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»Tot? Was meinen Sie mit tot?«
Der Orchesterleiter warf verärgert die Hände in die Luft, als handele es sich dabei nicht nur um eine gänzlich unbewiesene, sondern noch dazu vollkommen absurde Behauptung. Sein breites Gesicht mit dem schmalen schwarzen Schnurrbart hatte sich vor Erregung rot eingefärbt.
»Er kann nicht tot sein. Er hat nicht tot zu sein. Ich meine, wie stellen Sie sich das vor, hm? Mein Orchester ist sowieso unterbesetzt. Ausfälle sind absolut nicht hinnehmbar, schon gar nicht so kurzfristig. Können Sie mir erklären, wie ich meinen Stammpianisten ersetzen soll, von einem Tag auf den anderen? Und dazu noch auf hoher See?«
So wie er die Musiker mit den Bewegungen seines Taktstocks lenkte, begleitete er auch seine Worte ununterbrochen mit zackigen oder geschmeidigen Handbewegungen, als dirigiere er sich selbst und gebe sich mit präzisen Gesten zu verstehen, wann seine Stimme sich zu heben oder zu senken, langsamer oder schneller zu werden hatte.
Mary hielt einen Sicherheitsabstand zu ihm, um nicht seine Finger ins Gesicht zu kriegen. Es war schon unangenehm genug, dass er sie persönlich für seine Misere verantwortlich machte, obwohl sie lediglich diejenige war, die ihm die schlechte Nachricht überbracht hatte.
»Erst ruiniert er gestern die Vorstellung, und jetzt das: Tot – so mir nichts, dir nichts. Das kann er nicht machen. Er hat ein Engagement, eine Verpflichtung.«
Die Spitzen seines Schnurrbarts, die fein gezwirbelt über die Winkel seines fülliges Mundes herausragten, zitterten bei jedem Wort
wie Fühler, die aufgebracht ausschlugen. Auch sein schwarzes Haar, das er in einem Mittelscheitel gekämmt trug, schien zu wippen und zu beben, als dringe ihm die Empörung buchstäblich bis in die Haarspitzen.
»Ich fürchte«, sagte Mary, »es wird ihm unmöglich sein, diese Verpflichtung zu erfüllen, Mr. …«
»Király.« Der Orchesterleiter versah jede Silbe mit einem Taktschlag seines Zeigefingers. »Milan Király. Und das, was hier vor sich geht, ist …«
»Sie sind Ungar?«, unterbrach Mary ihn.
Király hielt in der Schimpftirade inne, zu der er gerade von Neuem angesetzt hatte. Auch seine Hände hielten still. Dann lächelte er. Die Schnurrbartspitzen krümmten sich wie die Mundwinkel nach oben und lächelten dadurch sozusagen mit.
»Ganz recht, Madam«, sagte er und schien seinen Ärger zumindest für den Augenblick vergessen zu haben. »Sie sind mit ungarischen Namen vertraut?«
»Ein wenig«, antwortete Mary. Sie hatte sich dieses Wissen bei der Recherche für einen ihrer Krimis um ihren Helden Stuart Smith angeeignet: Bankraub in Budapest.
Sie freute sich, dass es ihr nun dabei half, Király in seinem wütenden Eifer zu bremsen. Und vielleicht konnte sie sogar etwas wie ein Vertrauensverhältnis zu ihm aufbauen, was für dieses Gespräch nur förderlich sein konnte. Mary hatte schon oft die Erfahrung gemacht, wie hilfreich es war, wenn man sein Gegenüber einerseits überraschen und ihm gleichzeitig das Gefühl geben konnte, man interessiere sich für ihn. Was in diesem Fall nicht im Geringsten geheuchelt war. Selbst wenn sich Mary von ihrem Austausch mit Király keine Aufschlüsse über Winkler und den Mord versprochen hätte, ließ sich nicht bestreiten, dass er, ganz Mann der Bühne, einen hohen Unterhaltungswert besaß, selbst wenn er gerade keine Vorstellung bot. Oder zumindest keine offizielle.
Einen Fortschritt nun hatte sie mit ihrer Frage in jedem Fall erreicht: Sie hielt Király davon ab, sich weiterhin auf unabsehbare Zeit über die Schwierigkeiten auszulassen, die ihm der Tod eines seiner Orchestermitglieder aufbürdete. Viel länger hätte sie sich das auch nicht anhören können. Sie verstand die Probleme, die sich für
ihn und sein Orchester ergaben. Aber es fiel ihr schwer, mit ihm Mitleid zu empfinden. Schließlich kam er im Vergleich zu Winkler noch ziemlich gut bei der Sache weg. Mary empfand es als äußert unangebracht, dass ihm nichts anderes einfiel, als sich und sein Leid in den Mittelpunkt zu stellen. Ins Rampenlicht, sozusagen. Vielleicht, dachte Mary, wäre es besser gewesen, ihn in seiner Kabine aufzusuchen statt hier im Royal Theatre
, wo er daran gewöhnt war, emotionsgeladene Aufführungen zu bieten. Offenbar konnte er sich selbst jetzt nicht davon abhalten, obwohl der Zuschauerraum verlassen vor ihnen lag und der Saal hell erleuchtet war, weshalb er nichts von dem Zauber verströmte, der ihm bei einem Konzert oder einem Theaterstück innewohnte. Der rote Vorhang hinter ihnen war geschlossen, sodass sich ihr Gespräch nicht vor dem Hintergrund aufwendig gestalteter Bühnenbilder abspielte. Trotzdem kam sich Mary komisch dabei vor, mit Király allein auf der Bühne zu stehen, so als seien sie Schauspieler in einem Drama vor unsichtbarem Publikum.
Király seufzte und berührte seine Stirn mit den Fingerspitzen.
»Verzeihen Sie mir«, sagte er, nachdem er sich gesammelt hatte. »Die Mitteilung von Christophs Tod hat mich vollkommen aus dem Konzept gebracht. Bitte seien Sie so gut, aus meiner Reaktion nicht auf meine Gefühle zu schließen. Es war Überforderung, nichts weiter. Verdrängung vielleicht. Die Sache ist schrecklich, einfach nur schrecklich. Nicht nur, weil mir dadurch mein Pianist abhandengekommen ist. Ich danke Ihnen für Ihre Mitteilung, so sehr sie mich auch trifft. Natürlich bin ich bereit, all Ihre Fragen zu beantworten, sofern ich dazu imstande bin.«
»Dafür wäre ich Ihnen sehr dankbar.« Mary war erleichtert darüber, dass Király endlich zur Ruhe – und zur Vernunft – gekommen war. Einerseits, weil nun hoffentlich die Verletzungsgefahr durch seine fuchtelnden Hände gebannt war. Andererseits, und das war die Hauptsache, weil diese Begegnung sie nun endlich in ihren Ermittlungen weiterbringen konnte. Zwischenzeitlich hatte Mary schon gefürchtet, ihre Zeit hier komplett zu verschwenden. Und das konnte sie sich auf keinen Fall leisten.
Der Plan, den sie mit MacNeill gefasst hatte, war durchaus
aussichtsreich. Aber er war auch heikel, und es bestand stets das Risiko, dass etwas schiefging.
Um den Schein zu wahren, hatte der Kapitän Germers Anweisung befolgt. Er hatte alle Stewarts und Offiziere, die in der vergangenen Nacht in der Grand Lobby
anwesend gewesen waren, auf Stillschweigen über Winklers Tod eingeschworen. Falls jemand sich nach ihm erkundigte, sollten sie erklären, der Pianist habe einen Nervenzusammenbruch erlitten. Darum habe der Kapitän unverzüglich ein Boot der norwegischen Küstenwache gerufen. Winkler sei abgeholt und an Land in ärztliche Obhut übergeben worden. Nach Winklers Ausraster während des Konzerts würde kaum jemand diese Version der Geschehnisse anzweifeln.
Auf diese Weise, so hofften sie, würde sich Germer in Sicherheit wiegen und davon ausgehen, dass sie ihm tatsächlich gehorchten. Während Mary und der Kapitän sich also verhielten, als habe er sie eingeschüchtert, wollten sie heimlich ihre Nachforschungen vorantreiben. Aufgrund der Stellung des Kapitäns würde es Germer weitaus leichter fallen, ihn zu überwachen als Mary. Immerhin war es nicht undenkbar, dass der Doktor, so unausstehlich er auch sein mochte, in der Crew Verbündete hatte. Vielleicht hatte MacNeill sich Feinde gemacht, oder sie wollten sich beim Schiffseigner einschmeicheln oder einfach nur schnelles Geld verdienen, indem sie MacNeill im Auftrag des Schiffsarztes hinterherspionierten. Natürlich konnten sie auch ein Auge auf Mary haben. Sie jedoch war bei Weitem nicht so angreifbar wie der Kapitän, über dem wie ein Damoklesschwert ständig die Drohung einer Kündigung schwebte, sollte er sich gegen Germers Anweisung um die Aufklärung des Verbrechens bemühen. Sollte Germer sie bei ihren ›Schnüffeleien‹ erwischen, würde sie behaupten, auf eigene Faust gehandelt zu haben, sodass der Kapitän keine Konsequenzen zu befürchten hatte.
MacNeill hatte Mary mit einer Vollmacht ausgestattet, die ihr an Bord Sonderrechte einräumte. So war es ihr erlaubt, auch jene Bereiche zu betreten, die für die Passagiere gemeinhin gesperrt waren. Zudem hatte er ihr geholfen, einige Gespräche mit Personen zu arrangieren, von denen Mary hoffte, Näheres über Winkler zu erfahren – und vielleicht dadurch Hinweise auf den Täter oder die Täterin zu erhalten. Es war MacNeill natürlich nicht möglich
gewesen, diese Leute offiziell vorzuladen. Germer hätte sofort Wind davon bekommen. Aber was war schon verdächtig daran, wenn Mary der morgendlichen Probe des Bordorchesters beiwohnte und hinterher noch ein wenig mit dem Orchesterleiter plauderte? Dagegen konnte schließlich nicht einmal Germer etwas haben. Wenn er überhaupt etwas mitbekam und nicht viel zu sehr damit beschäftigt war, sich irgendwelche an den Haaren herbeigezogenen Erklärungen für Winklers Tod zusammenzureimen.
Mary hoffte, dass er es sich in seiner Krankenstation bequem gemacht hatte und ihr bei ihren Unterhaltungen nicht in die Quere kam. Ihren Gesprächspartnern würde sie die Wahrheit über Winklers Verschwinden sagen. Nicht nur, weil sie den Teufel tun würde, sich Germer zu fügen und die Wahrheit zu unterschlagen. Sondern auch, weil sie sehen wollte, wie diese Leute auf die Nachricht von Winklers Tod reagierten. Schließlich waren sie nicht nur mögliche Informanten. Manch einen hatte sie bereits auf ihre Liste potenzieller Verdächtiger gesetzt. Wo sie den Orchesterleiter einordnen sollte, wusste sie noch nicht genau. Aber es schien ihr aussichtsreich, mit ihm den Anfang zu machen.
Hendrik de Jong hatte die Fotos, die er von Winkler und dem Tatort gemacht hatte, von seinem Handy hochgeladen und sie ihr als E-Mail-Anhang geschickt. Mary hatte bereits einige Zeit damit verbracht, sie genauer zu untersuchen. Das goldene Symbol am Griffende des Dolches stellte, wie sie herausgefunden hatte, einen Violinschlüssel dar. Dieser und das Notenblatt, das man Winkler an die Brust geheftet hatte, legten die Vermutung nahe, dass der Mörder einen Bezug zu Musik hatte. Vielleicht handelte es sich bei dem Täter sogar um einen von Winklers Musikkollegen. Es war somit nur folgerichtig, mit ihren inoffiziellen Vernehmungen genau hier zu beginnen.
»Mich würde interessieren, was für ein Mensch Christoph Winkler war, wie Sie seinen Charakter beschreiben würden.«
»Seinen Charakter?«, fragte Király. »Wie soll man den beschreiben? Winkler war ein freundlicher, netter, wohlerzogener Mann. Beste Manieren. Gebildet. Belesen. Musikalisch enorm bewandert. Und imstande, mit Menschen umzugehen. Feingefühl, ja, das hatte er. Nicht nur für die Tasten, auch für Menschen. Rundum
liebenswert. So kannte ich ihn. Ich bin sicher, das würden alle sagen, die ihn kannten.«
Mary war enttäuscht. Diese oberflächliche Beschreibung brachte sie kein bisschen weiter. Király jedoch war noch nicht am Ende.
»Aber ich sage Ihnen Folgendes.« Er griff seinen Schnurrbart zwischen Daumen und Zeigefinger und zwirbelte ihn noch ein wenig spitzer. »Christoph Winkler hatte auch eine dunkle Seite, ein schwarzes Feuer, wenn Sie so wollen, das in ihm loderte und dass er niemals erlöschen ließ. Manchmal schlugen die Flammen des Feuers hoch und drohten, ihm die Seele zu verbrennen.«
Jetzt, dachte Mary, kamen sie der Sache schon näher, dieser etwas arg poetischen Ausdrucksweise zum Trotz.
»Woher«, fragte sie, »wissen Sie etwas über seine dunkle Seite?«
»Ganz einfach. Ich habe ihn spielen gehört. Wenn Sie ihn erlebt hätten, wie er Beethoven spielte, die Mondscheinsonate
oder … oh, Berlioz, der Marsch zum Schafott
in der Klavierfassung. Glauben Sie mir, wenn Sie das gehört hätten, wüssten Sie: Der Mann hatte Dämonen in sich, und das Klavier war der Ort, an dem er mit ihnen kämpfte, bemüht, sie in Schach zu halten, damit sie nicht die Oberhand über ihn gewannen.«
Király blickte bedeutungsvoll durch den leeren Saal. »Nicht immer, schien mir, gelang es ihm.«
Mary hätte ganz gut darauf verzichten können, dass der Orchesterleiter offenbar die Neigung hatte, jede seiner Antworten bühnentauglich zu dramatisieren. Sie fand es auch nicht schmeichelhaft, dass er das allein für sie, seine einzige Zuschauerin, tat. Abgesehen davon hätte sie gerne etwas konkretere Informationen über Winklers vermeintliche dunkle Seiten und inneren Dämonen gehabt.
»Glauben Sie, es waren diese Dämonen, die ihn gestern dazu brachten, so unvorhergesehen vom Programm abzuweichen? Oder könnte es irgendeine andere, vielleicht etwas greifbarere Erklärung für sein sonderbares Verhalten geben?«
Király zuckte die Schultern.
»Er war eben ein Künstler. Das ist ein besonderer Menschenschlag. Das können Sie mir glauben, da ich nicht nur selbst Künstler bin, sondern auch seit Jahrzehnten mit anderen Künstlern
arbeite, sie lenke, leite und forme. Ein Künstler hat immer auch etwas Animalisches, eine rohe Energie, die sich nicht immer bändigen lässt, oft nicht einmal von ihm selbst. Manchmal geht es mit ihm durch. Dass so etwas vor vollem Haus bei einer Premierenaufführung geschieht, ist natürlich überaus ungünstig. Aber einem wahren Künstler muss man das nachsehen. Christoph Winkler ist, ich meine war ein wahrer Künstler.«
Mary war nicht sicher, ob sie dieser Einschätzung der künstlerischen Energie zustimmen sollte. Wenn sie sich selbst auch eher als Handwerkerin betrachtete, ging sie doch zweifellos ebenfalls einer künstlerischen Tätigkeit nach. Etwas Animalisches hatte das aber, soweit sie es bestimmen konnte, bisher nicht in ihr zum Vorschein gebracht. Was ihrer Meinung nach auch ganz gut so war.
»Es erstaunt mich«, sagte Mary, »dass Sie das so gelassen sehen.«
»Ach Gott!« Király winkte ab. »Glauben Sie mir, ich habe in meiner Karriere schon weitaus Schlimmeres gesehen. Winklers Improvisation hat das Publikum wachgerüttelt, und das ist auch nicht immer von Nachteil. Allerdings haben nicht alle eine derart entspannte Einstellung zu dem gestrigen Vorfall.«
»Denken Sie da an jemand bestimmtes?«
»Nun, Signora Botticelli zum Beispiel. Ihre Reaktion auf der Bühne haben Sie ja selbst erleben dürfen. Aber später in der Garderobe, da hat die Verehrteste Zeter und Mordio geschrien, Möbel umgeworfen und Winkler die Pest an den Hals gewünscht – und zwar mit sämtlichen Schimpfworten nicht nur der italienischen, sondern auch noch der russischen Sprache. Es hat uns die größte Mühe bereitet, sie wieder zu besänftigen.« Er zuckte die Schultern. »Aber was soll man machen? Auch sie ist nun einmal eine Vollblut-Künstlerin. Da schwelen die Emotionen immer dicht unter der Oberfläche.«
»Ich verstehe«, sagte Mary. »Können Sie sich vorstellen, dass Sie ihm deswegen etwas antun würde?«
Király lächelte, als erübrige sich diese Frage von selbst.
»Künstler. Denen ist alles zuzutrauen. Ich denke, wenn sie ihn gestern in ihrer Garderobe in die Finger gekriegt hätte, wäre sie mit ihm ebenso umgegangen wie mit dem Mobiliar.«
»Ich verstehe«, erwiderte Mary. »Wenn ich Ihre Zeit nicht über
Gebühr in Anspruch nehme, dürfte ich Sie noch um eine Sache bitten?«
»Aber gewiss, Madam.«
Mary griff in ihre Handtasche und zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier heraus. Sie faltete es auseinander und reichte es Király.
»Können Sie mir hierzu etwas sagen?«
Der Orchesterleiter nahm das Blatt und betrachtete es mit gerunzelter Stirn. Es handelte sich um eine Abschrift jener Noten, die bei Winklers Leichnam zurückgelassen, beziehungsweise mit der Mordwaffe an ihm festgepinnt gewesen waren. Da Mary es für pietätlos hielt, das Foto des blutbesudelten Notenblattes überall herumzuzeigen, hatte sie sich die Mühe gemacht, die Noten sorgfältig abzuschreiben, nachdem sie zuvor mit Lineal und Bleistift die nötigen Linien auf Papier gezeichnet hatte. Für sie selbst waren es nichts weiter als schwarze Punkte mit Strichen und Fähnchen gewesen, die ihr nicht mehr mitteilten als ein Geheimcode, den sie zwar zu kopieren, nicht aber zu entschlüsseln vermochte. Király hingegen überflog ihre Niederschrift ebenso mühelos, wie er einen Absatz in einem Buch oder einem Zeitungsartikel überflogen hätte. Für jemanden, der es gewohnt war, die Stimmen der verschiedenen Instrumente eines ganzen Orchesters während eines Konzertes zu lesen, stellte dies offenbar keine Herausforderung dar.
»Eine sehr simple Melodie«, sagte er. »Obwohl Sie nicht eines gewissen Einfallsreichtums entbehrt, eines gewissen raffinierten Humors, möchte ich sagen. Hier, hören Sie.«
Er trat an den Flügel, platzierte das Blatt auf der Notenablage und begann, ohne sich zu setzen, zu spielen. Schon an den ersten Tönen erkannte Mary, dass es sich um jenes Lied handelte, das Winkler in der Lobby und gestern beim Konzert zum Besten gegeben hatte und das für so viel Unmut gesorgt hatte. Im Gegensatz zu Winklers Spiel klang das Stück nun aber, als Király es spielte, nicht mehr so hektisch und überdreht, sondern fröhlich und leicht. Das lag natürlich zu einem großen Teil daran, dass Király nicht mit der gleichen Gewalt und erschreckenden Besessenheit in die Tasten haute, wie Winkler es getan hatte. Aber das Lied klang in Marys Ohren noch auf andere Weise anders. Ein wenig nur, aber doch hörbar. Allerdings konnte sie gerade nicht bestimmen, worin dieser zusätzliche Unterschied
bestand.
»Das ist alles, Madam«, sagte Király, als er das Ende der Noten erreicht hatte. »Von hier aus geht das Stück in die Coda über, der Hauptteil wiederholt sich, bevor es sein Fine erreicht. Sie haben das Stück sicher erkannt, wenn Winklers … Interpretation auch geradezu brutal war und sämtliche Anweisungen zu Geschwindigkeit und Lautstärke missachtete. Simpel, wie gesagt, ein gutes Lehrstück etwa für einen Klavieranfänger. Aber nichts, was einen Virtuosen wie Winkler ansprechen sollte. Es ist mir nach wie vor schleierhaft, was ihn dazu bewegt haben könnte, ausgerechnet dafür den Ablauf unserer Konzertes zu stören.«
Er nahm das Blatt und gab es Mary zurück. Sie betrachtete noch einmal die Noten, die eben unter Királys Finger zum Leben erwacht waren. Dann faltete sie das Blatt wieder zusammen und steckte es zurück in ihre Tasche.
»Ist Ihnen dieses Lied denn bekannt? Können Sie mir etwas darüber sagen?«, wollte Mary wissen.
»Ich bedauere, Madam. Vor gestern Abend habe ich es noch nie gehört. Ich darf behaupten, in musikalischen Belangen recht bewandert zu sein. Aber dies ist nicht die Art von Komposition, die ich mit meinem Orchester zur Aufführung bringe, auch wenn wir das dank Winkler unfreiwillig getan haben. Ich weiß weder, wie dieses Stück heißt, noch wer es komponiert haben könnte.«
»Das ist bedauerlich.« Mary seufzte. »Das wäre eine überaus nützliche Information gewesen.«
Sie schlenderte ein paar Schritte über die Bühne, scheinbar, um sich ein wenig Bewegung zu verschaffen. Sie tat, als widme sie sich noch immer voll und ganz dem Gespräch mit dem Orchesterleiter. In Wahrheit aber nahm gleichzeitig noch etwas anderes ihre Aufmerksamkeit in Beschlag. Oder vielmehr jemand anderes. Vor einigen Minuten bereits, während Király das Lied gespielt hatte, hatte sich in dem Vorhang, der die Bühne von den Kulissen trennte, ein Spalt aufgetan. Es war nur ein schmaler Spalt, gerade breit genug, dass jemand hindurchspähen konnte, ohne selbst gesehen zu werden. Aber die sachte Bewegung des Stoffes war Mary nicht entgangen, und sie hatte ihre Position auf der Bühne verändert, um den Vorhang besser im Auge zu behalten – unauffällig, wollte sie
doch auf keinen Fall, dass, wer immer dort stehen mochte, aufgeschreckt wurde und die Flucht ergriff, bevor sie ergründen konnte, wer da ein solches Interesse daran hatte, ihrem Gespräch mit Király zu lauschen.
»Trotzdem vielen Dank, Mr. Király.« Aus dem Augenwinkel beobachtete Mary den Vorhang. Der Spalt hatte sich noch nicht wieder geschlossen. Sie überlegte, ob es ihr wohl gelingen konnte, mit einem kurzen Sprint schnell genug den Vorhang zu erreichen und ihn aufzureißen, um den Lauscher auf frischer Tat zu ertappen – und von ihm eine Erklärung für seine Anwesenheit zu fordern. Aber trotz ihrer vielen Stunden auf dem Laufband und Joggingrunden im Park zweifelte sie daran, dass sie schnell genug wäre. Da sie bis zum Vorhang einen guten Teil der Bühne überwinden müsste, würde er sie kommen sehen, konnte die Flucht ergreifen und in den Kulissen verschwinden, bevor sie ihn zu fassen bekäme. Das Gleiche würde wohl geschehen, wenn sie versuchte, zunächst bis zum Vorhang zu schlendern und erst dann losstürzte, um ihn durch den Spalt zu fassen zu kriegen. Wenn er ihr durch die Lappen ginge, würde sie den zwar kleinen, aber nicht unwesentlichen Vorteil verspielen, den sie über ihn hatte: Sie wusste, dass er sie belauschte. Er aber ahnte nicht, dass sie ihn entdeckt hatte. Natürlich wäre es ein weitaus größerer Vorteil gewesen, wenn sie gewusst hätte, um wen genau es sich bei dem unerwünschten Zuhörer handelte. Aber es war ihr unmöglich, nah genug heranzukommen, um ihrerseits durch den Spalt zu blicken. Sie überlegte, ob es ihr nicht auf andere Weise gelingen könnte, ihn aus der Reserve zu locken – ohne dass er merkte, dass er längst aufgeflogen war.
»Fällt Ihnen vielleicht sonst noch etwas zu Winkler ein – oder jemand, der mit ihm verfeindet gewesen und ein Interesse daran haben könnte, ihn umzubringen?«, fragte sie Király, um etwas Zeit zu gewinnen, denn sie ging nicht davon aus, dass der Orchesterleiter weitere nützliche Informationen besaß.
»Ich fürchte, da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen. Mit dem Aufruhr, den er gestern ausgelöst hat, hat er sicherlich eine Menge Leute verärgert. Wer davon so weit gehen würde, ihn zu ermorden, wage ich nicht zu beurteilen.«
»Ich verstehe«, sagte Mary. »Aber Sie haben mir auch so schon
enorm geholfen.«
Ohne direkt in Richtung Vorhang zu blicken, machte sie einen Schritt darauf zu. Und erreichte tatsächlich die gewünschte Wirkung. Der Zuhörer, alarmiert von ihrem Näherkommen, machte eine Bewegung, die den Vorhang wie ein sachtes Wehen in Wallung brachte. Leider nicht stark genug, dass der Vorhang sich geteilt und die Person dahinter zum Vorschein gebracht hätte. Aber das war auch gar nicht nötig. Mary wusste bereits, wer dort stand. Bei dem kurzen Aufruhr, in den sie ihn versetzt hatte, hatte der Lauscher zwar tunlichst darauf achtgegeben, sein Gesicht verborgen zu halten. Doch hatte er nicht darauf geachtet, bei seinen Füßen die gleiche Vorsicht walten zu lassen. Und so war es ihm entgangen, dass er seinen rechten Schuh unter dem Saum hindurchgesteckt hatte – einen spitz zulaufenden, glänzenden Lackschuh mit goldenen Schnürsenkeln. Der Schuh verriet Mary sofort, wer sich hinter dem Vorhang versteckt hielt. Schließlich war ihr dieses auffallende Schuhwerk schon einmal unter die Augen gekommen.
Sie dachte kurz daran, den Besitzer dieser Schuhe direkt anzusprechen und ihn einzuladen, durch den Vorhang zu treten und sich an ihrem Gespräch, an dem er offenbar großes Interesse hatte, zu beteiligen. Aber sie entschied sich dagegen. Es war besser, ihn zumindest vorerst in dem Glauben zu belassen, er sei weiterhin unerkannt. Konfrontieren konnte Mary ihn später immer noch.
»Nun also«, sagte sie und schüttelte Király die Hand. »Ich bin sicher, Sie haben noch Wichtiges zu erledigen. Ich werde Sie also nicht länger abhalten. Vielen Dank noch mal.«
»Gern geschehen«, sagte Király und begleitete die Worte mit einer Geste seiner bewegungsfreudigen Hände. »Ich freue mich, wenn ich Ihnen zu Diensten sein konnte. Wenn es noch etwas gibt, das ich für Sie tun kann, zögern Sie nicht, mich darum zu bitten.«
»Ich bin sicher, ich werde auf Ihr freundliches Angebot zurückkommen, Mr. Király. Bis dahin wünsche ich Ihnen trotz aller Schwierigkeiten, die Sie zu bewältigen haben, viel Erfolg mit Ihrem Orchester und den Aufführungen.«
Király vollführte eine kleine Verbeugung und trat an sein Notenpult, um die Partitur durchzugehen, die er darauf liegen hatte. Mary wandte sich um, ging zum Rand der Bühne und schritt die
wenigen Stufen hinunter, die hinab in den Zuschauerraum führten. Auf dem Weg zwischen den Sitzreihen hindurch Richtung Ausgang meinte sie, in ihrem Rücken noch immer den Blick des heimlichen Beobachters zu spüren, der sie durch den Vorhangspalt nach wie vor im Auge behielt. Es störte sie nicht. Ganz im Gegenteil. Sie wusste zwar noch nicht, welche Beweggründe ihn dazu trieben, ihr nachzuspionieren. Aber das würde sie schon herausbekommen. Und dass ihre Nachforschungen bereits jetzt, wo sie gerade erst mit ihnen begonnen hatte, eine solche Aufmerksamkeit erregten, nahm sie als gutes Zeichen.
Es deutete darauf hin, dass sie auf der richtigen Spur war.