagierten damit, dass sie die wissenschaftliche Zusammenarbeit mit Russland auf den verschiedensten Gebieten kappten. Dazu gehörte auch, dass das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt am 26. Fe­bruar 2022 das eROSITA-Teleskop des Max-Planck-InstitutsMax-Planck-Institut abschaltete, mit dem Russen und Deutsche zusammen Schwarze ­Löcher erforschen wollten.

Roskosmos stoppte daraufhin die Sojus-Raketenstarts auf dem europäischen Startplatz Kourou in Französisch-GuayanaFranzösisch-Guayana und zog seine Spezialisten ab. Von Kourou aus war unter anderem das James-Webb-Teleskop in den Orbit gebracht worden. Dass die Zusammenarbeit mit den Russen suspendiert wurde, verzögerte auch das ExoMars-Programm der ESAESA, das nach Leben auf dem MarsMars suchen soll. Am 12. Juli 2022 beendete die ESA offiziell die Zusammenarbeit mit Roskosmos und suchte nach einer neuen Transportmöglichkeit für die Marssonde. Dass Roskosmos ein paar Tage zuvor Bilder von russischen Kosmonauten an Bord der ISSISS gezeigt hatte, die Fahnen der sogenannten Volksrepubliken DonezkDonezk und LuhanskLuhansk hielten, war wohl der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.

Roskosmos erklärte außerdem, dass es nicht länger bereit sei, sechsunddreißig Satelliten der Londoner Firma OneWeb ins All zu befördern, wenn diese nicht verbindlich versicherte, dass die Satelliten nicht für militärische Zwecke benutzt würden. Sie hatten vom Kosmodrom Baikonur in KasachstanKasachstan in Umlauf gebracht werden sollen. Eine weitere Bedingung der Russen: Die britische Regierung (die OneWeb 2020 vor dem Bankrott bewahrt hatte) solle sich aus dem Aktionärskreis von OneWeb zurückziehen. Die Firma verzichtete daraufhin auf die Hilfe der Russen und erklärte, sie wolle keine Starts mehr in Baikonur. Obwohl OneWeb ein Konkurrenzunternehmen für Spacelink ist, wurden seine Satel­liten stattdessen von SpaceXSpaceX gestartet.

Es gibt viele Verlierer in diesem Retourkutschen-Rennen, unter anderem auch Dmitri RogosinRogosin, Dmitri selbst, der ein paar Tage nach dem Bruch zwischen der ESAESA und Roskosmos von der russischen Raumfahrtbehörde entlassen wurde. Die größten Verlierer aber sind RusslandRussland und sein Weltraumprogramm, dessen Niedergang unausweichlich scheint.

Der russische Marktanteil am Verkauf von Raketentriebwerken, an Dienstleistungen beim Start von Satelliten und an der Beförderung von Astronauten zur ISSISS war ohnehin schon zurück­gegangen. Nachdem die amerikanische Space-Shuttle-Flotte 2011 außer Dienst gestellt worden war, hatte sich die NASANASA zwar eine Zeit lang auf Mitfahrgelegenheiten in den russischen Sojus-Raketen verlassen müssen, um ihre Astronauten zur Raumstation zu befördern. Aber seit 2020 gibt es eine Alternative: die Dragon-­Raketen von SpaceXSpaceX.

Wegen der besonderen Situation an Bord der ISSISS mussten dort trotz der Aufregung die normalen Arbeitsbeziehungen aufrechterhalten werden. Jetzt allerdings sieht es so aus, als ob RusslandRussland nicht dazu beitragen wird, die Lebenszeit der Raumstation über 2030 hinaus zu verlängern. Und angesichts des jämmerlichen Zustands der Beziehungen zwischen MoskauMoskau und WashingtonWashington ist es sehr unwahrscheinlich, dass die NASANASA Roskosmos einladen wird, sich am Bau des Lunar Gateway zu beteiligen, bei dem sie federführend ist. Auch die amerikanischen Privatunternehmen werden nicht gerade Schlange stehen, um sich bei ihren vielen Plänen für kommerzielle Raumstationen mit Roskosmos zu verpartnern.

RusslandRussland ist zu einem Zeitpunkt von den meisten Koopera­tionen, von Finanzierungsmöglichkeiten und auch vom Wissens­transfer auf dem Planeten ausgeschlossen, an dem sich die Raumfahrt sehr viel schneller entwickelt als in den Jahrzehnten zuvor. Russlands beste Zeiten auf diesem Gebiet sind wohl vorbei, und seine Zukunft besteht noch am ehesten in einer Partnerschaft mit ChinaChina. Gemessen an der glanzvollen Vergangenheit, als der rote Stern so hell am Firmament der Wissenschaft und des mensch­lichen Strebens leuchtete, ist das ein ziemlicher Abstieg.

*

Die Russen haben seit dem Sputnik im Jahre 1957 und dem Raumflug von Juri GagarinGagarin, Juri 1961 durchaus noch ein paar fabelhafte Premieren gehabt. Auch nachdem sie das Rennen zum MondMond nicht gewonnen hatten, haben sie im Weltraum große Erfolge erzielt. Sie flogen zum MarsMars und zur VenusVenus, sie haben schon 1971 die erste Raumstation in den Unteren Umlaufbahnen gebaut (Saljut 1) und konzentrierten sich auf Technologien, die eine dauerhafte Präsenz des Menschen im Weltraum ermöglichen. Aber ihr Erfolg war nicht anhaltend.

Im Dezember 1991 wurde die SowjetunionSowjetunion aufgelöst, und im Frühjahr darauf wurde das sowjetische Raumprogramm durch die Raumfahrtagentur der Russischen Föderation übernommen, aus der schließlich Roskosmos wurde. Trotz der führenden Rolle bei der ISSISS kürzte die russische Regierung dem Raumfahrtprogramm wegen der wirtschaftlich schwierigen Lage während der Neunzigerjahre ständig die Mittel.

Und auch auf der ISSISS ging einiges schief. Eine ganze Serie von Zwischenfällen verärgerte die Partner der Russen.

Am 12. August 2021 zum Beispiel veröffentlichte die staatliche Nachrichtenagentur TASS einen sehr ungewöhnlichen Artikel über die Astronautin Serena Auñón-ChancellorAuñón-Chancellor, Serena. Ohne irgendwelche Beweise beschuldigte TASS die Amerikanerin, sie hätte 2018 unter dem Einfluss einer »akuten psychologischen Krise« ein Loch in eine an die ISSISS angedockte Sojus-Kapsel gebohrt. Der Grund? Der verleumderische Bericht behauptete, die Astronautin habe gehofft, dass der allmähliche Druckabfall dazu führen würde, dass die Astronauten alsbald evakuiert und nach Hause gebracht werden müssten.

Ein solches Loch (zwei Millimeter im Durchmesser) gab es tatsächlich, und es wurde gestopft. Wo und wann es gebohrt wurde, ist nicht ermittelt worden. Die Frage, ob dies nicht schon vor dem Start auf dem Boden passiert ist, blieb offen. Aber die Vorstellung, dass eine amerikanische Astronautin dieses Loch absichtlich gemacht hätte, war mehr als lächerlich. Man hatte den Eindruck, dass hier eine Schuldige gesucht wurde. Die Russen schickten sogar zwei Kosmonauten »zur Sicherung von Beweismaterial« auf einen Außeneinsatz. Die beiden kosmonautischen Detektive nahmen Messer mit und schnitten bei der Besichtigung des »Tatorts« ein bisschen Material von der Hülle der Sojus ab. Einen offiziellen Bericht über den Zwischenfall hat Roskosmos aber nicht veröffentlicht.

Ende Juli 2021 gab es dann noch ein sehr viel gefährlicheres Vorkommnis. Die gute Nachricht: Russlands 20 Tonnen schweres Laboratorium Nauka dockte erfolgreich bei der internationalen Raumstation an. Nauka ist Russisch und bedeutet »Wissenschaft«. Das Modul verschaffte der ISSISS (und Roskosmos) neue experimentelle Kapazitäten. Und dazu noch ein weiteres Klo. Die schlechte Nachricht: Drei Stunden nach dem Andocken sprangen die Triebwerke der Nauka plötzlich an, und die ganze Station begann sich zu drehen. Die Einsatzzentralen der Russen und Amerikaner mussten sich kurzschließen und hastig die Düsen auf der anderen Seite der Station anwerfen, um die ISS wieder unter Kontrolle zu bringen. Der Zwischenfall dauerte fast eine Stunde und endete erst, als der Nauka der Treibstoff ausging. Roskosmos sagte anschließend nur wenig darüber und ließ dann irgendwann durchblicken, dass ein in der UkraineUkraine gebautes Werkstück in den Treibstofftanks der Nauka den Unfall verursacht hätte.

Gemessen an der Gefahr, die RusslandRussland selbst für die ISSISS he­raufbeschwor, als es mit einer Rakete, ich erwähnte es bereits, am 15. November 2021 einen seiner ausgedienten Aufklärungssatelliten abschoss, der die Erde in etwa der gleichen Flughöhe wie die ISS umkreiste, und damit 1500 größere Trümmer freisetzte, waren das aber nur Kleinigkeiten. Man erkennt deutlich, wie sich das Verhältnis zwischen Russland, den USAUSA und den EuropäernEuropa im Lauf des Jahres 2021 verschlechtert hatte und damit auch die Zusammenarbeit im Weltraum. Die Beziehungen waren schon vor 2014 im Sinkflug, aber als Russland die Krim annektierte, die rechtlich immer noch zur UkraineUkraine gehört, gingen sie in den freien Fall über.

Präsident PutinPutin, Wladimir hat kein Geheimnis daraus gemacht, dass er den Zusammenbruch der SowjetunionSowjetunion bedauert, dessen Auswirkungen nicht akzeptiert und den Prozess umkehren will. Für ihn ist Sowjetunion nach eigener Aussage »ein anderer Name für RusslandRussland«. Als alle Länder des früheren Warschauer Pakts bei der erstbesten Gelegenheit der NATONATO beitraten, sah er mit Schrecken, mit welcher Geschwindigkeit sich das Bündnis den russischen Grenzen näherte.

Seit er im Jahr 2000 zum Präsidenten gewählt wurde, hat PutinPutin, Wladimir daran gearbeitet, RusslandRussland wieder zu einer Weltmacht zu machen, vor allem durch sein Militär. Als die SowjetunionSowjetunion aufgelöst wurde, gründete MoskauMoskau 1992 die Kosmicheskie voyska Rossii (Russian Space Forces), die nach verschiedenen Umstrukturierungen 2015 zu einer Unterabteilung der russischen Luft- und Weltraumkräfte Vozdushno-kosmicheskiye sily (Russian Aerospace Forces) wurde. Die Verschmelzung der beiden war ein Versuch, eine schlagkräftige Kommandostruktur zu schaffen, die für alle militärischen ­Aspekte der Luft- und Raumfahrt zuständig ist. In dieser Beziehung war Russland den USAUSA um vier Jahre voraus. Nach Angaben auf ihrer Webseite sind die russischen Luft- und Weltraumkräfte damit beauftragt, anfliegende Bedrohungen zu erfassen, Angriffe durch ballistische Raketen zu verhindern, Raumfahrzeuge zu bauen und zum Einsatz zu bringen sowie militärische und zivile Satelliten zu betreiben und zu kontrollieren.

Im Jahr 2003 hatten die Kommandeure der russischen Weltraumtruppen gesehen, wie die Amerikaner die 500 000-Mann-Armee des IrakIrak in fünf Wochen zerlegten, indem sie ihre Aufklärungssatelliten benutzten, um Truppen, Waffenlager und Gebäude exakt zu orten und punktgenau anzugreifen. Als die amerikanischen Bodentruppen dann vorrückten, war die irakische Armee schon nicht mehr zum Widerstand fähig.

Analysten haben ermittelt, dass im Zweiten Weltkrieg zur Zerstörung einer Eisenbahnbrücke 4500 Kampfeinsätze der Luftwaffe und der Abwurf von 9000 Bomben notwendig waren. Im Vietnamkrieg brauchte man nur noch 190 Bomben. Im KosovoKosovo genügten ein bis drei Marschflugkörper. Im IrakIrakkrieg konnte eine einzige satellitengesteuerte Rakete eine Brücke zerstören. MoskauMoskau wurde bewusst, dass RusslandRussland weit hinter den weltraumgestützten militärischen Kapazitäten der Amerikaner zurücklag, und machte sich daran aufzuholen.

Das russische Gegenstück zum amerikanischen GPS ist das globale Navigationssatellitensystem GLONASS (Globalnaja na­wigazionnaja sputnikowaja sistema). Der Aufbau dieses Systems wurde 1972 begonnen und die GLONASS-Konstellation mit vierundzwanzig Satelliten wurde 1996 (ein Jahr nach GPS) fertiggestellt. Um die volle Leistungsfähigkeit zu erhalten und die Erde gänzlich abzudecken, muss man ständig neue Satelliten in Umlauf bringen, um beschädigte oder am Ende ihrer Dienstzeit angekommene zu ersetzen. Im wirtschaftlichen Chaos der Neunzigerjahre musste aber der russische Weltraum-Etat um 80 Prozent reduziert werden, und im Jahr 2001 waren nur sechs aktive Navigations­satelliten im Umlauf. Das genügte nicht einmal, um das eigene Land im Auge behalten zu können. Das brachte RusslandRussland gewaltig ins Hintertreffen, denn GLONASS ist unter anderem nötig, um die Atomraketen ins Ziel zu lenken.

Nach der Wahl PutinsPutin, Wladimir im Jahr 2000 begann die russische Wirtschaft, sich zu erholen, und er machte die Wiederherstellung des Navigationssystems zu einer der Top-Prioritäten. Das Budget wurde mehr als verdoppelt. 2011 waren dann wieder alle 24 Satelliten im Einsatz, und nach mehr als einem Jahrzehnt war die globale Abdeckung wieder erreicht. Ständige Sanktionen des Westens behindern zwar den Einbau von GLONASS in Mobiltelefonen und Kraftfahrzeugen, aber die militärischen Kapazitäten sind voll intakt und die Genauigkeit des Systems steht außer Frage.

Die Konzentration auf GLONASS zeigt, wie bewusst sich das russische Militär war, dass man zur Lagebeurteilung und Kommunikation heute eine Genauigkeit und Zuverlässigkeit braucht, die nur ein satellitengestütztes System leisten kann. GLONASS diente den russischen Streitkräften sowohl in Syrien als auch in der UkraineUkraine immer dort, wo Präzisionswaffen eingesetzt wurden. Ukrainische Hacker haben zwar versucht, in das System einzudringen, aber der Erfolg war begrenzt. Da das russische Militär auf das System angewiesen ist, wurde einiges in seinen Schutz investiert.

Investiert wurde auch in Kapazitäten, um feindliche Satellitensysteme anzugreifen. Eine Methode ist dabei, sich fremden Satelliten mit eigenen anzunähern. Es gibt viele legitime Gründe für eine solche Annäherung. Zum Beispiel kann man auf diese Weise äußere Schäden feststellen, die durch Weltraumtrümmer entstanden sind. Aber man kann auch versuchen, sich den fremden Satelliten zu schnappen, ihn mit einer Flüssigkeit zu blenden oder ihn zu beschießen. Es hat schon mehrere offizielle Beschwerden der Amerikaner gegeben, die RusslandRussland beschuldigten, amerikanische Satelliten durch »Stalking« belästigt zu haben. Im Jahre 2020 war das US Space Command zum Beispiel sehr beunruhigt, als gemeldet wurde, dass der russische Satellit Kosmos 2542 aus seinem Inneren einen zweiten Satelliten ausgesetzt habe. 2543 blieb nämlich nicht in der Nähe anderer russischer Satelliten, sondern pirschte sich an einen amerikanischen Aufklärungssatelliten heran. Und was noch erschreckender war: Er schoss ein Hochgeschwindigkeitsprojektil in den Weltraum hinaus.

Wie dieses Ereignis zeigt, erprobt RusslandRussland verschiedene Möglichkeiten für kriegerische Handlungen im Weltraum. Manche davon sind Dual-Use-Aktivitäten, bei denen sich ein militärischer Hintergrund gut leugnen lässt; andere sind Mittel zur Abschreckung.

RusslandRussland und andere Länder arbeiten aber nicht nur an bewaffneten Satelliten, sondern auch an landgestützten Waffen, die Ziele im Weltraum erreichen können. Der Abschuss ihres eigenen Satelliten im November 2021 war nur ein Beispiel in einer ganzen Reihe von Ereignissen, die zeigen, dass es Russland im Bewusstsein seiner Unterlegenheit im Weltraum darauf anlegt, den Amerikanern zu demonstrieren, dass es in der Lage ist, entscheidende Geräte der amerikanischen Weltraumrüstung gegebenenfalls auszuschalten. Der ausgediente Satellit, den die RussenRussland zerstörten, war einer ihrer größten. Sie hätten ohne Weiteres einen kleineren abschießen können, der nicht so viele Trümmer erzeugt hätte. Stattdessen wollten sie den Amerikanern etwas mitteilen. Aus der Sicht des Kremls ist das eine durchaus rationale Vorgehensweise: Man zeigt, was man kann, und schützt sich durch Abschreckung.

Dasselbe gilt für ein Projekt, bei dem eine Rakete von einer MiG-31 abgefeuert werden soll, die bereits mit Schallgeschwindigkeit unterwegs ist. Diese Rakete soll dann einen kleinen Satelliten aussetzen, der möglicherweise in der Lage ist, ein Projektil abzufeuern.

Bereits einsatzfähig ist das Laserwaffensystem Pereswet, das 2018 vorgestellt wurde und feindliche Beobachtungssatelliten daran hindern soll, die Bewegungen der mobilen Einheiten zu verfolgen, die RusslandsRussland atomare Interkontinentalraketen an ständig wechselnde Standorte bringen. Die Laserwaffen sind auf Schwerlastwagen montiert und begleiten jetzt schon fünf Raketendivi­sionen. Ob sie die Satelliten nur kurzfristig blenden und daran hindern sollen, ihr Ziel zu erkennen, oder ob sie in der Lage sind, die bildgebenden Systeme der Satelliten dauerhaft zu zerstören, ist nicht bekannt. Man weiß auch nicht, ob eine der fünf Raketeneinheiten sie schon erfolgreich benutzt hat.

Die meisten Beobachter glauben, dass Pereswet nur blenden kann, aber das in der Regel gut informierte Online-Magazin Space Review hat gemeldet, dass RusslandRussland demnächst mit einem neuen System namens Kalina noch einen Gang höher schaltet. Eine ­detaillierte Untersuchung aus dem Jahr 2022, die sich auf Google-Earth-Bilder und öffentlich zugängliche Patentschriften stützt, stellte fest, dass der russische Satellitenerkennungskomplex Krona (Kompleks raspoznavaniya kosmicheskikh obektov) an einem hochmodernen Laser arbeitet, der die künstlichen Himmelskörper auch abschießen kann.

Der Krona-Komplex befindet sich in 2000 Metern Höhe im Nordkaukasus, westlich der Kleinstadt Selentschukskaja in der Nähe der georgischen Grenze. Dort ist ein Neubau mit einer ­Observatoriumskuppel für ein Weitwinkel-Teleskop entstanden. Nach Angaben der Space Review soll das Gebäude laut Ausschreibung »bei Temperaturen von +40 bis –40° Celsius« funktionstüchtig bleiben und »Erdbeben bis zu einer Stärke von sieben« aushalten. Die Kuppel besteht aus zwei Teilen, die in ­weniger als zehn Minuten geöffnet werden können, und das Teleskop kann den gesamten Himmel darüber abtasten.

Durch einen Tunnel ist das Gebäude mit einem zweiten verbunden, in dem ein Lidar-Gerät steht, das ein dreidimensionales Laserscanning erlaubt. Das Lidar peilt Satelliten mit einem pulsierenden Laserstrahl an und misst, wie lange es dauert, bis der Impuls zurückkehrt. Damit lassen sich die Position, die Richtung und Geschwindigkeit des Satelliten präzise ermitteln. Je moderner das Gerät, desto genauer die Daten.

Wenn Kalina in Betrieb ist, kann es feuern, sobald es den Satel­liten erfasst hat. Der Laserstrahl muss die Erdatmosphäre durchdringen und braucht daher viel Energie. Je mehr Licht gebündelt wird, desto größer ist seine Zerstörungskraft. Die meisten Beobachtungssatelliten fliegen in niedrigen Umlaufbahnen, die nur ein paar 100 Kilometer von der Erdoberfläche entfernt sind. Man geht davon aus, dass Kalina einen Satelliten etliche Minuten verfolgen kann, wenn es ihn einmal erfasst hat. Ob es ihn nur blendet oder die optischen Sensoren des Satelliten auf Dauer beschädigt, ist nicht bekannt. Die Space Review vermutet, dass ein solches ­Kalina-System dazu in der Lage ist, ein Gebiet von etwa 100 000 Quadratkilometern abzuschirmen, mehr als die Fläche von PortugalPortugal.

Kalina kann aber auch seine gesamte Energie auf einen einzigen kleinen Punkt an der Verkleidung des Satelliten richten und damit die Kameras oder die Steuerungsdüsen zerstören, was ihn unbrauchbar macht. Laser von solcher Stärke entwickeln tausendmal mehr Energie als die Strahlen, mit denen CDs abgespielt oder medizinische Operationen durchgeführt werden. Kalinas Laser­teleskop kann mit seinem Durchmesser von einigen Metern gleich mehrere solcher Strahlen parallel und gleichzeitig abfeuern. Wenn es funktioniert, ist es vielleicht sogar in der Lage, Satelliten im Geostationären Orbit abzuschießen, der 35 786 Kilometer über dem Meeresspiegel beginnt.

Wenn Laser erst einmal stationiert sind, kann man natürlich ­jederzeit bestreiten, dass man sie eingesetzt hat. Der Laserstrahl ist unsichtbar, es gibt auch keinen lauten Knall und keinen Pulverdampf. »Wie bitte?«, sagt MoskauMoskau. »Laserstrahlen? Kriegshandlung? Hat mit uns nichts zu tun. Haben Sie schon in NordkoreaNordkorea gefragt?«

Und jetzt stellen Sie sich bitte mal vor, dass solche Waffen aus dem Weltraum abgefeuert werden. Wenn der Strahl ein Ziel treffen soll, wo es keine Atmosphäre gibt, die ihn ablenken oder abschwächen könnte, brauchte er gar nicht besonders stark zu sein, um ein großes Ziel zu vernichten. Zum Beispiel eine Raumstation.

Kalina gehört zu den neuen Waffensystemen, die als PutinsPutin, Wladimir –Superorushie (»Superwaffen«) bezeichnet werden. Dazu gehören auch die Hyperschallraketen, die sowohl ihre Richtung als auch ihre Flughöhe ändern können, wenn sie in der Atmosphäre fliegen.

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Seit 2018 sind die militärischen Anstrengungen Russlands im Weltraum eng mit denen von ChinaChina verbunden. Die Russen und Chinesen wollen beide die amerikanische Vorherrschaft eindämmen und ihre Grundlagen schwächen. Das neue chinesisch-russische Verhältnis begann schon in den Neunzigerjahren. Nach dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens im Jahre 1989 waren gegen China alle möglichen Sanktionen verhängt worden, die vor allem die Weitergabe von Technologien betrafen. RusslandRussland erholte sich damals erst langsam vom Zusammenbruch der So­w­jetunionSowjetunion, und so verstärkte sich die alte Zusammenarbeit wieder und erweiterte sich auf den Weltraum.

2018 waren die beiden Länder dann so weit, dass sie eine formelle Vereinbarung über verschiedene Projekte abschließen konnten: Raketentriebwerke, Raumgleiter, Satellitennavigation und die Überwachung von Weltraumschrott. Das wiederum ist nicht ganz so harmlos, wie es klingt, denn ein Überwachungssystem kann immer auch zur Spionage genutzt werden.

Solche Zweideutigkeiten und die allgemeine Fortentwicklung der Weltraumwaffen waren der Grund, weshalb die USAUSA und –EuropaEuropa gegenüber chinesisch-russischen Vorschlägen zur Verhinderung eines Weltraum-Wettrüstens stets misstrauisch blieben. Die entsprechenden von RussenRussland und ChinesenChina vorgelegten Vertragsentwürfe von 2008 und 2014 werden heute noch diskutiert, ohne dass es vorangeht. Das liegt auch daran, dass sie sich vor ­allem durch die Dinge auszeichnen, die darin fehlen.

In den Vertragsvorschlägen wimmelt es von Formulierungen wie »friedliche Zwecke« und »Rüstungskontrolle«, aber bei allen bisherigen Vorschlägen fehlt es an klaren Definitionen, was denn überhaupt eine Waffe im Weltraum ist oder wie nahe ein Satellit dem einer anderen Nation kommen darf. Die Amerikaner sind besonders unzufrieden darüber, dass in den Vertragsentwürfen nichts Eindeutiges über die Entwicklung, Erprobung, Lagerung und Stationierung von Waffen wie Kalina zu lesen ist. Daran sind MoskauMoskau und PekingPeking auch nicht interessiert. Sie wissen, dass sie in der konventionellen Kriegführung heute unterlegen sind, weil diese auf Satelliten beruht. Deshalb haben sie kein Interesse, die Waffen zu verbieten, die in der Lage wären, solche Satelliten vom Boden aus zu bekämpfen.

Die AmerikanerUSA dagegen drängen auf ein weltweites Verbot von Antisatellitenwaffen, die direkt vom Boden aufsteigen und die Weltraumschrott verursachen können. Darüber hinaus wünschen sie sich viel umfassendere Vereinbarungen über die Fragen, die sich aus neuen Technologien ergeben. Wie es da zu einer Einigung kommen soll, ist gegenwärtig nicht zu erkennen, zumal die Amerikaner längst eigene Boden-Weltraum-Waffen und andere neue Technologien entwickelt haben.

Es ist sehr viel wahrscheinlicher, dass RusslandRussland und ChinaChina ihre Beziehung weiter verstärken und bis 2035 den Plan einer gemeinsamen Mondstation, der International Lunar Research Station (ILRS), verwirklichen werden, »entweder auf dem MondMond selbst und/oder in einer Umlaufbahn um den Erdtrabanten«.

Zu ihrer Zusammenarbeit gehört auch ein verstärkter Wissens- und Technologietransfer. So arbeiten die beiden Länder gegenwärtig daran, ihre Satellitennavigationssysteme GLONASS und BeiDou kompatibel zu machen. Das würde bedeuten, dass jedes der beiden Länder auch das System des anderen benutzen kann, wenn sein eigenes im Falle eines Krieges mit Dritten beschädigt würde.

Klingt erst mal nach einer Win-win-Situation, aber PutinPutin, Wladimir hat da ein Problem. RusslandRussland wäre in dieser Beziehung der Juniorpartner, und Russland spielt nie gern die zweite Geige. Dazu ist die Vergangenheit Russlands mit seiner Geschichte, seinen Legenden und Orden zu glorreich. Aber PekingPeking hat das Geld und die ­Infrastruktur und läuft auch niemandem mehr hinterher. Das alte Klischee, dass die chinesische Raumfahrttechnologie ein Abklatsch der russischen wäre, trifft nicht mehr zu. Heute hat ChinaChina seine eigene Raumstation, nicht Russland. Auf der Rückseite des Mondes ist eine chinesische Sonde gelandet, keine russische. Bei der Technologie für wiederverwendbare schwere Trägerraketen führt China ebenfalls, und die private chinesische Raumfahrt­industrie ist auch viel lebendiger als die russische.

RusslandRussland braucht ChinaChina heute mehr als umgekehrt. Deshalb kann es sich PekingPeking leisten, bei der Hilfe für MoskauMoskau behutsam zu sein. Die ChinesenChina zögern, Moskau mit Technologie auszuhelfen, die den Russen durch Sanktionen versperrt ist, weil sie nicht selbst von Sanktionen betroffen sein wollen.

Trotz dieses »freundschaftlichen« Zögerns ist die Beziehung für RusslandRussland sehr nützlich. Nachdem klar ist, dass sie sich von der ISSISS zurückziehen werden, können ihre Kosmonauten nur dann für längere Zeit im Weltraum arbeiten, wenn sie auf einer gemein­samen Station mit den Chinesen sind. Eine eigene Mondstation könnte sich Russland nicht leisten. Die Partnerschaft erlaubt es Russland also, weiter als Weltraummacht aufzutreten, während ChinaChina seinen hohen Energiebedarf zu Freundschaftspreisen mit russischem Öl und Gas decken kann. Hinter diesem Geschäft steht die gemeinsame Strategie, einen Machtblock zu bilden, der ein Gegengewicht zur amerikanisch geführten Koalition von Demokratien bildet und dem andere sich anschließen können. Das russische Weltraumprogramm allerdings ist ein Angebot, das abzulehnen den meisten nicht schwerfällt.

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RusslandRussland war früher führend; jetzt ist es abgedrängt. In mancher Hinsicht stellt es sich selbst ins Abseits. Russische Medien sind heute gesetzlich verpflichtet, ihre Berichte über die eigene Raumfahrtindustrie mit einem Hinweis zu kennzeichnen, wenn darin Informationen verwendet werden, die nicht von offiziellen Stellen verbreitet wurden. Die Materialien in diesem Bericht, heißt es dann, »wurden von ausländischen Medien erstellt und verbreitet, die als ausländische Agenten handeln, oder von einem russischen Unternehmen, das diese Funktion hat«. Sich in Russland als »ausländischer Agent« zu bezeichnen, war selbst in den besten Zeiten keine gute Idee, und die jetzigen sind nicht die besten.

Die russische Öffentlichkeit ist an der Raumfahrt immer noch sehr interessiert, aber es werden ihr fast alle Informationen vorenthalten, wenn man von Regierungsverlautbarungen und irgend­welchen albernen Details einmal absieht. Bei einer Meinungs­umfrage aus dem Jahr 2019 wurde ermittelt, dass 31 Prozent der Russen die Nachrichten über die Raumfahrt genau verfolgen. 59 Prozent wollen, dass RusslandRussland seine große Tradition fortsetzt, und 53 Prozent glauben, dass dies auch gelingen wird.

Es deutet auch alles darauf hin, dass MoskauMoskau weiter in der ersten Liga mitspielen will.

Russlands neues Kronjuwel ist das hochmoderne Kosmodrom WostotschnyWostotschny, der »Östliche Weltraumbahnhof«. 1991 hatte das post-sowjetische RusslandRussland keinen größeren Weltraumbahnhof mehr auf dem eigenen Territorium und musste KasachstanKasachstan für das Recht bezahlen, in Baikonur seine Weltraumraketen zu starten. Es war natürlich daran interessiert, diese Situation so schnell wie möglich zu ändern und strategisch autonom zu werden. Dafür mussten sich alle wichtigen Elemente seiner militärischen und zivilen Raumfahrt auf russischem Boden befinden.

Die Arbeiten begannen im Jahr 2012 in der Amur-Region im russischen Fernen Osten. WostotschnyWostotschny liegt ungefähr 8000 Kilometer von MoskauMoskau und 200 Kilometer von der chinesischen Grenze entfernt. Die nächstgelegene Stadt ist das 150 Kilometer südlich gelegene Blagoweschtschensk am nördlichen Ufer des Amur. Es ist eine eher langweilige Stadt mit vielen Wohnblocks aus der sowjetischen Zeit. Von der Uferpromenade aus haben die 226 000 Einwohner freie Sicht auf das chinesische HeiheHeihe und seine glitzernden Lichter auf der anderen Seite des Flusses. Vor fünfzig Jahren war Heihe noch ein verschlafenes Fischernest, jetzt hat es 250 000 Einwohner und ein großes Einkaufszentrum am Fluss. Die beiden Städte bilden eine Freihandelszone, und zu den zahlreichen Fähren, die sie verbinden, kam 2019 eine zweispurige Autobahnbrücke. Heihe ist ein Beispiel für das schnelle Tempo, mit dem ChinaChina an RusslandRussland vorbeizieht.

Und an dieser Stelle kommt WostotschnyWostotschny ins Spiel. Das Kosmodrom soll die ganze unterentwickelte russische Amur-Region ankurbeln. Der Standort wurde nicht nur aus geografischen, sondern auch aus ökonomischen Gründen gewählt. Das Raumfahrtzentrum befindet sich auf einem ehemaligen Startplatz für Interkontinentale Ballistische Raketen und hat daher Anschluss ans russische Eisenbahnnetz. Die abgeschiedene Lage verringert gleichzeitig das Risiko, dass abgeworfene Raketenstufen oder Bruchstücke auf bewohntes Gebiet fallen. Der Breitengrad ist ähnlich günstig wie der von Baikonur, sodass die Trägerraketen fast genauso große Lasten ins All befördern können wie dort. Außerdem führt der »Transsibirien-Highway« direkt am Raumfahrtzentrum vorbei. Dem Bau einer neuen Stadt für 35 000 Bewohner steht also nichts im Wege.

Die Kosten überstiegen allerdings schnell das Budget, der Zeitplan konnte nicht eingehalten werden und wie überall in der russischen Wirtschaft wurde das Projekt durch Korruption behindert. Präsident PutinPutin, Wladimir, der die Unterschlagung staatlicher Mittel unter Kontrolle zu bringen versucht, hat die führenden Politiker und Beamten des Landes immer wieder daran erinnert, dass WostotschnyWostotschny ein nationales Projekt ist. »Aber nein«, sagt er, »sie stehlen immer noch hunderte von Millionen!« Mindestens 170 Millionen Dollar sind von Spitzenbeamten unterschlagen worden; ­einige Dutzend wurden schon verhaftet und eingesperrt.

Seit 2012 wird an WostotschnyWostotschny gebaut, 2016 starteten die ersten Raketen, aber etliche Arbeiten sind noch nicht abgeschlossen und gehen sicher noch ein Jahrzehnt weiter – Zeit genug also, um noch mehr Geld abzuzweigen. Eine Plakette am Haupteingang zeigt die Aufschrift: »Der Weg zu den Sternen beginnt hier.« Den Zusatz »wenn uns das Geld nicht ausgeht« hat vorsichtshalber niemand daruntergeschrieben.

Der Ehrgeiz ist also durchaus vorhanden, aber die finanziellen Mittel, die nötige Ausstattung und vielleicht auch das Fachwissen, um mit den amerikanischen und chinesischen Raumfahrtprogrammen Schritt zu halten, könnten möglicherweise nicht ausreichen. Dennoch sind schon weitere langfristige Projekte auf den Weg gebracht worden.

Bis 2026 soll in WostotschnyWostotschny eine zweistufige, wiederverwendbare Rakete gestartet werden. Ihr Name ist »Amur«, aber sie sieht der Falcon 9 von SpaceXSpaceX verdächtig ähnlich. Sie ist jedoch kleiner und kann nur eine Nutzlast von 10,5 Tonnen befördern. Das ist mehr, als eine Sojus 2 tragen kann, aber nur die Hälfte von dem, was die Falcon 9 wegschafft.

Der Entwurf für eine neue Raumstation namens Russian Orbital Service Station (ROSS) ist ebenfalls fertig, aber der geplante Start ist von 2025 gleich mal auf 2028 verschoben worden, und manche russischen Experten reden eher von 2030. Angesichts der Tatsache, dass die Russen zwölf Jahre gebraucht haben, um ihren Beitrag zur ISSISS, das Nauka-Modul, zu bauen, hochzuschießen und anzudocken, erscheint selbst das optimistisch. Nauka sollte 2007 seinen Betrieb aufnehmen, aber angedockt wurde es erst 2021. Wenn sie tatsächlich gebaut wird, ist die ROSS deutlich kleiner als die ISS und wird auch nur vier Monate im Jahr tatsächlich besetzt sein, was die Forschungsarbeit der Kosmonauten erheblich einschränkt.

Es gibt auch Pläne für ein atomgetriebenes Energiemodul namens »Zeus«, mit dessen Hilfe ein unbemanntes Raumschiff zum MondMond, zur VenusVenus und zum JupiterJupiter fliegen soll. Dafür sind unter anderem Laserwaffen und ein Kernreaktor mit 500 Kilowatt vorgesehen, der die Elektromotoren betreibt. Der Flug könnte 2030 stattfinden, hieß es. Das Modell, das 2021 auf der Moskauer Luft- und Raumfahrtschau (MAKS) gezeigt wurde, sah wie ein großer Metallbaukasten aus – und auch in etwa so flugtauglich. Aber wenn man das Ding tatsächlich zum Abheben bringt, klingt eine Reisezeit von vier Jahren zum JupiterJupiter gar nicht so unplausibel. Das Gleiche gilt für einen zweijährigen bemannten Raumflug zum MarsMars.

Eine Raumstation, eine wiederverwendbare Rakete und ein atomgetriebenes Raumschiff – die Liste ist durchaus eindrucksvoll. Alles, was die Russen jetzt noch brauchen, sind die Finanzierung, die Experten und die Ausrüstung, um die Projekte auch von der Liste ins Weltall hinaufzukriegen.

Schon vor der Invasion der UkraineUkraine hat RusslandRussland eine Menge Umsatz bei seinem Weltraumgeschäft eingebüßt. Nicht zuletzt, weil es, wie erwähnt, für sein kosmisches Taxi-Unternehmen immer mehr Konkurrenz gab. Früher hatten sie für die Beförderung eines Astronauten zur ISSISS jeweils 70 Millionen Dollar kassiert, aber seit andere das billiger machen, geht der russische Umsatz deutlich zurück. Und die USAUSA kaufen auch immer weniger russische Raketentriebwerke. Sie bevorzugen jetzt Produkte »Made in USA«.

RusslandRussland veröffentlicht keine Haushaltspläne für seine militä­rischen Raumfahrtprogramme, aber verschiedene Open-Source-Berichte lassen vermuten, dass es um ungefähr 1,5 Milliarden Dollar pro Jahr geht. Die finanziellen Mittel für Roskosmos sind auf etwa drei Milliarden Dollar jährlich zusammengestrichen worden, wobei der Anteil für Forschung und Entwicklung fast gegen null tendiert. Zum Vergleich muss man wissen, dass allein das James-Webb-Raumteleskop (JWST) die NASANASA über zehn Milliarden Dollar gekostet hat. Das jährliche Budget der NASA beläuft sich auf 25 Milliarden, und die Ausgaben der US-Regierung für militärische Weltraumaktivitäten betragen noch einmal weitere 15 Milliarden Dollar. ChinaChina gibt viel weniger aus, ungefähr zehn Milliarden, aber es will die Summe wohl an­heben.

Hinzu kommt, dass Russlands Weltraumprogramm von systemischen Problemen und Korruption heimgesucht wird und seine Infrastruktur mit der Ausnahme von WostotschnyWostotschny völlig veraltet ist und zum Teil noch immer außerhalb seiner Grenzen liegt. Selbst die heimischen Unternehmen scheuen sich, größere Summen in einen hochriskanten, staatlich beherrschten Wirtschaftszweig zu investieren, der obendrein von westlichen Sanktionen stark eingeschränkt ist.

Auch ist die Bevölkerung nicht mehr die jüngste. Ein großer Teil der gut geschulten Arbeitskräfte nähert sich dem Rentenalter, und die Raumfahrtindustrie braucht noch in diesem Jahrzehnt mindestens hunderttausend neue, gut ausgebildete Spezialisten, um sie zu ersetzen. Talentierte junge Ingenieure und Wissenschaft­ler in RusslandRussland fühlen sich aber nicht mehr so angezogen von ­einer Branche, in der die Gehälter niedriger sind als in anderen Hightech-Industriezweigen.

Angesichts der zunehmenden westlichen Sanktionen, die nicht nur die russische Wirtschaft, sondern auch die Rohstoffquellen treffen, wird Roskosmos große Probleme haben, konkurrenzfähig zu bleiben. RusslandRussland wird keine Ruhe geben und sich auch nicht damit zufriedengeben, eine Weltraummacht zweiter Klasse zu sein, aber ohne die nötigen finanziellen Mittel, um in der ersten Liga der Weltraumforschung mitzuspielen, wird den Russen wohl nichts anderes übrig bleiben, als sich auf erstklassige Rüstungsgüter zu konzentrieren.

Was die Luftschleusen zwischen russischen und amerikanischen Wissenschaftskreisen offen hielt, als die politischen Beziehungen in die Brüche gingen, war die Notwendigkeit der Zusammenarbeit. Wege zur Entspannung sind oft nicht leicht zu finden, aber in diesem Falle gab es einen, der so hell leuchtet, dass man ihn mit bloßem Auge am Nachthimmel sehen kann: Alle neunzig Minuten fliegt er mit 7,6 Kilometern pro Sekunde über uns vorbei: die ISSISS.

Die Geografie des Weltraums ist allerdings nicht immun gegen die Geopolitik auf der Erde. Der Frieden, den das Andocken der Sojus- an die Apollo-Kapsel und die Zusammenarbeit auf der ­Internationalen Raumstation versprachen, ist in den Weiten des Weltraums verloren gegangen.