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Dezente Klaviermusik empfing Mary, als sie die Grand Lobby betraten. Sie hatte die Lobby während ihrer letzten Reise durch die Karibik zahllose Male durchschritten. Aber auch jetzt empfand sie eine gewisse Ehrfurcht vor diesem beeindruckenden Herzstück des Schiffes. Die stuckverzierte Galerie, auf der Edelboutiquen erlesene Waren für den nicht ganz so alltäglichen Bedarf anboten. Die runden Emporen, von denen aus man hinab in die aufwendig gestaltete Halle blicken konnte. Die sacht geschwungenen, mit rotem Teppich ausgelegten Treppen, die hinunter in den weitläufigen, von marmorierten Säulen umstellten Sitzbereich mit seinen komfortablen Sesseln führten. Das gewaltige bronzene Relief, das hoch über all dem prangte, und aus dem das Schiff, von stürmischen Wellen getragen, triumphal aus einem Strahlenkranz hervorzubrechen schien. Die Grand Lobby versetzte ihren Betrachter zurück in die 1920er-Jahre, das goldene Zeitalter der Kreuzfahrten, und Mary war sicher, dass die Ladys und Gentlemen von damals sich nicht erhabener gefühlt hatten als sie selbst und ihre Mitreisenden, die hier gerade versammelt waren und sich dieser Pracht voller Bewunderung hingaben.
An einem schwarzen Konzertflügel, der am Fuße einer der Treppen aufgestellt war, saß der Bordpianist in schwarzem Anzug und füllte die gediegene Atmosphäre mit weichen Klängen, die leicht und spielerisch durch die Halle schwebten – gläsern, schien es, wie die glitzernden Kristalle an den üppigen Blumensträußen, mit denen die Lobby geschmückt war. Bei der Musik, die er zur Unterhaltung der Bordgäste zum Besten gab, handelte es sich um die Instrumentalversion eines bekannten Songs der Beatles. Auch wenn dieses Stück das Können des Pianisten sicher nicht übermäßig forderte, hörte Mary, dass er nicht einfach zum tausendsten Mal lustlos sein Repertoire herunterspulte. Und sie sah es auch. Die Musik schien durch ihn hindurch und aus ihm hinaus in den Flügel zu fließen. Sein schmaler Oberkörper, der auf dem Hocker hoch über das Instrument hinausragte, wiegte sich im Rhythmus vor und zurück, während seine langgliedrigen schlanken Finger über die Tasten eilten. Sein Kopf, bedeckt mit wirr gelocktem dunklem Haar, pendelte an seinem leicht geknickten Hals mal abwärts, wie von den Tönen herabgezogen, mal aufwärts, wie von ihnen emporgehoben. Mary empfand eine gewisse Traurigkeit, als sie sah, dass die übrigen Passagiere die Musik kaum wahrzunehmen schienen. Ihnen galten die innig vorgetragenen Klänge lediglich als Hintergrundgeplänkel. Den Pianisten schien es nicht zu kümmern. Seine dunklen, weichen Augen, deren Blick er gelegentlich durch die Grand Lobby schweifen ließ, verrieten: Es wäre ihm unmöglich gewesen, auch nur eine einzige Note zu spielen, ohne seine gesamte Leidenschaft in ihr erklingen zu lassen. Und wann immer ihn eine Passage seines Liedes besonders berührte, lief ein Lächeln über sein Gesicht, in dem die tiefe Liebe zu seiner Kunst leuchtete.
Der Pianist war das erste bekannte Gesicht, das Mary auf der Queen Anne erblickte. Schon während ihrer ersten Fahrt hatte er für die musikalische Unterhaltung der Gäste gesorgt. Zwar hatte sich kein Gespräch zwischen ihm und Mary ergeben, aber sein Können und seine Hingabe hatten sie schon damals tief beeindruckt. Sie freute sich, erneut in den Genuss seiner Musik zu kommen. Vielleicht, dachte sie, ergibt sich ja dieses Mal die Gelegenheit, ihn persönlich kennenzulernen und ihm ihre Bewunderung auszudrücken. Schließlich gehörte er ganz eindeutig zu jenen faszinierenden Charakteren, die einen Aufenthalt an Bord so abwechslungsreich gestalteten.
De Jong hatte Mary zu einem Sessel nahe des Säulengangs geleitet.
»Wenn Sie Platz nehmen und sich ein wenig gedulden möchten«, sagte er und rückte ihr den Sessel zurecht. »Ich lasse Ihnen einen Tee bringen und teile Kapitän MacNeill mit, dass Sie eingetroffen sind. Er wird sofort bei Ihnen sein.«
»In Ordnung, ich warte dann so lange hier«, sagte Mary. »Und vielen Dank für Ihren freundlichen Empfang, Mr. de Jong.«
»Es ist mir eine Ehre, Mrs. Arrington.«
Er wandte sich um und durchquerte die Halle mit den ausgreifenden Schritten, die seiner stattlichen Erscheinung angemessen waren. Etwa in der Mitte der Lobby hielt er einen gerade vorüberkommenden Stewart an. Während er ihm mit einem diskreten Zeichen in Marys Richtung den Auftrag erteilte, ihr Tee zu servieren, lüftete de Jong ein weiteres Mal seine Mütze, um sich das Haar zurechtzustreichen. Mary, die ihn beobachtete, schmunzelte über diese eitle kleine Eigenheit – und über die begehrlichen Blicke einiger Damen, denen der fesche Offizier nicht entgangen war und die wohl hofften, er werde ihnen – sozusagen als Teil des bordeigenen Unterhaltungsprogramms – die Reise noch ein wenig aufregender gestalten.
Mary indes lehnte sich in ihrem Sessel zurück, um die Herrlichkeit der Grand Lobby , das geruhsame Treiben, das hier herrschte, und die anmutige Musik, die all dies untermalte, ganz in Ruhe in sich aufzunehmen.
Plötzlich aber brach das Lied ab.