Kapitel 2
Wenn der Tiger dreimal schnurrt
Wayland
Mentale Notiz:
Vampire sind hässlich und mein Tiger kaputt.
S
ein Atem kam stoßweise, während Wayland durch das karge Umland von Chicago eilte. Wann hatte der Idiot, den er heimlich beschützen sollte, die Stadt verlassen? Und vor allem, wie konnte ihm das entgangen sein? Er arbeitete mittlerweile fast zehn Jahre für die MIA und Beschattungen zählten zu seinen mühelosen Jobs. In Wirklichkeit waren sie sogar weit unter Waylands Können. Nichtsdestotrotz hatte er es verkackt.
Wunderbar, einfach wunderbar!
Dafür würde er sich erneut eine Moralpredigt von seiner Mutter, der Direktorin der Magical Intelligence Agency, anhören dürfen. Während alle Mitarbeiter eine Heidenangst vor ihr hatten, fürchtete Wayland nicht ihren Zorn, sondern etwas Schlimmeres
–
die Enttäuschung in ihren Augen. Er stieß dröhnend Flüche in die warme Sommernacht. Darüber, dass er sein Zielobjekt verloren hatte, dass es so verdammt schwül war und, dass er überhaupt einen Anfängerjob erledigen musste. Ein tiefes, aber humorloses Lachen verließ seine Kehle bei dem Gedanken. Nach dieser Pleite würden ihm nur noch solche Jobs zugeteilt werden.
Mit geweiteten Nasenflügeln trat er nach einem Stock, nur dass dieser
eine Wurzel war. Sein Fuß blieb in ihr hängen, während sein Körper weiter eilte. Das Resultat: Eine schmerzhafte Landung. Gebremst durch seine Nase. Auf einem Stein.
»Verfluchte Scheiße!« Seine Stimme hallte durch die Nacht und er wischte sich das Blut aus dem Gesicht, nachdem er sich wieder aufgerichtet hatte. »Wenn ich den Idioten in die Finger bekomme. Wieso konnte er nicht in der Stadt bleiben?« Waylands Nasenflügel pulsierten und die Augen weiteten sich, um die Dunkelheit nach Bewegungen abzusuchen. Der eiserne Geschmack seines Blutes verteilte sich auf den Lippen, während Wayland ein Taschentuch in der Hosentasche suchte. Natürlich hatte er keines dabei.
»Scheiße, scheiße, scheiße!« Seine Gedanken tobten wild in alle Richtungen. Sich blutend außerhalb der Stadt aufzuhalten, war so ziemlich das Letzte, das irgendjemand in der neuen Weltordnung machen sollte. Gab es in den Großstädten den Pakt, der streng regulierte, was erlaubt und was eine Straftat war, so herrschte abseits der Städte das Gesetz des Stärkeren. Mord galt hier somit ebenso wenig als Straftat, wie jegliches andere abscheuliche Verhalten. Wie lange würde es dauern, bis ein ausgehungerter Vampir oder ein wahnsinniger Werwolf die Witterung von ihm aufnahm?
»Na, na, na, was flucht ein hübscher Jüngling wie du denn so?«, bekam Wayland seine Antwort in Form einer weiblichen Stimme. Bevor er sich herumdrehte, roch er schon den Vampirgestank.
»Vergiss es, ich bin eine Liga über dir, Hübsche«, presste er zwischen gebleckten Zähnen hervor und spie den Kosenamen voller Abscheu aus. Die Vampirin hob mit einem Lächeln eine Augenbraue, zog schnuppernd die Luft durch die Nase ein und fing an zu lachen.
»Habe ich den Witz verpasst?« Waylands Geduldsfaden drohte zu reißen. Er musste sein Zielobjekt finden und durfte sich nicht mit einer Streunerin herumschlagen.
»Ein Tiger.« Ihre Stimme klang kaum mehr als ein leises Summen. »Ein Ti-Ti-Ti-Tiger. Uuuh, aaah. Ein Ti-Ti-Ti-Tiger. Uuuaaahh«, stimmte sie ein verstörendes Lied an und schwang ihre Hüften zu einem Takt, der offenbar nur in ihrem ausgetrockneten Hirn zu erklingen schien. Keine Ahnung, ob die Verrückte sich für eine Karnevals-Tänzerin hielt, aber er hatte keine Zeit für diesen Mist.
Fantastisch. Nicht nur eine Streunerin, sondern auch noch eine völlig Durchgedrehte!
Zu allem Überfluss setzte sich ihr Kopf in Bewegung, um hin und her zu wiegen, als hätte sie eine verdammte Identitätskrise und glaubte, sie wäre eine Kobra
–
oder ein verrostetes Windspiel vom Sperrmüll, wenn man ihre abgewrackte Erscheinung bedachte.
»Hast du Nackenschmerzen oder versuchst du, mich zu hypnotisieren?« Wayland mustertet sie. Seine Gesichtszüge verhärteten sich.
»Nackenschmerzen?«, kreischte sie begeistert auf. »Er fragt, ob ich Nackenschmerzen habe!«
Ein schrilles Lachen folgte. Nachdem sie glucksend eine Pirouette gedreht hatte, fixierte sie Wayland erneut mit durchdringendem Blick.
»Willst du mich massieren, Hübscher?«
Wow! Die ist völlig ausgetrocknet. Ich hasse Vampire!
Zwar hatte er einige Geschichten über die Schattenwesen außerhalb der Städte gehört, und dass vor allem die Vampire dem Wahnsinn verfielen, sobald sie auf Blutentzug waren, aber bisher hatte er es nie zu Augen bekommen. Selbst er als Agent der MIA verließ lediglich im Notfall den Schutz der Metropolen.
»Schnauze!«, fauchte sie plötzlich. »Hör auf zu flirten, wir haben Hunger!«
Wayland starrte mit aufgerissenen Augen zu der Vampirin. Ihr fettiges schwarzes Haar hing ihr in dicken Strähnen in das blasse Gesicht. Die Stirn und Augenpartie hatten weiterhin das Aussehen ihrer menschlichen Form, während ihr Kiefer aus nichts weiter als Knochen und messerscharfen Zähnen zu bestehen schien. Letztere erinnerten an Nadeln, die aus ihrem verfaulten Maul ragten.
Die Illusion, äußerlich einen Menschen darzustellen, erforderte einen wohlgenährten Körper und der Irrsinn, der in Wellen aus ihren eingefallenen Augen strömte, zeigte deutlich, dass sie länger kein Blut bekommen hatte. Ihre menschliche Hülle ließ sich nicht mehr aufrecht erhalten.
»Ich überlasse dich mal deiner Diskussion und bin dann weg«, sagte Wayland und fragte sich zugleich, wieso er seine Klappe nicht halten und einfach gehen konnte.
Die Verrückte schnellte herum und ihre säuselnde Stimme flatterte wie ein Windhauch durch die Luft.
»Nein, du hast mir eine Massage versprochen.«
»Wir wollen ihn fressen!«, brüllte sie daraufhin mit veränderter Stimme.
»Benimm dich, er möchte mich massieren. Mich hat schon lange keiner mehr begehrt!«, klagte die säuselnde Stimme erneut.
»Wir begehren sein Blut!«
»Ich begehre seine Berührung!«
Verdammte Axt, die Alte ist ja völlig fertig!
»Wen nennst du alt?«, kreischte sie und blickte zu ihm.
»Wirklich jetzt? Du bist aus der Fournier-Blutlinie?« Das war natürlich dumm gelaufen. Die Fournier-Vampire konnten Gedanken hören, was ungeübte Vertreter ihres Clans, die es nicht schafften, die Stimmen
auszuschalten, selbst dann in den Wahnsinn trieb, wenn sie wohlgenährt waren. Kein Wunder, dass dieses Exemplar besonders verrückt war. Selbst ohne den, durch Hunger ausgelösten, Irrsinn stand der Fournier-Clan erschreckend weit rechts auf dem politischen Spektrum. Sie sahen sich als die Elite, schauten auf die restlichen Schattenwesen hinab, waren strengstens gegen Beziehungen außerhalb der eigenen Klassifizierung und behandelten Menschen überdurchschnittlich grausam.
»Ich bin meine eigene Herrin!« Ihre Stimme überschlug sich und offensichtlich hatte eine ihrer hungrigen Persönlichkeiten die Kontrolle übernommen. Aus ihrem Maul schlängelte sich die lange Zunge mit zwei Dornen an der Spitze, die zum Absaugen des Blutes gedacht waren, kampfbereit durch die Luft. Ein dunkler Schleier vernebelte ihre Augen. Die menschliche Haut an ihrer Stirn wich blanken Knochen und das Haar wehte im seichten Wind davon, als sich ihr Körper gänzlich zu ihrem vampirischen Aussehen verformte.
»Verdammt!«, entfuhr es Wayland und er schüttelte den Kopf. »Du bist ja echt unerwartet hässlich!«
Wieso um alles in der Welt musste dieser Tag so verlaufen? Es sollte eine simple Beschattung werden, dann hätte man ihn abgelöst und er hätte sich mit Lucy getroffen. Mit etwas Glück hätten sie ein wenig Spaß gehabt, bevor er es sich auf der Couch mit einer Serie gemütlich gemacht hätte. Aber nein, nun stand er einer völlig Wahnsinnigen gegenüber, die sogar er, nach allem, was er im Job gesehen hatte, erschreckend abstoßend fand. Seine Mutter würde ihm ein zweites Loch in den Hintern reißen, sobald er den Bericht einreichte. Fantastisch!
Fauchend stürmte das Biest auf ihn zu. Wäre er ein Mensch gewesen, hätte das seinen Tod bedeutet. Neben dem Gedankenhören, waren Fournier-Vampire ungewöhnlich schnell. Ihre blitzartigen Bewegungen erinnerten ihn jedes Mal an eine Dia-Show, in der ein Fournier in einem Bild zehn Meter entfernt stand und beim nächsten Klick schon die widerlichen Zähne im Hals des Opfers hatte. Wayland hatte es nur seinen Raubkatzen-Reflexen zu verdanken, dass er rechtzeitig zur Seite sprang und sie über dieselbe Wurzel stolperte wie er zuvor. Mit einem kehligen Lachen stellte er den Fuß auf ihren Rücken und drückte sie tiefer in den Dreck.
»Dumm gelaufen, was?«, fragte er mit einem spöttischen Schmunzeln auf den Lippen. Bevor er sich versah, flog er durch die Luft und landete schmerzhaft zehn Meter entfernt auf dem Boden.
Scheiße, das Biest ist sauer. Und stark.
In seinem Kopf hörte er Adalains Worte: »Deine Arroganz wird dich irgendwann in Schwierigkeiten bringen!« Damit hatte sie in diesem Augenblick vollkommen recht
–
nicht, dass er es ihr je erzählen würde.
Mit einem Knurren rappelte er sich auf, seinen Blick weiterhin auf die
Verrückte geheftet, die vor sich hin murmelte und erneut mit sich selbst stritt. Ohne weitere Zeit verstreichen zu lassen, atmete Wayland tief ein. Er beruhigte seinen Puls, nahm Kontakt zu seinem inneren Tier auf und erlaubte ihm, die Kontrolle zu übernehmen. Ein wütendes Brüllen hallte in seinen Ohren wider, als ihn der sibirische Tiger grüßte. Im Geiste legten sie ihre Köpfe aneinander und Wayland wappnete sich für den kommenden Schmerz.
Wie zehn scharfe Skalpelle schnitten die Klauen durch seine Haut und ein lauter Schrei entwich ihm. Der erste Knochen brach, dann ein weiterer, unmittelbar gefolgt von all den anderen Knochen. Der Schmerz war kaum zu ertragen. Muskeln dehnten sich, zogen sich zusammen, bildeten sich neu.
Wenige Sekunden später verließ ein markerschütterndes Brüllen sein mit scharfen Zähnen gespicktes Maul. Die Wandlung war abgeschlossen und sein Raubkatzen-Ich hatte die Kontrolle. Es fühlte sich jedes Mal an, als sei er mehr Zuschauer denn Akteur. Er war zwar weiterhin er selbst, aber in der Tigerform hatten die Instinkte des Raubtiers oft das Sagen und viel zu selten sein menschlicher Verstand. Und genau diese Instinkte verlangten nach Blut.
Im selben Moment, in dem die Wahnsinnige sich erneut auf ihn stürzte, drückte Wayland sich mit den Pfoten vom Boden ab. Die Vampirin und er prallten in der Luft gegeneinander. Er spürte die beiden Dornen ihrer Zunge an seinem Nacken und das Brennen des betäubenden Gifts verteilte sich rasend schnell um die Wunde. Ein Kreischen entfuhr ihrer Kehle. Hysterisch und von Sinnen. Völlig verrückt. Ihre Augen sprudelten über vor Gier, als die ersten Tropfen Blutes aus seinem Körper in ihre Zunge hinein gesogen wurden.
Sein Raubtier brüllte auf. Heiße Wut kochte durch seine Adern, benebelte die Sinne und er spürte das Verlangen, die Beute zu erlegen. Scharfe Krallen trafen auf ihre Zunge. Wie durch Butter durchfuhren sie das weiche Gewebe, bis eine Fontäne abgestandenen Blutes aus ihr hervorschoss. Er hatte sie in zwei geteilt. Der blutige Stummel in ihrem Maul zuckte wild, begleitetet von ihren schmerzerfüllten Schreien, während der andere Teil der Zunge weiterhin in seinem Nacken baumelte.
Er warf sich auf den Rücken, wälzte sich mehrfach umher, bis der leblose Teil der Zunge von ihm abfiel. Die Ohren eng an den Kopf gelegt, sprang er auf seine Pfoten und musterte die Vampirin aus zu Schlitzen verengten Augen. Ihre Schreie ebbten nicht ab und es legte sich Angst über ihre Gesichtszüge. Etwas, das Wayland oft gesehen hatte.
Der Moment, in dem seine Beute erkannte, dass sie eben genau das war: Seine Beute. Jener Augenblick, in dem aus dem gefährlichen Jäger das zum Tod verdammte Opfer wurde. Erst kam der Unglaube, dann das
Entsetzen und zu guter Letzt die Panik. In seltenen Fällen hatten sie genug Zeit, um ihr Leben zu winseln. Nicht jedoch die Verrückte.
Bevor sie etwas sagen konnte, drückte sich der mächtige Tiger vom Boden ab, landete brüllend auf der Wahnsinnigen und riss ihr die Kehle heraus. Weitere Bisse folgten. Prankenhiebe durchfuhren das faulige Fleisch, das zuvor ihren Hals gebildet hatte. Zerfetzte Hautreste, Sehnen und blutige Adern hingen klaffend unter ihrem Kopf. Mit einem markerschütternden Brüllen fuhren Waylands enorme Zähne in den Schädel der Vampirin und mit einem Ruck riss er diesen von ihrer Wirbelsäule.
Berauscht durch das Adrenalin, erfasste ihn der Drang, durch die karge Landschaft zu sprinten und den nächsten Vampir zu reißen. Das Raubtier schmachtete nach weiterer Beute. Der Jagdinstinkt in ihm war so verzehrend, dass Wayland beinahe den Auftrag vergaß. Mühevoll kämpften seine Gedanken gegen die animalischen Triebe an.
Normalerweise hätte er einen Partner gehabt, der ihn erdete und seiner menschlichen Seite half, die Kontrolle über den Körper nicht gänzlich zu verlieren. Nur hatte der Tiger bisher jeden Partner abgelehnt, der ihm von der Leitung der MIA vorgeschlagen wurde, seitdem seine alte Partnerin vor einem Jahr versetzt worden war. Auf diesen Prozess konnte Wayland leider keinen Einfluss nehmen. Das innere Tier suchte sich den Gefährten für den Job und nicht er.
Seine Gedanken fühlten sich an, als hätte er zu viel Alkohol getrunken. Der Tiger brüllte ihn an, wollte weiteres Blut. Waylands Sinne spielten verrückt. In Form der Raubkatze würde er sein Ziel schneller erreichen, aber die Gefahr, dass er die Kontrolle verlor, stieg mit jeder Minute, die er ohne Partner in der Wandlung verbrachte. Darüber hinaus würde er sich nach der Rückwandlung erst einmal einige Minuten ausruhen müssen, in denen er, ohne schützenden Partner, außerhalb der Stadt ein leichtes Opfer abgab.
Er setzte sich in Bewegung, bevor er länger darüber nachdenken konnte. Seine Pfoten flogen über das vertrocknete Gras, wirbelten Erde und Schutt auf. In dem Moment, als er die Witterung seines Ziels aufnahm, entfuhr ihm ein Brüllen. Er war nah. Deutlich näher, als er gedacht hatte. Wayland konnte ihn riechen. Ein markanter Duft, vertraut, fast wie ein Freund, der das Gemüt der Tigerhälfte seines Verstands beruhigte. Mehr noch. Wayland merkte, wie ein Schnurren die Kehle emporstieg.
Was zur Hölle? Ich schnurre nicht!
Abrupt blieb er stehen. Diese sanfte Seite des inneren Tigers hatte er bisher nur erlebt, als er mit seiner alten Partnerin unterwegs gewesen war und selbst da hatte er nicht geschnurrt.
Aus Erzählungen wusste er, dass dies bei Tigern der einzigen Person zuteilwurde, die er an sich binden würde. Wenn er ein Wörtchen
mitzureden hatte, würde er nie jemanden markieren und sich damit für immer an ihn binden.
Offensichtlich hatte der Kampf mit der Vampirin Spuren hinterlassen. Sobald er wieder in der Zentrale sein würde, benötigte er einen gründlichen Check. Natürlich würde er dabei verschweigen, dass er schnurrte. Die Worte seiner Schwestern klingelten ihm in den Ohren.
»Warte ab, bis dein Tiger seinen Seelengefährten findet, dann wirst du handzahm.« Kaum auszumalen, wie sie sich freuen würden, wenn er ihnen beichtete, dass er beim Geruch einer Zielperson schnurrte. Jeder, der schon einmal mit Hyänenwandlern zu tun gehabt hatte, wusste, wie anstrengend das Gelächter und Gegacker war. Bei dem Gedanken an die Familie, in die Wayland hinein adoptiert wurde, maunzte er dankbar.
Irie Bishop hatte ihn als verängstigtes Tigerbaby in der Tundra Russlands gefunden. Traumatisiert durch den Tod seiner Eltern hatte Wayland die ersten drei Jahre seines Lebens in Form des Tigers verbracht. Er hatte sich nicht ein einziges Mal in einen Menschen gewandelt, während alle anderen Wandler die Kinderjahre als Menschen erlebten und sich erst im Alter von fünf Jahren zu wandeln begannen. Dies hatte leider dazu geführt, dass sich Waylands Tigerseite ungewöhnlich stark von der menschlichen Seite abgespalten hatte. Aus diesem Grund fühlte er sich oft, als würden zwei Wesen in ihm leben.
Dennoch hatte sich alles zum Guten gewendet.
Neun Schwestern, eine Mutter und zwei seit Ewigkeiten verheiratete Omas, die der Inbegriff einer glücklichen Beziehung waren
–
was konnte man sich mehr wünschen? Höchstens, nicht der einzige Mann der Familie zu sein und dazu noch der jüngste.
Immer, wenn sich eine seiner Kolleginnen über überfürsorgliche ältere Brüder beschwerte, antwortete Wayland, dass sie einmal versuchen sollten, mit einem Dutzend wachsamer Hyänen im Nacken die Jungfräulichkeit zu verlieren. Darüber hinaus hatten seine beiden Omas ihn mit Dildos, Kondomen und Magazinen bewaffnet im Alter von 15 Jahren im Rahmen ihrer monatlichen Dildoverkaufsparties aufgeklärt
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jedenfalls nannten sie es so. Wayland hingegen fand es eher verstörend, aber die Geste als solche, schätzte er ungemein. Selbst wenn er darauf verzichten konnte, an diesen Parties teilzunehmen.
Wayland leckte sich über die Pfote, wischte ein wenig von dem Vampirblut, sowie den Gedärmen, aus dem Fell und sprintete die Graslandschaften Richtung Vorort entlang. Wenn er das Tempo drosselte, dann nur, um den Geruch der Zielperson erneut zu wittern und direkt wieder in einen Sprint zu verfallen. Das Gelände flog an ihm vorbei. Ein Wäldchen, ein verdreckter See und eine verlassene Tankstelle, an der zwei Vampire einen am eigenen Blut gurgelnden Menschen leersaugten,
verschwammen mit dem Grau der Nacht.
Während er weiterlief, durchfuhr ihn eine Welle des Mitleids für die panisch schreiende Frau, die unweigerlich von den Vampiren in den nächsten Minuten getötet werden würde. Jedenfalls, wenn sie das Glück hatte, nicht als Take-away-Snack am Leben gehalten zu werden. Aber so war nun einmal der Lauf der Dinge. Zum einen hätte die Gute im Schutze des Paktes der Stadt bleiben können und zum anderen waren Menschen in der Hierarchie der Evolution weit unten angesiedelt.
Im Gegensatz zu einigen Schattenwesen betrachtete Wayland sie nicht bloß als Zuchtvieh, dennoch kam er nicht umhin zu denken, dass sie endlich verstanden, wie sich die Tiere fühlten, die sie über Jahrhunderte hinweg schlecht behandelt hatten. Immerhin war eine Hälfte von ihm tierisch. Der Stellenwert eines Menschen, in den Augen der Schattenwesen, schwankte ungemein und hing davon ab, welcher Gruppierung der Betrachter angehörte. Setzte seine eigene Mutter sich beispielsweise für Gleichheit ein, so würde ein Fournier-Vampir einen Menschen niemals als gleichwertig akzeptieren. Gerade für Letztere und viele Hexen waren Menschen nur Haustiere, Nahrung und Arbeitskräfte. Diese unterschiedliche Einstellung zu den alten Herrschern der Welt, sorgte für einige politische Spannung innerhalb der Schattenwesen.
An der Rückseite eines Hügels tauchte ein altes Haus auf. Lediglich im Erdgeschoss flackerte das Licht hinter einem Fenster. Mit angelegten Ohren pirschte Wayland den Hügel hinauf. Knurrend ärgerte er sich über die Straßenlaterne, die genau dort angebracht war. Sie würde es ihm unmöglich machen, unerkannt zu bleiben, aber dennoch hatte er von hier den besten Überblick. Seine Nackenhaare stellten sich auf. Er nahm eine Veränderung im Geruch des jungen Mannes wahr. Etwas beunruhigte ihn. Nein, verängstigte ihn.
Waylands Blick eilte über das Haus. Völlig unscheinbar lag es im Dunkel der Nacht. Der Putz bröckelte, einige Fensterläden hingen windschief herab und dem Dach fehlten mehrere Ziegel. Der Garten war überwuchert mit Unkraut und morsche Holzmöbel standen auf der weiß gestrichenen Veranda. Es musste einst ein schönes Heim für eine Familie gewesen sein. Im Obergeschoss entdeckte er Grayson Huff, aber er und sein ungewöhnliches Haustier waren nicht allein. Bevor er die Chance bekam, zum Haus zu stürzen, überschlugen sich die Ereignisse.