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Mary durchquerte die Flure. Sie war auf dem Weg zu der Opernsängerin Anastasia Botticelli, um mit ihr über den Zwischenfall während des Konzerts und ihr Verhältnis zu Winkler zu sprechen. Doch ihre unschöne Begegnung mit der Gouvernante und dem Mädchen wollte Mary einfach nicht aus dem Kopf gehen. Selbst das Forellenfilet, das der Kellner kurz darauf an ihren Tisch gebracht hatte, und das Mary ganz hervorragend gemundet hatte, hatte sie nicht von ihren Gedanken abbringen können. Warum hatte sich die Gouvernante ihr gegenüber so feindselig verhalten? Warum hatte sie Mary ganz offensichtlich belogen?
Zu allem Überfluss gesellte sich zu diesen Gedanken noch ein weiteres ungutes Gefühl. Das Gefühl, verfolgt zu werden. Mary fragte sich, ob es wohl wieder dieser Maurice Mersault war, der auch ihr Gespräch mit Király belauscht hatte. Hatte er sie womöglich seitdem nicht mehr aus den Augen gelassen? Oder gab es noch jemanden, der über jeden ihrer Schritte informiert sein wollte. Es gelang Mary nicht, es herauszufinden. Wann immer sie sich umdrehte, war niemand da. Auch ihre Versuche in einem Spiegel oder einer Glasscheibe die Reflexion eines möglichen Verfolgers zu entdecken, waren vergeblich. Aber das beklemmende Empfinden, dass sich forschende Blicke in ihren Rücken bohrten, ließ nicht von ihr ab.
Sie erreichte die Kabine der Botticelli, natürlich eine Kabine der gehobenen Kategorie, wie es sich für den Stargast an Bord gehörte. Mary klopfte an und wartete. Aber niemand machte auf.
Sie klopfte noch einmal.
»Signora Botticelli?«, fragte sie.
Wieder nichts. Keine Antwort, die Tür blieb geschlossen. Mary drückte vorsichtig die Klinke hinunter. Sie rechnete zwar nicht direkt mit dem Schlimmsten. Gänzlich überrascht hätte sie es jedoch nicht, in der von einem Eindringling verwüsteten Kabine der Sängerin nach Christoph Winkler sogleich auf das nächste Mordopfer zu stoßen. Die Tür aber war verschlossen. Mary lauschte. Aus dem Inneren der Kabine war nichts zu hören. Doch da war etwas! Ein leises Rascheln. Aber es drang nicht von der anderen Seite der Tür zu Mary, sondern kam vom Ende des Korridors. Sie blickte in Richtung des Geräusches. Der Korridor lag verlassen vor ihr. Die Türen der umliegenden Kabinen waren geschlossen. Keine Menschenseele war zu sehen. Marys Beklemmung wuchs. Auf einmal kam ihr der Gang sehr eng vor, wie eine Falle. Sie war sicher, dass, wer auch immer hinter ihr hergeschlichen war, jetzt dort hinter der Biegung des Ganges an die Wand gepresst stand, wahrscheinlich den Atem anhielt, um sich nicht zu verraten, und auf jede Regung von ihr lauschte – so wie sie selbst auf jede Regung von ihm. Mary meinte, ihn beinahe spüren zu können, und ihre Intuition täuschte sie selten. Es behagte ihr ganz und gar nicht, hier mit ihrem Verfolger allein zu sein.
Sie würde laut um Hilfe rufen, sollte er ihr etwas antun wollen. Sicherlich war in einer der Kabinen jemand, der sie hören und ihr helfen würde. In jedem Fall war es Mary unerträglich, auch nur eine weitere Sekunde diese unheimliche Stille und dieses sich gegenseitige Belauern zu ertragen. Sie war ganz sicher niemand, der sich leicht Angst einjagen ließ. Aber die Nähe eines mutmaßlichen Mörders ließ auch sie nicht kalt, vor allem, weil sie genau jetzt an das bedrohliche Zusammentreffen mit einer dunklen Gestalt dachte, das sich während ihrer ersten Reise ereignet und sie beinahe das Leben gekostet hatte.
Mary nahm all ihren Mut zusammen und machte einen beherzten Schritt in Richtung ihres Verfolgers.
»Hey, Sie!« rief sie. »Hat Ihnen nie jemand beigebracht, dass es äußerst unanständig ist, einer Dame hinterherzuspionieren?«
Keine Reaktion.
»Kommen Sie heraus!« Mary sprach so laut sie konnte und bemühte sich, ihre Stimme möglichst ruhig klingen zu lassen, konnte aber das leichte Zittern darin nicht unterdrücken. Wieder keine Antwort.
Sie überlegte, ob sie Mersault beim Namen nennen sollte. Aber sie konnte sich ja nicht sicher sein, dass er es überhaupt war, der sie verfolgte. Der Korridor blieb still.
Ihr Verfolger zeigte sich nicht.
Mary verlor langsam aber sicher die Geduld. Außerdem hatte der Klang ihrer eigenen Stimme ihr Mut gemacht. Sie wollte ihren Verfolger – oder war es eine Frau? – zur Rede stellen. Entschlossen und mit schnellen Schritten ging sie den Korridor entlang, bog um die Ecke und sah – niemanden. War der Verfolger auf ihre Worte hin geflüchtet, zurück über den Gang? Oder hatte er sich in einer der Kabinen versteckt? Aber Mary hatte weder hastige Schritte noch das Öffnen und Schließen einer Tür gehört. Nur dieses kurze, leichte Rascheln. Mary blickte ungläubig den Korridor hinab, der verlassen vor ihr lag. Hatte sie das Rascheln tatsächlich gehört? Sie war sicher gewesen. Aber jetzt … War es möglich, dass ihre Fantasie, angeregt von den Aufregungen der Mordermittlung, ihr einen Streich gespielt und ihr den Verfolger bloß vorgegaukelt hatte? Auch wenn diese Möglichkeit ihr ganz und gar nicht gefiel – völlig ausschließen konnte Mary sie nicht. Sie ermahnte sich, nicht länger darüber nachzugrübeln, und schüttelte ihr Unbehagen ab, um wieder ruhig und klar denken zu können.
Es gelang ihr und sie wusste, was nun zu tun war. Mary holte ihr Handy hervor und schickte Sandra eine SMS, in der sie ihr mitteilte, dass nun eine gute Gelegenheit war, die Kabine der Botticelli ›in Ordnung zu bringen‹. Anschließend machte sie sich auf zu dem nächsten Ort, an dem sie hoffen durfte, die Botticelli persönlich anzutreffen.
Die Garderobe der Sängerin befand sich auf der anderen Seite des Schiffes. Mary verspürte wenig Lust, die langen Korridore im Innern der Queen Anne erneut zu durchqueren, möglicherweise wieder mit einem unerwünschten und unerkannten Begleiter, ob nun eingebildet oder nicht. Zum Glück gab es einen anderen Weg.