FÜNFTES KAPITEL
CHINA: DER LANGE MARSCH IN DEN WELTRAUM
»Wer zuerst kommt, hat als Erster den Erfolg.«
Chinesisches Sprichwort
Illustration
der chinesischen Raumstation TiangongTiangong.
Wir schreiben das Jahr 2061. Die Erdoberfläche ist komplett gefroren. Denn um nicht der Ausdehnung der Sonne zum Opfer zu fallen, hat der Planet sich in Marsch gesetzt. Er dreht sich auch nicht mehr um sich selbst, weil ihn auf einer Seite tausende, von Fusionsreaktoren getriebene Düsen aus dem Sonnensystem schieben. Je weiter er sich jedoch von der Sonne entfernt, desto kälter wird es auf dem Planeten. Die Hälfte der menschlichen Bevölkerung ist bereits tot, die Überlebenden hausen in Städten unter der Erde. Aber die Erde muss unbedingt Alpha CentauriAlpha Centauri erreichen, wo es eine wunderbar funktionierende Sonne gibt, die sich nicht ausdehnt. Erst dann kann die Normalität wieder einkehren. »Auch eine Reise von 4,5 Lichtjahren beginnt mit dem ersten Schritt.«, wie KonfuziusKonfuzius wohl nie sagte.
Das ist die Handlung des komplett verrückten, aber durchaus amüsanten chinesischen Science-Fiction-Films Die wandernde Erde von 2019. In ChinaChina hat der Film sämtliche Kassenrekorde gebrochen, später lief er auf Netflix und wurde dort zum fünftpopulärsten nicht englischsprachigen Film aller Zeiten. Er ist in vielfacher Hinsicht sehr interessant, nicht zuletzt, weil er zeigt, dass auch China Soft Power zu nutzen weiß, und wie es seine Sicht auf den Weltraum verbreitet.
In den USAUSA, sagt Frant GwoFrant Gwo, der Regisseur, gibt es das Narrativ, dass die Menschheit die Erde irgendwann verlassen wird, um den ewigen »Wilden Westen« des Weltraums zu kolonisieren. Und das wird in der amerikanischen Science-Fiction verbreitet. Das chinesische Narrativ hingegen besagt, dass man stattdessen das Leben auf der Erde mit den Ressourcen des Weltraums verbessern soll. Das ist eines der Motive im Film Die wandernde Erde. »Wenn die Erde in einem Hollywoodfilm solche Krisen erlebt«, erklärte Gwo dem Hollywood Reporter, »dann fliegt der Held hinaus in den Weltraum und sucht dort nach einer neuen Heimat. Das ist ein typisch amerikanischer Ansatz: Individualismus und Abenteuer … In meinem Film dagegen arbeiten alle als Mannschaft zusammen und nehmen die Erde auf ihrer Reise mit. Das entspringt den chinesischen Werten: Heimat, Geschichte und Tradition.«
Es ist keine Überraschung, dass diese Botschaft zur Haltung der Kommunistischen Partei Chinas passt und dass diese den Film unterstützt hat. Er wurde zum Teil von der staatseigenen ChinaChina Film Group Corporation produziert und musste, wie es in China üblich ist, von der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit der Kommunistischen Partei geprüft werden. Das Erziehungsministerium empfahl ihn für Schulen im ganzen Land. Sogar die Zentrale Kommission für disziplinarische Fragen fühlte sich berufen, den Film zu loben, und Hua ChunyingHua Chunying, die Sprecherin des Außenministeriums, erklärte: »Der spannendste neue Film ist Die wandernde Erde. Ich weiß nicht, ob Sie ihn schon gesehen haben, aber ich kann ihn empfehlen.« Schön und gut, aber es hatte sie niemand danach gefragt.
Obwohl es im Film eine »Regierung der Vereinigten Erde« gibt, retten chinesische Helden und ein chinesischer Plan den Planeten, allerdings mithilfe eines freundlichen Kosmonauten aus RusslandRussland. Das ist insofern eine Abwechslung, als die Welt sonst immer von Amerikanern gerettet wird, die dabei Dinge sagen wie: »Für diese Scheiße bin ich zu alt.« Das Äquivalent dazu in Die wandernde Erde ist eine Szene, in der ein chinesischer Soldat ein riesiges Maschinengewehr auf den JupiterJupiter richtet und dabei schreit: »Scheiß auf dich, verdammter Jupiter!« Dieser kleine Auszug hilft möglicherweise bei Ihrer Entscheidung, ob Sie den Film sehen wollen oder nicht.
Die chinesische Führung allerdings möchte auf jeden Fall, dass Sie Die wandernde Erde sehen, denn der Film passt sehr gut zum Denken von Xi JinpingXi Jinping. PekingPeking weiß, dass die Vereinigten StaatenUSA und andere die zunehmenden Kapazitäten der ChinesenChina im Weltraum als eine Bedrohung empfinden, und möchte den Leuten im Ausland zeigen, dass sie nichts zu befürchten haben. Gleichzeitig werden so natürlich der eigene Nationalstolz und Chinas Interessen gestärkt.
*
Der chinesische Präsident hat immer wieder bekräftigt, dass Chinas Weltraumprogramm keine Bedrohung für irgendwen darstellt, sondern sich im Rahmen internationaler Abmachungen bewegt und dem Wohle der Menschheit dient. Aber nutzt das komplett von der Volksbefreiungsarmee kontrollierte Weltraumprogramm wirklich nur dem Wohle der Menschheit?
Wohl kaum – aber das gilt auch für alle anderen Weltraumprogramme auf dem Planeten. Chinas Weltraumaktivitäten sind allerdings noch stärker militarisiert als die der anderen Staaten.
Die Nationale Raumfahrtbehörde CNSA (ChinaChina National Space Administration) untersteht seit 2008 dem Ministerium für Industrie und Informationstechnik, ihr Leiter ist aber seit 2010 stets auch Leiter der Nationalen Behörde für Wissenschaft, Technik und Industrie in der Landesverteidigung. Auf der Webseite heißt es, sie sei gegründet worden, um die Streitkräfte zu stärken, und diene den Bedürfnissen der Landesverteidigung, der chinesischen Wirtschaft und den mit dem Militär verbundenen Organisationen. Die Raketenstützpunkte und Kosmodrome werden von der Strategischen Unterstützungstruppe der Volksbefreiungsarmee betrieben, die für die Bereiche Raumfahrt, Cyberkrieg und Elektronische Kriegführung zuständig ist. Die Astronauten, die in China »Taikonauten« genannt werden, und das ganze bemannte Raumfahrtprogramm unterstehen der Abteilung für Waffenentwicklung der Zentralen Militärkommission.
Nichts davon ist geheim, aber ChinaChina macht auch nicht gerade Reklame damit. Die Webseiten der Regierung sagen zwar ganz offen, dass die Raumfahrtprogramme vom Militär kontrolliert werden, und zeigen auch Bilder der Direktoren in Uniform, aber in den englischsprachigen Übersetzungen wird das nicht so deutlich herausgestellt.
Xi JinpingXi Jinping ist der Ansicht, dass sein Land eine führende Rolle in der Welt haben sollte, und die Raumfahrt ist in ChinaChina integraler Bestandteil der Planungen für die Zukunft. Es ist ein techno-nationalistischer Ansatz der Modernisierung, der von dem Bewusstsein geprägt ist, dass man die technologische Führung übernehmen muss, wenn man politisch führend sein will.
Mao Tse-tungMao Tse-tung dachte schon in den Fünfzigerjahren in eine ganz ähnliche Richtung. Er klagte damals, dass ChinaChina nicht einmal eine Kartoffel ins All schießen könne. Niemand wagte zu fragen, wozu das denn gut sein solle, aber schon im Oktober 1956 fiel die Entscheidung, in Raketen und Raumfahrttechnologie zu investieren, obwohl China damals noch sehr arm und agrarisch geprägt war.
Chinas Gegenstück zu Wernher von Braunvon Braun, Wernher und Sergei KoroljowKoroljow, Sergei, den führenden Konstrukteuren der Russen und Amerikaner, war Qian XuesenQian Xuesen (1911–2009), einer der größten Wissenschaftler, die ChinaChina je hervorgebracht hat, und der »Vater des chinesischen Raumfahrtprogramms«. Er studierte an der Jiaotong-Universität in ShanghaiShanghai, wechselte 1935 mit seinem erstklassigen Abgangszeugnis ans MIT in MassachusettsMassachusetts und im nächsten Jahr nach –KalifornienKalifornien ans CaltechCaltech, wo er zwanzig Jahre lang blieb. Gefördert von Theodore von Kármánvon Kármán, Theodore, gehörte er zu einem Team von Wissenschaftlern, das als »Suicide Squad« bekannt wurde, weil die Raketentreibstoffe, mit denen die Männer hantierten, ihnen gelegentlich um die Ohren flogen.
Im Zweiten Weltkrieg arbeitete Qian XuesenQian Xuesen an einer Antwort auf die V1 und V2, und 1945 galt er als einer der weltweit führenden Fachleute für Raketen und Düsentriebwerke. Zeitweilig im Rang eines Oberstleutnants, wurde QianQian Xuesen sogar nach DeutschlandDeutschland geschickt, um Raketenbauer zu verhören, darunter auch Wernher von Braunvon Braun, Wernher. Anschließend arbeiteten beide an militärischen Raketenprojekten in White Sands, wo auch die erste amerikanische Atombombe getestet worden war.
Das alles zählte nichts mehr, als 1949 die Kommunistische Partei in ChinaChina die Macht übernahm und die Volksrepublik China gegründet wurde. QianQian Xuesen bewarb sich um die amerikanische Staatsbürgerschaft, aber stattdessen wurde er vom FBI als kommunistischer Spion verdächtigt und fünf Jahre lang unter Hausarrest gestellt. Der Mann wusste offensichtlich zu viel. Erst 1955 durfte er in seine chinesische Heimat zurückkehren. Bei der Abreise teilte er Reportern mit, er werde nie wieder einen Fuß auf amerikanischen Boden setzen, und er hielt sein Versprechen. Ein Verlust für die Amerikaner – und ein großer Gewinn für China.
Während sie ihre Macht festigte, sah die chinesische Führung, wie die Amerikaner und Sowjetrussen Milliarden in die Weltraumfahrt investierten. Der angeberische Wettbewerb, wer was zuerst geschafft hätte, interessierte die ChinesenChina allerdings weniger als die technologischen Fortschritte. Denn je größer die Raketen und ihre Reichweite wurden, desto größer wurden auch die Befürchtungen, dass diese Waffen eines Tages gegen ChinaChina eingesetzt werden könnten. QianQian Xuesen wurde also aufgefordert, eine Generation von Wissenschaftlern auszubilden, die Atomwaffen und ballistische Raketen für China entwickeln sollten.
Im Zuge ihrer »brüderlichen Hilfe« übergaben die Sowjets den ChinesenChina 1956 die Pläne für ihre R-1-Raketen und schickten Experten nach PekingPeking, die das chinesische Raketenprogramm unterstützen sollten. In der Wüste Gobi wurde eine Versuchsanlage gebaut, und Dutzende von chinesischen Studenten gingen nach MoskauMoskau zur Weiterbildung.
Die R-1 war bloß ein Nachbau der deutschen V2, und die ChinesenChina hätten gern etwas aktuellere Technologie gehabt, aber die »brüderliche Hilfe« hatte durchaus ihre Grenzen: Die RussenRussland hatten nicht die Absicht, einem anderen Land ihre neueste Raketentechnik zu überlassen. Die chinesischen Studenten gingen daher dazu über, vertrauliche Unterlagen zu kopieren und ihren sowjetischen Ausbildern jeden Tag neue Fragen zu stellen.
Die Beziehungen zwischen MoskauMoskau und PekingPeking verschlechterten sich jedoch schon sehr bald. Beide Staaten wetteiferten um die Führung der kommunistischen Welt, und MaoMao Tse-tung machte ChruschtschowChruschtschow, Nikita den Vorwurf, er sei nicht kämpferisch genug bei der Auseinandersetzung mit den Hunden des Kapitalismus.
1960 wurde die Zusammenarbeit daraufhin abgebrochen, aber die ChinesenChina waren jetzt in der Lage, Raketen vom Typ Dongfeng (»Ostwind«) zu bauen. Zunächst waren das Kurz-, dann Mittelstrecken- und schließlich auch Interkontinentalraketen. Sie konnten aus unterirdischen Silos, aber auch auf beweglichen Abschussrampen gestartet werden.
QianQian Xuesen nutzte diese rasche Entwicklung, um ein chinesisches Satelliten- und Raumfahrtprogramm auf den Weg zu bringen. Heute ist er ein chinesischer Nationalheld, und in ShanghaiShanghai gibt es ein Museum mit 70 000 Artefakten, das ihm gewidmet ist. Der ehemalige US-Marineminister Dan A. KimballKimball, Dan A. (1896–1970) sagte einmal, Qian XuesenQian Xuesen zu vertreiben sei »das Dümmste gewesen, was AmerikaUSA je getan hat«.
Im Jahre 1967 regte MaoMao Tse-tung dann an, einen Taikonauten ins All zu schicken, und es wurden erste Kandidaten fürs Training ausgewählt. Aber das Projekt ging alsbald in den blutigen Wirren der sogenannten »Kulturrevolution« unter, als viele Wissenschaftler misshandelt, in Umerziehungslager gesteckt und gelegentlich auch getötet wurden. Zhao JiuzhangZhao Jiuzhang, der Leiter des chinesischen Satellitenprogramms, wurde von den sogenannten Roten Garden als »Konterrevolutionär« denunziert und verprügelt. Schließlich blieb ihm nur noch der Selbstmord, und man sagt, dass er in den »See des Großen Friedens« gegangen sei.
Trotz dieser Rückschläge wurde am 24. April 1970 Chinas erster Satellit (Dong Fang Hong 1) mit einer Trägerrakete vom Typ Changzheng (»Langer Marsch«) in den Weltraum geschickt und umkreiste den Planeten 28 Tage lang. ChinaChina wurde damit nach der SowjetunionSowjetunion, den USAUSA, FrankreichFrankreich und JapanJapan das fünfte Land, das erfolgreich einen Satelliten gestartet hatte. Fünf schwere Nickel-Cadmium-Batterien erlaubten es dem künstlichen Erdtrabanten, alle dreißig Sekunden das Lied Der Osten ist rot. Die Sonne geht auf. China hat MaoMao Tse-tung Tse-tung hervorgebracht! zur Erde hinunterzusenden. Der 24. April ist in China heute Weltraumtag.
Von da an ging es schnell voran. Mitte der Achtzigerjahre schickte ChinaChina regelmäßig Satelliten ins Weltall und stellte seine Abschussrampen und Raketen auch anderen zur Verfügung.
In den ersten Jahrzehnten diente Chinas Raumfahrtprogramm vor allem militärischen Zwecken. Daneben wurden die Satelliten zur Wetterbeobachtung und zum Kartografieren benutzt, weil die zunehmende Industrialisierung es notwendig machte, Straßen, Schienenwege und andere Dinge genauer zu planen. Seit Beginn des neuen Jahrtausends hat die chinesische Regierung aber erkannt, dass die Weltraumfahrt auch ein wichtiges Mittel sein kann, um die Welt davon zu überzeugen, dass ChinaChina zu den militärisch, technologisch und wirtschaftlich fortgeschrittensten Ländern gehört und das Potenzial hat, die führende Weltmacht zu werden.
Als es ChinaChina 2007 gelang, mit einem KKV in 863 Kilometern Höhe einen eigenen Wettersatelliten abzuschießen – wir erinnern uns –, waren die anderen weltraumfahrenden Nationen über die zahllosen Trümmerteile entsetzt, die dadurch freigesetzt wurden, aber gleichzeitig auch sehr beeindruckt (und alarmiert) von der chinesischen Treffsicherheit. Die ChinesenChina hatten – bildlich gesprochen – eine fliegende Gewehrkugel mit einer anderen abgeschossen. Trotz seiner rasenden Geschwindigkeit von 29 000 Stundenkilometern hatte der Satellitenkiller seine Flugbahn noch eine Sekunde vor dem Aufprall mit drei schnellen Korrekturen verändert, um den etwa zwei Meter langen Satelliten tatsächlich frontal zu treffen.
ChinaChina sagt, es würde sich niemals an einem Rüstungswettlauf im Weltraum beteiligen. Wenn das so ist, wären die Behauptungen, dass PekingPeking Untersuchungen zur Entwicklung von landgestützten Laser- und Teilchenstrahlwaffen anstellt, die Ziele im Weltraum zerstören können, unzutreffend und gegenstandslos. Und es würde auch bedeuten, dass die hohen Bauwerke mit beweglichen Dächern und gewölbten Kuppeln in abgelegenen Teilen des Landes nur von begeisterten Astronomen benutzt werden und keineswegs dem Beobachten und Anvisieren von Satelliten und Raumfahrzeugen dienen.
*
Anfang 2022 veröffentliche PekingPeking eine Vorschau auf sein weiteres Weltraumprogramm, die mit einem Ausspruch von Xi JinpingXi Jinping begann: »Das unendliche All zu erforschen, die Raumfahrtindustrie aufzubauen und ChinaChina zu einer Weltraummacht zu entwickeln, ist unser großer Traum.« Das Dokument enthält zahlreiche Hinweise darauf, dass die Weltraumindustrie zu Chinas Wachstum, zum »menschlichen Fortschritt« und der »globalen Anstrengung« beitragen wird, »den Weltraum zu nutzen und zu erforschen«. So geht es immer weiter: Mal werden Chinas bisherige Leistungen gerühmt, mal neue Pläne verkündet. Es geht um die nächste Generation bemannter Raumfahrzeuge, um eine bemannte Mondlandung, eine internationale Forschungsstation auf dem MondMond und um Sonden, die Asteroiden erkunden oder tief ins Weltall hinausfliegen. Es gibt auch einen Satz über die »Erforschung des JupitersJupiter und so weiter«. Das klingt interessant, besonders das »Und so weiter«. Aber vielleicht ist da nur etwas bei der Übersetzung verloren gegangen.
Die Vision besteht darin, dass der Weltraum »frei zugänglich, effizient genutzt und wirksam organisiert« werden soll. Das ist wohl auch als Schuss vor den Bug der Amerikaner und als Warnung an jeden zu verstehen, der ChinaChina seinen Platz am Himmel verweigern will. 2019 hatte Ye PeijianYe Peijian, der Chefkonstrukteur der chinesischen Mondsonden, gesagt: »Wenn wir da jetzt nicht hinfliegen, obwohl wir dazu in der Lage sind, werden uns unsere Nachkommen tadeln. Wenn andere da hinfliegen, dann übernehmen sie dort die Macht, und man kann nicht mehr hinfliegen, obwohl man gern möchte. Das ist Grund genug.«
Das chinesische Dokument von 2022 verlangt ausdrücklich, dass die Vereinten NationenVereinte Nationen die zentrale Rolle beim »Management der Weltraumangelegenheiten« übernehmen sollen. Es weist auch darauf hin, dass ChinaChina seit 2016 den Weltraum betreffende Vereinbarungen oder Absichtserklärungen mit neunzehn Ländern (darunter PakistanPakistan, Saudi-ArabienSaudi-Arabien, ArgentinienArgentinien, SüdafrikaSüdafrika und ThailandThailand) und vier internationalen Organisationen getroffen hat. Es betont die Zusammenarbeit mit der ESAESA, SchwedenSchweden, DeutschlandDeutschland und den NiederlandenNiederlande, und vergisst – voller Stolz – auch nicht zu erwähnen, dass ChinaChina bereits Satellitenstarts für viele verschiedene Staaten durchgeführt und seine technischen Einrichtungen auch für Entwicklungsländer wie LaosLaos und MyanmarMyanmar geöffnet hat.
Bei alledem handelt es sich um die Abwehr dessen, was PekingPeking als amerikanischen Versuch betrachtet, die alleinige Herrschaft im Weltraum zu übernehmen. Dabei hat es in der Vergangenheit zahlreiche Bemühungen gegeben, mit den Amerikanern zusammenzuarbeiten. Anfang 1984 etwa hat Präsident ReaganReagan, Ronald einem Taikonauten einen Platz im US Space Shuttle angeboten. 1986 wurde eine Gruppe chinesischer Wissenschaftler zu einem Besuch beim Manned Spacecraft Center in HoustonHouston erwartet, aber dann explodierte im Januar die Challenger 73 Sekunden nach dem Start und alle sieben Crew-Mitglieder starben. Der Besuch wurde abgesagt, und alle Besuchsprogramme wurden für unbestimmte Zeit ausgesetzt.
Jetzt allerdings wurde ChinaChina vom Artemis-Programm und den Artemis AccordsArtemis Accords ausgeschlossen, weil der Kongress der NASANASA mit dem Wolf Amendment von 2011 jegliche Zusammenarbeit ohne Genehmigung des FBI untersagt hat. Der damalige Kongressabgeordnete Frank WolfWolf, Frank hatte unterstellt, dass die ChinesenChina bei gemeinsamen Projekten intellektuelles Eigentum und militärische Daten zum Bau von ballistischen Raketen stehlen könnten.
Tatsächlich ist bekannt, dass sich chinesische Hacker gelegentlich Zugang zu den Computern des Verteidigungsministeriums, des US Naval War College, des Pentagons, eines Kernwaffen-Laboratoriums und des Weißen Hauses verschafft haben. Auch traditionellere Spionagetätigkeit wurde entdeckt. Zum Beispiel wurde 2008 der amerikanische Physiker Quan-Sheng ShuQuan-Sheng Shu aus VirginiaVirginia für schuldig befunden, Informationen über die Wasserstofftanks einer amerikanischen Rakete nach PekingPeking geschickt zu haben. 2010 wurde der ehemalige Boeing-Ingenieur Dongfan »Greg« ChungDongfan Greg Chung für schuldig befunden, mehr als 300 000 Seiten mit sensiblem Material an ChinaChina geliefert zu haben, zu denen auch Daten über das Space Shuttle gehörten.
Auf seinen Ausschluss von der Zusammenarbeit reagierte ChinaChina mit dem Bau einer eigenen Raumstation (einem Gegenstück zur ISSISS), mit strategischen Verträgen über wissenschaftliche Zusammenarbeit mit zahlreichen anderen Ländern und dem Aufbau einer Weltraumindustrie, die technisch genauso fit zu sein scheint wie die der USAUSA. Das alles entstand ohne Input oder Überwachung der Amerikaner.
Ziemlich eindrucksvoll. Und es ging auch alles recht schnell, wenn man bedenkt, dass der erste Chinese, der 38-jährige Militärpilot Yang LiweiYang Liwei, erst 2003 in den Weltraum gelangte. Seine Raumkapsel wurde von einer in ChinaChina entwickelten Changzheng-2F in den Orbit befördert, dann umkreiste er in einundzwanzig Stunden achtzehnmal die Erde, und China war das dritte Land, das einen Mann in den Weltraum geschickt hatte. China Daily nannte es den »Großen Sprung himmelwärts«.
Und so ging es weiter. 2012 sauste die erste chinesische Frau um die Erde, die Jagdfliegerin Major Liu YangLiu Yang. 2014 wurde das neue Kosmodrom in Wenchang auf der Insel HainanHainan fertig, das für
die etwas dickeren Raketen der Chanzheng-Serie gebaut wurde, die über See starten müssen. 2016 verbrachten zwei Taikonauten einen Monat an Bord der Raumstation TiangongTiangong 2, nachdem ihre Raumkapsel erfolgreich dort angedockt hatte.
2019 landete die unbemannte Sonde Chang’e 4 als erstes irdisches Fahrzeug auf der Rückseite des Mondes. Diese Mission ist ein gutes Beispiel für die Möglichkeiten, die in der Zusammenarbeit von ChinesenChina und Amerikanern liegen. Der NASANASA wurde gestattet, den Chinesen Hilfestellung bei der Auswahl des Landeplatzes zu geben, und später beschlossen die ChinesenChina und Amerikaner, die Ergebnisse der Mission über die Vereinten NationenVereinte Nationen an die internationale Wissenschaft weiterzugeben.
Ein weiterer großer Erfolg der ChinesenChina war die Fertigstellung des Satellitennavigationssystems BeiDou (»Großer Bär«), als 2020 der letzte dafür notwendige Satellit in Position gebracht wurde. BeiDou ist die chinesische Alternative zum amerikanischen GPS und seit April 2022 auch für private Nutzer freigegeben. 2021 kam es zum ersten Weltraumspaziergang einer chinesischen Taikonautin, Wang YapingWang Yaping.
Der vielleicht größte Meilenstein des letzten Jahrzehnts war allerdings die Landung auf dem MarsMars, bei der ein Mars-Rover ausgesetzt wurde. Die Tianwen-1 traf im Februar 2021 bei dem Planeten ein und verbrachte drei Monate mit der Suche nach einem geeigneten Landeplatz. Am 14. Mai 2021 verließ die Landefähre schließlich den Orbiter und setzte auf dem Mars auf. Dann wurde der Rover Zhurong (»Feuergott«) ins Freie entlassen. Er prüft seither das Marsgestein, sucht nach Wasser und sendet Bild- und Tonaufnahmen zur Erde. Damit sind jetzt drei aktive Mars-Rover auf dem Planeten: der Zhurong sowie die Perseverance und die Curiosity zweier NASANASA-Missionen, die schon früher gelandet waren.
Die ChinesenChina sind sehr stolz auf all das, und die Erfolge im Weltraum sind eng verknüpft mit dem Mythos der Kommunistischen Partei. Chinas Trägerraketen vom Typ Langer Marsch sind nach dem berühmten monatelangen Rückzug im Bürgerkrieg in den Jahren 1934–1935 benannt, bei dem die Rote Armee auf dem Weg von Jiangxi nach Yan’an über 9000 Kilometer durch raues Gelände zurücklegte. Dieser Marsch verhalf MaoMao Tse-tung dazu, die Führung der Kommunistischen Partei zu übernehmen und die Nationalisten im Bürgerkrieg zu besiegen. Er gehört zum Gründungsmythos der Volksrepublik ChinaChina und wird als Beweis dafür genommen, dass heroische Opfer letztlich zur Größe führen. Dass die Trägerraketen des Weltraumprogramms danach benannt sind, ist also von starker Symbolkraft.
Interessanterweise spielt die Überlegenheit des kommunistischen Denkens im öffentlichen Auftreten der Partei aber gar nicht mehr die beherrschende Rolle. An ihre Stelle ist ein starkes Nationalbewusstsein getreten, bei dem man sich eher an alte chinesische Traditionen erinnert. Das spiegelt sich auch in der Benennung von Raumfahrtmissionen und der dazugehörigen Ausrüstung wider. Die unbemannte Sonde, die 2007 den MondMond umkreiste, hieß zum Beispiel Chang’e 1 – nach einer schönen Frau, die der Sage nach zu viel vom Elixier der Unsterblichkeit trank, das ihr Ehemann für sie besorgt hatte. Daraufhin stieg sie immer höher hinauf in den Himmel, bis sie schließlich zur Mondgöttin wurde (die in ChinaChina für Liebesangelegenheiten zuständig ist). Chang’e besitzt einen Hasen namens Yutu (den »Jadehasen«), der unermüdlich auf dem Mond herumspringt und in einem Mörser das Lebenselixier für sie stampft. So ist es nicht allzu erstaunlich, dass der chinesische Rover, der 2013 auf dem Mond ausgesetzt wurde, den Namen Yutu erhielt.
Die Taikonauten auf der chinesischen Weltraumstation TiangongTiangong wiederum können sich freuen, dass sie in einem »Himmelspalast« wohnen, so wie der Herrscher des Himmels in der chinesischen Mythologie. Dass sie in einem »Götterschiff« (der Shenzhou) dort hingebracht wurden, ist nur recht und billig. Das Wort »Taikonaut« ist eine Mischung aus Mandarin und Altgriechisch. Taikong bedeutet »Kosmos« und nautes bedeutet »Seemann«. Den Begriff hat der chinesische Blogger Chen LanChen Lan aus ShanghaiShanghai populär gemacht, dessen englischsprachige Website »Go Taikonauts!« lange Zeit eine bevorzugte Quelle für westliche Journalisten über das chinesische Raumfahrtprogramm war. Der offizielle Ausdruck lautet Yuhang yuan, was »Reisender im Universum« oder »Reisender Werktätiger im Universum« bedeutet.
Solche Namen sind wichtig. Sie signalisieren der Welt, dass der Weltraum nicht nur den Amerikanern und Europäern gehört, und dass es für jede Artemis auch eine Chang’e gibt.
*
Es gab, ebenso wie bei den Russen und Amerikanern, auch bei den ChinesenChina schwere Rückschläge bei der Entwicklung des Weltraumprogramms. Dazu gehört die Tragödie des Jahres 1995, als eine Rakete unmittelbar nach dem Start explodierte und mindestens sechs Angehörige des Bodenpersonals tötete. Die genauen Einzelheiten sind bis heute nicht bekannt – eine Erinnerung daran, dass ChinaChina in vieler Hinsicht immer noch eine sehr verschlossene Gesellschaft ist. 1972 kehrte die Historikerin und zweifache Pulitzer-Preisträgerin Barbara TuchmanTuchman, Barbara von einer Reise nach ChinaChina zurück und schrieb: »Zusätzlich dazu, dass es eine Sprachbarriere gibt, versuche ich auch noch, ein relativ geheimes Programm zu erforschen, das die Regierung in einer der verschwiegensten Gesellschaften der Welt durchführt. Die Tatsache, dass die Volksrepublik China kapitalistische Produktionsmethoden einführt, um das Wachstum ihrer Industrie zu beschleunigen, sollte nicht vergessen lassen, dass es sich um eine kommunistische Nation handelt, die von einer kommunistischen Partei regiert wird, bei der die Geheimhaltung auf allen Ebenen zur Politik gehört.« ChinaChina hat sich auf vielfache Weise verändert, aber Barbara Tuchmans Worte sind heute noch gültig.
Trotz aller Geheimhaltung weiß heute jeder, dass die chinesischen Möglichkeiten, Raketen zu starten, nicht nur fest etabliert sind, sondern sich auch erweitern. Die nationale Raumfahrtbehörde CNSA verfügt über mehrere im Land verteilte Kosmodrome. Das älteste ist Jiuquan in der Wüste Gobi, von dem aus 2003 der erste Taikonaut Yang LiweiYang Liwei startete. Weiter im Landesinneren, im Norden der Provinz Shanxi, liegt das Kosmodrom Taiyuan. Hier starten Wettersatelliten, aber es beherbergt auch Abschussanlagen für ballistische Interkontinentalraketen. Auch auf der Raketenbasis XichangXichang in der Provinz SichuanSichuan werden Satelliten gestartet. Eine modernere Anlage befindet sich in Wenchang an der Ostküste der Insel HainanHainan, wo seit 2016 Taikonauten mit größeren Trägerraketen zur chinesischen Raumstation gebracht, aber auch längere unbemannte Flüge gestartet werden. Ein fünftes, rein kommerzielles Kosmodrom wird gerade in XiangshanXiangshan in der Hafenstadt Ningbo am Ostchinesischen Meer gebaut, etwa zweieinhalb Autostunden südlich von ShanghaiShanghai. In einigen Jahren sollen hier »Schnellstarts« erfolgen, bei denen hundert kommerzielle Raketen pro Jahr in den Weltraum geschossen werden. In mancher Hinsicht erinnert Xiangshan an das Kennedy Space CenterKennedy Space Center am Cape CanaveralCape Canaveral in FloridaFlorida. Beide liegen direkt an einer Küste mit langen Sandstränden, sodass keine Raketen über bewohntes Gebiet fliegen müssen, und beide befinden sich südlich genug, um die Atmosphäre schnell hinter sich zu lassen. Die Einsatzleitung erfolgt von PekingPeking oder Xi’an in Zentralchina aus. Es gibt aber auch ein globales Netzwerk von Bodenstationen, die den Weltraumverkehr überwachen und mit Chinas Raumstation und den Satelliten Kontakt halten. Sie befinden sich unter anderem in NamibiaNamibia, PakistanPakistan, KeniaKenia, SchwedenSchweden, VenezuelaVenezuela und ArgentinienArgentinien. Außerdem unterhält die CNSA eine Flotte von Beobachtungsschiffen auf den Weltmeeren. Sie bieten einen eigenartigen Anblick, wenn sie mit ihren zahllosen Satellitenantennen und Laserstrahlern durch den Ozean pflügen und den Himmel nach Raketen und Satelliten absuchen.
Das neue internationale Space Center XiangshanXiangshan liegt nur wenige Kilometer von den Industrieanlagen an der Mündung des Jangtse entfernt, die sich auf Zulieferungen für die Raumfahrt spezialisiert haben. Die Nähe zu den großen Häfen Ningbo und ShanghaiShanghai lässt erwarten, dass Xiangshan bald eine Schlüsselrolle in der kommerziellen Raumfahrt übernehmen wird.
Die örtlichen Behörden wollen Ningbo zu ChinasChina »Weltraumstadt« machen. Auch der größte chinesische Automobilkonzern Geely hat hier einen wichtigen Standort. Im Juni 2022 hat eine Tochterfirma von Geely in XichangXichang neun eigene Satelliten, die Geely Future Mobility Constellation, gestartet, die das allgemeine Navigationssystem der BeiDou-Satelliten so weit verbessern, dass damit autonomes Fahren möglich werden soll.
Die wachsende kommerzielle Raumfahrtindustrie Chinas verfügt zwar noch nicht über die finanziellen Mittel wie die private Raumfahrtindustrie in den Vereinigten StaatenUSA, aber die Firmen wollen dringend in die Konstruktion, den Bau und die Inbetriebnahme eigener Satelliten investieren, ehe die Unteren Erdumlaufbahnen endgültig überfüllt sind. Die Kommunistische Partei unterstützt die privaten Initiativen seit 2014, aber wie immer sind die Bindungen an den Staat stärker ausgeprägt als in anderen Ländern. Es gibt heute mehr als hundert raumfahrtbezogene Privatunternehmen in ChinaChina, viele davon sind jedoch Spin-offs von Staatsbetrieben. So ist zum Beispiel der Raketenbauer ExPace in Wuhan die Tochter einer Tochtergesellschaft des chinesischen Rüstungskonzerns China Aerospace Science and Industry Corporation (CASIC).
Andere halten mehr Abstand zum Staat. i-Space war zum Beispiel das erste chinesische Privatunternehmen, das den Sprung in die Erdumlaufbahn schaffte, als es 2019 seine Rakete Hyperbola-1 startete. Dann allerdings folgten 2021 zwei Fehlschläge. Auch andere haben schwere Rückschläge hinnehmen müssen. Um das in Zukunft zu vermeiden, erlaubt die Regierung jetzt einen allmählichen Transfer von vormals geheimer staatlicher Technologie und Fachwissen zu Privatunternehmen. Der zivile und der militärische Sektor sollen künftig stärker zusammenarbeiten. Das Zusammenspiel von Staat, Privatindustrie und den führenden Universitäten des Landes ist in viel höherem Maße formalisiert als in den USAXE ሴrStyleᥱ02typoversalᥱሴ"USA. Im starken Wettbewerb auf diesem Markt werden einige der neuen Unternehmen unweigerlich scheitern, aber sicher ist auch, dass einige von ihnen starke nationale und vielleicht sogar globale Player werden.
Die stärkste Unterstützung kommt dabei von den Fachkräften. Man sagt, dass ChinaChina langfristig ein demografisches Problem haben könnte, weil 2050 ein Drittel der Bevölkerung sechzig Jahre alt wird, aber derzeit gibt es ein riesiges, ständig wachsendes Reservoir an gut ausgebildeten, hochmotivierten Wissenschaftlern und Ingenieuren. Allein die Universität für Luft- und Raumfahrt PekingPeking hat 23 000 Studenten. In diesem Jahrhundert hat sich die Zahl der erfolgreichen Studienabgänger in den Ingenieurwissenschaften in China alljährlich erhöht, während die Zahl in den Vereinigten StaatenUSA jedes Jahr kleiner wurde.
Angesichts der Erfolge mit dem GPS-System, das die amerikanische Wirtschaft seit 1985 enorm gestärkt hat, will PekingPeking in den nächsten Jahren das BeiDou-Navigationssatellitensystem ausbauen und für weitere Industrien und Dienstleistungen nutzen. Es ist der chinesischen Regierung nicht entgangen, dass amerikanische Farmer ihr Land mit GPS besser nutzen, Lieferdienste ihre Arbeit besser organisieren, Finanzinstitute ihre Zahlungen noch präziser abwickeln und die Reedereien ihre Schiffsbewegungen genauer kontrollieren können. Es gibt Untersuchungen, wonach das GPS-System der amerikanischen Wirtschaft 1,4 Billionen Dollar eingebracht hat, wobei das stärkste Wachstum in den letzten zehn Jahren erzielt wurde. Das BeiDou-System erreicht heute ungefähr 330 Millionen Smartphones und acht Millionen Fahrzeuge. Die verschlüsselte militärische App ist sogar noch genauer als die für zivile Benutzer. Sie dient sowohl den Bewegungen der eigenen als auch der Beobachtung fremder Streitkräfte.
ChinaChina plant, in der nächsten Dekade etwa tausend Satelliten zu starten, und wird seine Dienste auch weiterhin Entwicklungsländern zur Verfügung stellen, die keine eigenen Raketen und Satelliten haben. Damit will man die bilateralen Beziehungen stärken und diese Staaten aus dem Einflussbereich der USAUSA lösen. Auch wissenschaftliche Erfolge werden erwartet, so wie die des chinesischen Hard-X-ray-Modulation-Teleskops (HXMT), des ersten chinesischen satellitenbasierten Weltraumteleskops, das mit Röntgenstrahlen arbeitet und bei der Beobachtung schwarzer Löcher 2020 das stärkste Magnetfeld im Universum entdeckt hat.
Ein chinesischer Raumgleiter ist möglicherweise schon heute im Einsatz. Wenn nicht, dann wird er wohl bald gebaut werden. Ein Raumgleiter ist eine Rakete mit Flügeln, die von einer Trägerrakete in eine Höhe von etwa 800 Kilometern gebracht wird, dort monatelang bleiben und manövrieren kann und dann wie ein Flugzeug landet. Die Amerikaner haben so ein Ding schon seit 2010: Die unbemannte Boeing X-37B ähnelt den inzwischen außer Dienst gestellten Space Shuttles, ist aber kleiner, nur ungefähr neun Meter lang. Sie hat allerdings bisher nur wenige Flüge unternommen, und was dabei jeweils ihre genaue Mission war, unterliegt strenger Geheimhaltung.
Über das chinesische Modell ist sogar noch weniger bekannt. Man vermutet, dass es schon einmal im Weltraum war, aber auch das ist nicht sicher. Dass die ChinesenChina gern auf vorbeifliegenden Asteroiden landen und dort Bodenschätze abbauen würden, ist dagegen schon öffentlich. Manche dieser Gesteinsbrocken haben einen Durchmesser von Dutzenden Kilometern und enthalten möglicherweise Tonnen von seltenen Metallen, die für die Technologien des 21. Jahrhunderts gebraucht werden. Origin Space, eins von Chinas vielen Start-ups, hat deshalb schon mal den Prototyp eines Roboters losgeschickt, der nicht nur Weltraumschrott, sondern später auch Bodenschätze auf Asteroiden einsammeln soll.
Außerdem besteht die Absicht, eine weitere Sonde zum MarsMars zu schicken. Schon die Anreise ist nicht ganz einfach, aber ChinaChina, die USAUSA und die ESAESA schmieden Pläne, Bodenproben und Steine aufzusammeln und auf die Erde zu bringen. Anschließend sollen dann Sonden zum JupiterJupiter und zum SaturnSaturn geschickt werden.
Aber das Projekt mit der größten politischen Bedeutung sind wahrscheinlich Chinas bevorstehende Mondlandungen.
Im März 2021 unterzeichneten die Volksrepublik und RusslandRussland einen Vertrag über eine Internationale Mondforschungsstation (International Lunar Research Station, ILRS), die in drei Phasen entstehen soll. Bis 2026 sollen Erkundungen stattfinden, zu denen auch drei bemannte Missionen gehören. Dann sollen bemannte Landungen mit regelmäßiger Rückkehr beginnen. In einer Erklärung der chinesischen Seite heißt es, die beiden Länder würden »die wissenschaftliche Erforschung am Südpol des Mondes vorantreiben, um den Bau einer Forschungsstation in dieser Gegend vorzubereiten«. Der Südpol wurde offenbar ausgewählt, weil die dortigen tiefen Krater möglicherweise gefrorenes Wasser enthalten.
Als ChinaChina seine erste unbemannte Sonde auf der Rückseite des Mondes landen ließ, stellte es seine Fahne auf und ließ einen Roboter nach Bodenproben graben. Schon damals hielt man es für möglich, dass dort eine feste Station gebaut werden soll. Manche Berichte deuten darauf hin, dass China schon für 2028 eine permanente Anwesenheit auf dem MondMond plant, aber das klingt viel zu ehrgeizig. 2030 erscheint realistischer und wäre immer noch sehr eindrucksvoll.
Die ersten Bauten sollen dazu dienen, Bodenschätze zu gewinnen und damit die Konstruktion von weiteren Anlagen zu ermöglichen. Dafür wird viel Wasser gebraucht, deshalb die Landung am Südpol. MoskauMoskau und PekingPeking sagen, die Forschungsstation soll 2035 voll in Betrieb sein. Die Amerikaner sind hinsichtlich des von ihnen geführten Artemis-Projekts sehr viel zurückhaltender.
Der Bau einer Mondstation wird die Fantasie einer ganzen Generation mindestens ebenso anregen wie die Mondlandung von ArmstrongArmstrong, Neil und AldrinAldrin, Edwin im Jahr 1969. Die entsprechende Bewunderung für die technologische Leistung und Entschlossenheit der beteiligten Nation oder Nationen kann gar nicht ausbleiben. Es geht dabei nicht bloß darum, irgendwo als Erster seine Flagge aufzupflanzen, es geht um das Erreichen der High Frontier, der »Hohen Grenze«, und um die damit verbundenen kommerziellen und militärischen Vorteile. Als Belohnung winken die möglichen Bodenschätze des Mondes und die Aussicht, ihn als Ausgangspunkt für militärische Satelliten nutzen zu können, die von der Konkurrenz kaum zu entdecken sind.
Im Verlauf dieses Jahrzehnts werden noch weitere Ansprüche auf die Beherrschung des Weltraums erhoben werden. ChinaChina ist gegenwärtig die einzige Nation, die mit der TiangongTiangong eine eigene Raumstation hat. Sie macht zwar keine großen Schlagzeilen, aber astropolitisch ist sie ein deutliches Statement. Die viel bekanntere ISSISS war und ist ein Kooperationsmodell, an dem sich die EuropäerEuropa, JapanJapan, RusslandRussland, die USAUSA und KanadaKanada beteiligt haben. Sie hat 250 Astronauten aus neunzehn verschiedenen Ländern beherbergt. Die Tiangong wird dagegen ausschließlich von China betrieben und soll bis voraussichtlich 2037 in Dienst bleiben. Tiangong 1 und 2, die beiden Vorgänger, die zwischen 2011 und 2016 gebaut wurden, waren Testversionen für diese dritte, die fast dreimal so schwer und sehr viel größer ist. Der stellvertretende Chefkonstrukteur Bai LinhouBai Linhou sagte, die drei Taikonauten, die jeweils sechs Monate in der Raumstation bleiben, werden sich fühlen, »als lebten sie in einer Villa«. Soviel man weiß, gleicht die Raumstation aber eher einer bescheidenen Airbnb-Unterkunft als einem Luxushotel. Sie besteht nur aus drei Modulen, während die ISSISS sechzehn hat. Trotzdem bietet die TiangongTiangong schöne Aussichten, und die werden noch besser, wenn das Xuntian-Teleskop angekoppelt wird. Obwohl es mit seinem Spiegel von zwei Metern Durchmesser nicht größer als das Hubble-Teleskop ist, soll das Xuntian-Teleskop einen Sichtbereich haben, der dreihundertmal größer ist, und eine Kamera, die eine Auflösung von 2,5 Milliarden Pixel hat. An Bord der Tiangong werden Versuche zur Raummedizin, Biotechnologie, Verbrennung bei stark verminderter Schwerkraft, Strömungsphysik, zum 3-D-Druck, zu Robotik, Energiestrahlen und künstlicher Intelligenz durchgeführt. Die Station bewegt sich meist auf 400 Kilometern Höhe und ist, ähnlich wie die ISS, manchmal mit bloßem Auge am Nachthimmel sichtbar.
Die ISSISS soll spätestens 2030 außer Dienst gestellt werden. Wenn das geschieht, öffnet sich vielleicht ein Zeitfenster für die chinesische Raumfahrt. Zum Artemis-Programm gehört der Lunar Gateway – eine kleine Raumstation, die den MondMond umkreist und als Anlaufpunkt und Drehscheibe für Raumschiffe, Mannschaften, Landemodule und Rover dienen soll, die zwischen ihren Trips neu bevorratet werden müssen. Jede Verzögerung dieses Gateway-Projekts aber wird dazu führen, dass die TiangongTiangong die einzige Raumstation ist, die gegebenenfalls Gäste aufnehmen kann. Das wäre eine Demonstration chinesischer Gastfreundschaft im Geist der Zusammenarbeit und ein Signal, dass die ChinesenChina zumindest für eine Zeitlang die Führung übernommen haben.
PekingPeking hat jetzt schon erklärt, dass es sich auf Besuche internationaler Astronauten freut und »mit allen Ländern auf der Welt zusammenarbeiten will, denen an der friedlichen Nutzung des Weltraums gelegen ist«. Es hat eine Reihe von wissenschaftlichen Experimenten gebilligt, die auf der Raumstation durchgeführt werden sollen. Aus den verschiedensten Ländern sind bisher neunundvierzig Vorschläge eingereicht worden. Ausgewählt wurde zum Beispiel eine Versuchsreihe mit dem Titel »Tumorbehandlung im Weltraum«, bei der NorwegenNorwegen federführend sein wird. Von 2025 an wird dabei untersucht, welche Auswirkung die Schwerelosigkeit und Strahlung im Weltraum auf das Wachstum von Tumoren haben.
Es sieht so aus, als ob ChinaChina und die USAUSA im nächsten Jahrzehnt in den Bereichen Hightech und Ingenieurwissenschaften nicht viel miteinander zu tun haben werden, obwohl hier möglicherweise die größten Herausforderungen liegen, vor denen die Menschheit sowohl auf der Erde als auch im Weltraum steht. Zusammenarbeit wäre möglich. Dafür wäre es aber sinnvoll, einen Vorschlaghammer wie das Wolf Amendment beiseitezulegen und nach einer etwas geschickteren Lösung zu suchen. Aber ehe das gelingt, könnten zumindest das Verteidigungs- und das Außenministerium der USA schon einmal nach gemeinsamen Interessen und Wegen zur Kooperation suchen; denn das Wolf Amendment betrifft ja ausschließlich die NASANASA.
Zur Entspannung zwischen den Amerikanern und Sowjets hat der »Handschlag im Weltall« beim Sojus-Apollo-Rendezvous 1975 sehr viel beigetragen. Nach dem Ende des Kalten Krieges war die Zusammenarbeit zwischen RusslandRussland und den USAUSA auf der ISSISS eine Brücke, auf der man ein besseres Verhältnis zumindest erproben konnte. Die Rückkehr zum MondMond ist eine neue Chance.
Ob die Beteiligten in der Lage und willens sind, diese Chance zu nutzen und im Weltraum den gemeinsamen Sprung zu wagen, wird allerdings von ihrem Verhältnis hier auf der Erde abhängen.